1 Gerontologische Grundlagen
1.1 Einführung
Alter, Altern und alte Menschen werden zunehmend als zentrales Thema der Weltbevölkerung begriff en. So hat Kofi Annan, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, die demographischen Veränderungen bereits 1999 als stille Revolution bezeichnet. Die weltumspannende Gemeinsamkeit liegt darin, dass der Anstieg der Lebenserwartung ein nahezu universales Phänomen ist. Eine Ausnahme bilden manche schwarzafrikanische Länder, in denen die mittlere Generation weitgehend an AIDS verstorben ist.
Für die Bundesrepublik lag die durchschnittliche Lebenserwartung neugeborener Mädchen im Jahr 2007 bei 82,3 Jahren, die von Jungen bei 76,9 Jahren (Statistisches Bundesamt, 2008). Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts von unter 7 % auf heute (2009) etwa 16 % gestiegen. Die Politik sieht sich demzufolge großen Herausforderungen gegenüber, denn die demographischen Veränderungen werden weitreichende Konsequenzen für den Generationenvertrag, das Renten-, Gesundheits- und Pflegesystem sowie für den Arbeitsmarkt haben.
Der Begriff Alter bezieht sich zum einen auf das chronologische Alter, also die Zeit zwischen der Geburt und dem aktuellen Datum. Zum anderen handelt es sich um eine wichtige soziale Kategorie wie z. B. Geschlecht oder Hautfarbe. Die gesellschaftliche Relevanz sozialer Kategorien lässt sich u. a. daran ablesen, dass sich der Gesetzgeber veranlasst sah, 2006 ein allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (umgangssprachlich Antidiskriminierungsgesetz) zu verabschieden, welches Benachteiligungen z. B. aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Religion, der sexuellen Identität oder der Rasse verhindern soll. Der Begriff Altern zielt darauf ab, den Prozess des Altwerdens zu fokussieren. Alternsprozesse begleiten uns ein ganzes Leben, überspitzt formuliert beginnt das Altern bereits ab der Geburt. In der Gerontologie wird zwischen dem normalen, dem pathologischen und dem positiven Altern unterschieden. Das normale Altern orientiert sich an statistisch durchschnittlichen Alternsverläufen. Es wird häufig als das Altern ohne chronische Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz oder Diabetes definiert, um den reinen Alternsprozess von Krankheitsprozessen abzugrenzen. Das pathologische Altern ist demzufolge der Alternsprozess mit entsprechenden chronischen Erkrankungen. Positives Altern bezeichnet ein relativ hohes Maß an objektiver Gesundheit verbunden mit subjektivem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. Die subjektive Komponente ist hierbei entscheidend.
Die Forschungsergebnisse der Gerontologie belegen diese differenzielle Sicht der Alternsprozesse. Eine ressourcenorientierte Sichtweise des Alterns untersucht dabei die Wechselwirkung zwischen den Ressourcen einer Person, ihren individuellen Zielsetzungen, den von ihr eingesetzten Prozessen zur Zielerreichung und den Kontextbedingungen (Martin & Kliegel, 2008).
1.2 Das dritte und vierte Alter sowie die Hochaltrigkeit
In einer Systematik für den gesamten menschlichen Entwicklungsprozess hat der einflussreiche deutsche Psychologe Paul B. Baltes versucht, das Alter als Interaktion von menschlicher Entwicklung (Humanontogenese) und biologischer Evolution zu verstehen. Baltes’ Überlegungen basieren auf der Annahme, dass die menschliche Entwicklung unvollständig ist. Diese Unvollständigkeit wird für die biologische und kulturelle Koevolution hauptsächlich durch zwei Argumente belegt: Zum einen ist die biologische und kulturelle Koevolution nicht beendet, sondern es handelt sich hierbei um einen fortlaufenden Prozess. Zum zweiten ist die biologische und kulturelle Entwicklung für das mittlere und hohe Erwachsenenalter wenig fortgeschritten, da das Alter als allgemeines Phänomen historisch jung ist. Weiterentwicklungen sind also in beiden Bereichen möglich. Die Dynamik zwischen kultureller und biologischer Entwicklung wird durch drei Prinzipien erklärt, die während der Ontogenese interagieren: evolutionäre Selektion, Bedarf an kulturellen Leistungen und Effizienz kultureller Leistungen (P. Baltes, 1997; P. Baltes & Smith, 1999).
Die evolutionären Selektionsvorteile nehmen mit zunehmendem Alter ab. Die wichtigste Funktion biologischer Selektion liegt in der Sicherstellung der Reproduktionsfähigkeit. Da die Reproduktion eine Aufgabe des jüngeren Erwachsenenalters ist und bis vor kurzem nur wenige Menschen alt wurden, liegt die Vermutung nahe, dass das Genom älterer Menschen heutzutage schädigende und dysfunktionale Gene enthält. In der Folge kommt es zu Störungen, da die biologisch determinierten Ressourcen abnehmen. Ein Beispiel für die Schwächung der Selektion mit zunehmendem Alter ist die Alzheimer’sche Erkrankung, die sehr stark alterskorreliert ist.
Die kulturelle Bedürftigkeit nimmt mit dem Alter zu. Zur Kultur gehören psychologische, soziale, materielle (ökologische und technologische) und symbolische (wissensbasierte) Ressourcen, die die Menschheit entwickelt und über Generationen weitergegeben hat. Aufgrund biologisch bedingter Abbauprozesse werden kulturbasierte Kompensationen (materielle, soziale, ökonomische, psychologische) mit zunehmendem Alter wichtiger.
