BETTINA – HANDWERKERIN MIT FANTASIE
28 m2, Schiffscontainer
Natürlich wird es bei ihr wieder eine gerade Linie. Noch dazu eine ziemlich lange. Zwanzig kleine Vasen aus Bleikristall reiht Bettina hintereinander auf – von einem Tischende zum anderen. Jeden Morgen nach ihrem kurzen Spaziergang durch die benachbarte Wiese dekoriert sie diese kleine feste Ordnung aus Glas mit weißen Margariten, lila Wiesensalbei, pinken Pechnelken oder gelbem Labkraut. Still, entschieden und gekonnt. Um sie herum wachen bereits ihre Feriengäste aus aller Welt auf, gähnen, strecken sich. In Flip-Flops und Batik-T-Shirts werden sie sich bald das Terrain von Bettina erobern. Aber noch hat sie Ruhe bei ihrer morgendlichen Übung, ihrer Aufgabe, ein wenig Ordnung in eine chaotische Welt zu bringen. Und wenn es auch nur auf einem vier Meter langen Tisch ist.
Der große Holztisch steht unter freiem Himmel und ist das Herzstück ihrer so ganz eigenen Bettina-Welt. Eine verrückte, andere Welt – jenseits von Baugenehmigungen, Erschließungsplänen und Architektenentwürfen. In der Nähe eines oberbayerischen Dorfes hat sich die resolute 55-Jährige ihre Welt einfach selbst gebaut. So wie sie ihr gefällt. Mit eigenen Händen, ohne jegliche Hilfe. Selbst gemachte Haus- und Wohnideen auf 1500 Quadratmetern. Individuell, ausgefallen, verschroben – meist aus Weggeworfenem, Unnützem, Ungeliebtem angefertigt. Und jetzt hat sie auf dieser großen Spielwiese für ihre Fantasie zwei Bauwagen, einen Schiffscontainer, viele kleine Hütten und ihr neu gebautes Tiny House auf Rädern stehen. Sie vermietet die kleinen Häuser Jahr für Jahr in den Sommermonaten an ungefähr 600 junge Feriengäste aus aller Welt – ein Eldorado für Unangepasste, Abenteuerlustige und Andersdenkende. Fast täglich wechseln ihre Mitbewohner, denn länger als vier Tage darf kein Gast bleiben; das wird Bettina dann zu familiär, zu eng. Lieber umgibt sie sich ständig mit neuen Gesichtern, Sprachen, Charakteren. Andererseits müssen vielleicht gerade deshalb einige Dinge bei ihr jeden Tag nach dem gleichen Muster ablaufen.
»Im Leben braucht man gerade Linien«, sagt sie, während sie die Blumen für die Vasen mit einem scharfen Messer kürzt. »Ins Chaos musst du eine Linie reinbringen, damit du nicht das Gefühl hast, dass sich alles auflöst«, sinniert Bettina weiter und rückt die ersten gefüllten Vasen wie kleine Zinnsoldaten in ihre Marschordnung. Zwanzig kleine bunte Blumensträußchen in Reih und Glied. Ein sommerlich dekorierter Tisch, ein optischer Ruhepol inmitten ihrer sich stets wandelnden quirligen Welt.
Die gerade Linie hat Bettina immer wieder gerettet. Wie ein Seil, das man jemandem zuwirft, der verzweifelt am Abgrund hängt. Denn Bettinas Leben klingt wie eine Seemannsgeschichte: starke Stürme, Kollisionen, Auflaufen auf Grund – alles ist ihr im übertragenen Sinne widerfahren. Sie hat Abenteuerliches und Schreckliches mitgemacht – mehr, als viele Menschen ertragen könnten.
