2 Selbstwahrnehmung
2.1 Weisheit
Der Reisende ins Innere findet alles,
was er sucht, in sich selbst.
Das ist die höchste Form des Reisens.
Laotse
2.2 Grundsätzliches zur Selbstwahrnehmung
In diesem Kapitel geht es in erster Linie darum, wie wir uns selbst wahrnehmen und weniger um das, was über unsere Sinne aus der Umwelt auf uns einströmt, wohl wissend, dass Reize, die von außen kommen, das eigene Körperempfinden, das eigene Denken und Fühlen beeinflussen.
Der Begriff der Selbstwahrnehmung wird im Folgenden im Hinblick auf das eigene Denken und Fühlen verwendet, während Selbstempfinden sich auf die Körperwahrnehmung bezieht. Beides können wir erreichen beziehungsweise verbessern durch konzentrierte Achtsamkeit auf uns selbst.
Stellen Sie sich vor, Sie würden sich selbst nicht wahrnehmen, zum Beispiel zwar sehen, wie Ihre Hände sich bewegen, aber sie nicht spüren! Das würde das Leben sehr kompliziert machen! In den allermeisten Fällen ist es so selbstverständlich, dass wir uns selbst wahrnehmen, dass wir uns gar keine Gedanken darüber machen. Die Eigenwahrnehmung hilft uns jedoch nicht nur, uns bei unseren täglichen Verrichtungen zu spüren, sondern sie dient auch der Einschätzung der eigenen körperlichen, emotionalen und geistigen Befindlichkeit.
Selbstwahrnehmung lässt sich also unterteilen in die Wahrnehmung der eigenen Körperempfindungen, der eigenen Gefühle und der eigenen Gedanken. Die differenzierte Wahrnehmung dieser drei Ebenen ist für die Lebensqualität und das Wohlbefinden eine entscheidende Grundlage, wie wir im Folgenden sehen werden.
2.2.1 Körperempfindungen
Signale, die unser Körper aussendet, nehmen wir meist dann bewusst wahr, wenn sie unangenehm sind, zum Beispiel wenn es sich um Schmerzen handelt. Die wenigsten werden regelmäßig denken: „Wunderbar, schon wieder keine Schmerzen!“ Ganz anders ist es natürlich, wenn jemand über längere Zeit von Schmerzen geplagt wurde, dann bemerkt dieser Mensch sehr wohl, dass die Schmerzen weg sind – ein neues Wohlgefühl.
Generell kann man sagen, dass wir vor allem außergewöhnliche Körperempfindungen bewusst registrieren. Allerdings ist dieses Empfinden von Mensch zu Mensch sehr verschieden. So kann jemand den kleinsten Körperreiz als Schmerz wahrnehmen, während ein anderer auch bei starken Reizen unempfindlich ist; beide Extreme können problematisch sein – Ersterer bewertet seine Empfindungen vielleicht über, und der Zweite misst ihnen unter Umständen zu wenig Bedeutung bei. Die Ursachen dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen können sowohl im neurobiologischen als auch psychischen oder kognitiven Bereich liegen.
Es gibt viele Körperempfindungen, auf die wir ganz automatisch und unmittelbar reagieren. Zum Beispiel wissen Sie, wann Sie Hunger haben, ohne dass Sie zuerst bewusst wahrnehmen müssen, dass sich da ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend regt, und dann überlegen müssen, was das wohl bedeuten könnte. Zudem haben wir ständig Körpersensationen, die wir kaum bewusst wahrnehmen.
Achten Sie doch einmal darauf, wie Sie Ihren Körper empfinden, während Sie dies lesen. Vielleicht stellen Sie fest, dass Ihre Bauchgegend zusammengedrückt ist oder dass Ihre Füße kalt sind. Eine mögliche Folge dieser Bewusstmachung könnte sein, dass Sie sich nun aufrechter hinsetzen oder ein Paar warme Socken anziehen. Oft lassen sich in dem, was wir nicht wahrnehmen, wertvolle Informationen über unseren Körper und überhaupt über uns selbst entdecken.
Die Sensibilisierung der eigenen Körperwahrnehmung ist die Grundlage für eine effektive Körperarbeit, denn nur wer sich selbst differenziert wahrnimmt, kann auch gezielt etwas verändern! Oder wie es Moshé Feldenkrais ausdrückte: „Nur wenn ich weiß, was ich tu, kann ich tun, was ich will!“
2.2.2 Gefühle
Die Wahrnehmung der eigenen Gefühle ist erfahrungsgemäß der schwierigste Teil der drei Ebenen der Selbstwahrnehmung. Laut Transaktionsanalyse gehören zu den Grundgefühlen – wie sie dort genannt werden – Trauer, Wut, Angst und Freude. Es gibt natürlich zahllose Gefühlsschattierungen: Enttäuschung ist eine Form von Trauer, Ärger ist eine spezielle Art der Wut, Unsicherheit hat mit Angst zu tun oder Zufriedenheit mit Freude; mehr zum Thema Gefühle im Kapitel ▶ „Ausdruck“. Bei der Wahrnehmung von Gefühlen geht es nicht darum, ein Gefühl kundzutun, sondern es überhaupt erst einmal zu bemerken.