Die Effizienz kultureller Leistungen nimmt mit zunehmendem Alter ab. Bereits ab dem mittleren Erwachsenenalter nimmt die Effektivität psychologischer, sozialer oder materieller Ressourcen ab, so dass insbesondere im hohen Alter kulturelle Hilfsmittel nur begrenzt wirksam sind.
Aus diesen drei interagierenden Prinzipien der Ontogenese ergibt sich die Konsequenz, dass Alter und Altern nicht gleichbedeutend mit Abbau und Verlust sind. Dies wäre nur dann zutreffend, wenn ausschließlich biologische Faktoren den Altersprozess bestimmten. Zudem lässt sich zeigen, dass die Weiterentwicklung kultureller Leistungen biologische Abbauprozesse alter Menschen bereits nachhaltig beeinflusst haben.
P. Baltes leitet aus den drei Prinzipien eine Einteilung des Alters in zwei Gruppen ab. Im dritten Alter (65 bis 80 Jahre) sind in der Regel genügend kulturelle Ressourcen vorhanden, um die auftretenden biologischen Abbauprozesse auszugleichen und ein gelingendes Altern zu ermöglichen. Im vierten Alter der über 80-Jährigen zeigt sich die nachlassende kulturelle Wirksamkeit von Kompensationsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Zunahme von physischen und psychischen Verlusten.
Aufgrund der ungebrochenen Zunahme der Lebenserwartung allgemein und der Lebenserwartung alter Menschen, die sehr alt werden, werden seit kurzem die über 100-Jährigen als eigenständige Gruppe der Hochaltrigen definiert. Bei genauerer Betrachtung dieser Unterscheidungen ins dritte und vierte Alter sowie die Hochaltrigkeit wird deutlich, dass alte Menschen zwangsläufig sehr verschieden sind: Wir sprechen über eine Lebensspanne von 40, gar 50 Jahren (die bisher älteste Frau der Welt, die Französin Jeanne Calment, wurde nachweislich 122 Jahre alt).
1.3 Die Psychologie der Lebensspanne
Ein einflussreicher theoretischer Ansatz der Entwicklungspsychologie sieht ihren Gegenstandsbereich in der Entwicklung von der Geburt bis zum Tode. Diese Lebensspannenpsychologie (»life-span-development psychology«) ist nicht nur in Deutschland mit den Namen Paul. B. und Margret M. Baltes sowie Hans Thomae und Ursula Lehr verbunden (Martin & Kliegel, 2008; Wahl & Heyl, 2004).
Grundlage der Lebensspannenpsychologie ist die Auffassung, dass Entwicklung nicht nur eine biologisch determinierte Entfaltung von genetischen Anlagen, sondern ein lebenslanger Prozess mit Gewinnen und Verlusten ist. P. Baltes (1990) entwickelte sieben Leitsätze, die das Konzept der Lebensspannenpsychologie näher erläutern.
1. Altern als biographischer Prozess. Alternsprozesse sind unlösbar mit der biographischen Entwicklung verbunden. Dieser Zusammenhang lässt sich in nahezu allen Lebensbereichen nachweisen. So ist die Art der Auseinandersetzung alter Menschen mit Belastungen und Einschränkungen von bisherigen Erfahrungen und im Laufe der Biographie erworbenen Wahrnehmungs- und Auseinandersetzungsformen geprägt. Ungelöste Konflikte früherer Entwicklungsabschnitte können die Auseinandersetzung mit den spezifischen Entwicklungsaufgaben des späten Erwachsenenalters, z. B. die Akzeptanz des nunmehr unveränderbaren Lebens und der eigenen Endlichkeit, zusätzlich erschweren. Lebenslang gepflegte Interessen und Lebensstile finden in der Regel im Alter ihre Fortsetzung, obwohl starke Veränderungen der Lebenssituation auch Veränderungen im Lebensstil bewirken können (Heuft, Kruse & Radebold, 2006). Kognitive Leistungen im Alter sind nicht nur vom kognitiven Ausgangsniveau eines Menschen beeinflusst, sondern auch von der kontinuierlichen Nutzung kognitiver Kapazitäten (Schaie, 1996). Lebenslang eingesetzte soziale Techniken und Kompetenzen beeinflussen die Fähigkeit, im Alter Freundschaften zu pflegen und neue Kontakte aufzunehmen. Schließlich hat der gesundheitliche Lebensstil im Lauf des Lebens (Nikotin/Alkoholkonsum, Übergewicht) Einfluss auf die Entwicklung von Erkrankungen wie beispielsweise Arteriosklerose.
2. Plastizität im Alter. Ein zentraler Begriff ist die Plastizität, also intraindividuelle Veränderbarkeit in verschiedenen Lebensbereichen im Alter (P. Baltes, 1990). Vor allem im Bereich kognitiver Fähigkeiten konnte in einer Reihe von Trainingsstudien zu Gedächtnisleistungen nachgewiesen werden, dass sich Leistungen auch noch im hohen Alter erheblich steigern lassen (M. Baltes & Sowarka, 1995; Kliegl, Smith & P. Baltes, 1989). Das Wiedererlernen von selbstständigen Eigenpflegetätigkeiten bei institutionalisierten alten Menschen...