Auf den wenigen Kinderfotos sieht man Bettina als rotbäckiges, blondgelocktes kleines Mädchen im hellblauen Mäntelchen. Aufgewachsen ist sie in einem kleinen Dorf im Allgäu, eine typische Kindheit auf dem Land. Aber sie ist schwer überschattet: Der dominante Vater tyrannisiert alle in seiner Familie, die Mutter, die drei Kinder. Die Mutter, eine schmale Frau, darf nicht einmal alleine einkaufen gehen oder am Zaun mit der Nachbarin reden. Auswege, oder gar Flucht, gibt es damals nicht. Im Alter von 39 Jahren stirbt Bettinas Mutter an Krebs. Bettina sagt: »Sie ist zerbrochen an dieser Situation, aus der sie nicht rauskam.« Und mit dem chinesischen Sprichwort »Ein einfacher Zweig ist dem Vogel lieber als ein goldener Käfig« im Hinterkopf entschließt sich Bettina mit nur 15 Jahren, von zu Hause wegzulaufen. Ohne Geld, ohne Ausbildung. Es wird ein harter Überlebenskampf: Mit 15 darf sie nirgends offiziell arbeiten, aber sie braucht Geld. Ein junges hübsches Mädchen – völlig verloren und oft verzweifelt. Mit 17 wird das heimatlose Wesen schwanger, heiratet, wird Mutter. Aber alles geht schief: Die Ehe zerbricht, und ihr Sohn wächst vorwiegend bei dem älteren Vater auf. Eine Heimat kennt Bettina lange nicht mehr. Sie jobbt in der Gastronomie, macht eine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Steinig ist der Weg, oft weiß sie nicht, wovon sie ihre Miete zahlen soll.
Der Fixstern am Himmel – bei allem Übel – bleibt für sie ihre »Freiheit«. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Und sie definiert diese Freiheit für sich so: »Freiheit ist aus einer Situation rausgehen zu können, wenn sie für mich nicht mehr tragbar ist.« Das ist ihr kategorischer Imperativ, ihre Handlungsmaxime. Und auch wenn es viel Arbeit ist, ihre jungen Gäste zu beherbergen, Betten zu beziehen, viel Wäsche zu waschen, zu putzen, alles instand zu halten, so ist es für sie dennoch eine Form von Freiheit. Blumen gießen, Pferde füttern, die Außenküche sauber halten – Entspannung. Kochkurse und Handwerkerkurse für Frauen geben – ein Vergnügen.
Inmitten dieser lässig-lockeren Gäste, die ihre jugendliche Freiheit genießen, wohnt sie seit sieben Jahren in einem Schiffscontainer, den sie – auf der Suche nach einer neuen Heimat – online für einen Euro gekauft hat. Mit seinem flachen Dach ist ihr extravagantes Zuhause ein Meisterwerk der geraden Linien. Fenster und Türen hat die kräftige Bettina mit der Flex einfach aus dem Korpus rausgeschnitten – beherzt und entschlossen, wie es ihrem Wesen entspricht. Isoliert hat sie den Container mit Trockenbauwänden und Steinwolle, eine kleine Fotovoltaikanlage auf dem Dach versorgt sie mit kostenlosem Strom. Auf eine Toilette im Container musste sie wohl oder übel verzichten, aber nur wenige Meter entfernt von ihrem kleinen Häuschen steht eine Komposttoilette.
28 Quadratmeter Wohnfläche im Rechteck – das ist Bettinas Rückzugsort, wo sie sich mit ihren Lieblingssachen ein kleines individuelles Zuhause geschaffen hat. Alte lederne Reisekoffer, ein Vintage-Tisch, vier Stühle, ein alter Polstersessel, eine gusseiserne Badewanne und ihre selbst gemalten Bilder. Der Raum ist liebevoll dekoriert und wirkt voll, denn hier wohnt kein Minimalist, der möglichst wenig Dinge besitzen will.
In großen Häusern wohnen will Bettina nicht mehr. Ihr reicht es jetzt so. Bevor sie in den Schiffscontainer zog, hatte sie fünf Jahre lang einen riesigen Gutshof mit 600 Quadratmeter Wohnfläche gepachtet. Ein gigantischer Irrsinn. »So viel Platz braucht kein Mensch«, sagt sie, während sie barfuß am Laptop in ihrem »Wohnzimmer« sitzt. An einem rechteckigen alten Holztisch nimmt Bettina täglich ihre Online-Buchungen an, füttert ihre große Facebook-Gemeinde mit schönen romantischen Fotos aus ihrer Welt, und bei Regen und Schnee schreibt sie einfach an einem ihrer Romane weiter. Zu ihren Füßen liegt Jake, eine alte riesige schwarz-weiße Dogge, der Bettina hier ihr Gnadenbrot gewährt. Jake, der anhängliche sanfte Riesenhund, der nie von ihrer Seite weicht, hat es sogar geschafft, dass Bettina im letzten Winter in Deutschland geblieben ist. Sonst verbringt sie die Wintermonate nämlich regelmäßig in Melbourne, im warmen Australien. Aber Jake alleine lassen, das brachte sie nicht übers Herz. Ein Herz, das immer für Hilfsbedürftige schlägt, auch wenn die Hülle, die es umgibt, manchmal ziemlich rau wirkt.
»Wenn man jung ist, sammelt man erst mal Sachen, aber später werden sie zum Ballast«, behauptet Bettina, während sie – die Lesebrille hoch ins Haar geschoben – mit leuchtend blauen Augen ihr kleines Reich überblickt. Sie ist hier die Chefin, die Regentin; daran besteht nicht der geringste Zweifel. Und durch ihr großes Fenster behält sie das Geschehen auf dem Innenhof immer im Blick. Entgleiten, über den Kopf wachsen tut Bettina nichts mehr. »Wir haben zu viel Überfluss, zu viel Zeug«, sagt sie empört. Und als ob es ein persönlicher Affront wäre: »Das muss man dann alles behalten, pflegen, darauf aufpassen. Das brauch ich nicht mehr!« Entschlossen klappt sie ihren Laptop zu.
Lange hält es Bettina sowieso nicht in geschlossenen Räumen aus. Vielleicht reicht ihr deshalb so ein kleines Häuschen. Die meiste Zeit verbringt sie draußen, unterwegs. Meist mit ihrem Fotoapparat – schöne Momente, stimmungsvolle Bilder sammeln. Echte Werte, die keinen Stellplatz brauchen und auch nicht abgestaubt werden müssen. Wie ein Pilzsucher seine besten Sammelplätze kennt, so hat auch sie ihre eigene Landkarte der schönsten Ausblicke gespeichert. Unterwegs ist sie immer alleine, was sonst. Da redet keiner mit ihr oder will was von ihr. »Draußen macht glücklich«, so ist das Credo der braun gebrannten Bettina. »Räume sind immer abgeschlossen, abgesperrt – aber Sonne, Luft, das Wetter – ist Freiheit!«
Aber diese Freiheit hat natürlich auch ihre Grenzen, zum Beispiel wenn es in Strömen regnet. Dann zieht Bettina sich gern in ihre »Frauenwerkstatt« – wie sie es nennt – zurück. Eine Werkstatt voller Bohr- und Fräsmaschinen, Kettensägen und Akkuschrauber, aber das Fenster schön dekoriert mit einem weißen Gardinchen. Mittendrin steht Bettina in einem karierten Arbeitshemd, die Ärmel hochgekrempelt. Jetzt geht es los. Sie greift in die Kisten, zieht alte Holzreste heraus. Dann am Fensterbrett weiße Glaskugeln, die niemand mehr braucht. Ihre Schätze vom Wertstoffhof, aus Haushaltsauflösungen oder Geschenke von Freunden. Bettina wird still, sie bohrt, sie feilt. Hunderte von Stunden hat sie hier schon verbracht. Immer alleine. Manchmal...