Eine Schwierigkeit beim Spüren von Gefühlen liegt darin, dass diese oft mit Gedanken und Sachverhalten vermischt werden. Zum Beispiel wenn jemand sagt beziehungsweise denkt: „Ich habe das Gefühl, meine Frau betrügt mich.“ Was die Person dabei ausdrückt, ist nicht das, was sie fühlt – auch wenn sie das Wort „Gefühl“ benutzt –, sondern sie schildert, was sie denkt oder vermutet. Würde sie wirklich ihr Gefühl benennen, dann hieße die Aussage eventuell: „Ich habe Angst verlassen zu werden, denn ich vermute, dass meine Frau …“. Oder auch: „Ich befürchte, meine Frau …“. Furcht ist eine Form von Angst.
Gefühle sagen nichts oder nur begrenzt etwas über einen Sachverhalt aus; stattdessen lassen sie Rückschlüsse auf die eigene emotionale Befindlichkeit zu. Das Gefühlte, also in diesem Fall die Angst, ist für diese Person real, egal ob die Frau ihn wirklich betrügt oder nicht.
Es ist elementar, die eigenen Gefühle zu bemerken und ernst zu nehmen. Nur wenn man seine Angst überhaupt bemerkt, kann man das damit zusammenhängende Bedürfnis erkennen – zum Beispiel den Wunsch nach Klarheit oder Sicherheit. Die eigenen Gefühle existieren nur in uns selbst, deshalb sind sie auch nur in uns selbst zu finden. Manchmal braucht es etwas Übung, Gefühle klar zu identifizieren, aber es ist hoch spannend und hilfreich für die Selbsterkenntnis!
2.2.3 Gedanken
Machen Sie sich doch einmal bewusst, was Sie jetzt gerade denken! Vielleicht reflektieren Sie das gerade Gelesene oder Sie denken darüber nach, was Sie gerade denken. Wir denken ununterbrochen, Gedanken kommen und gehen. Manchmal fixieren wir unsere Gedanken auf ein bestimmtes Thema; dann wieder richten sie sich auf das aktuelle Tun. So geht es nahezu allen Menschen, und es macht keinen Sinn, daran etwas ändern zu wollen. Zu beobachten, wie oder was man denkt, kann dann von Nutzen sein, wenn es darum geht, die persönliche Verfassung wahrzunehmen oder um sich darüber klar zu werden, ob und welchen Einfluss das eigene Denken auf ein bestimmtes Thema hat.
Nehmen wir an, jemand ist davon überzeugt, dass Entscheidungen schnell getroffen werden müssen, und bringt sich damit immer wieder in Not. In diesem Fall kann es sinnvoll sein, während des Entscheidungsdrucks einen kurzen Stopp einzulegen, „nur“ um sich bewusst zu werden, welche Gedankengänge man in dieser Situation hat. Vielleicht steckt die Idee dahinter: „Ich muss schnell entscheiden, sonst gelte ich als unfähig!“ Wie beim Fühlen geht es bei der Fähigkeit, das eigene Denken wahrzunehmen, vorerst nur um das bewusste Feststellen des eigenen Gedankenganges, ohne schon eine Veränderung herbeiführen zu wollen. Oft löst dieses bewusste Wahrnehmen eine Folgereaktion aus. Das kann eine Frage an sich selbst sein wie: „Wer sagt, dass das so ist?“ Oder: „Ist das wirklich meine Meinung?“ Oft entschärft schon allein dieses Hinterfragen die Lage.
Die drei Ebenen – die Körperempfindung, das Fühlen und das Denken – beeinflussen sich gegenseitig, das kann bisweilen ein Chaos erzeugen. Um Klarheit zu schaffen, ist es gut zu lernen, die drei Ebenen voneinander zu unterscheiden.
Theorie-Input
Das Idealziel der Transaktionsanalyse ist, Autonomie zu erlangen. Vereinfacht lässt sich Autonomie bezeichnen als Befreiung von anerzogenen Fühl-, Denk-, Handlungs- und Verhaltensmustern, welche den Menschen in seiner persönlichen Entfaltung hindern. Auf keinen Fall ist damit egoistisches Verhalten gemeint, sondern eine Selbstbestimmung, die soziales Bewusstsein mit einschließt. Autonomie ist auch nicht etwas, das man eines Tages einfach erreicht hat, sondern ein stetiger Prozess. Manchmal ist man sehr nahe am Ideal und dann wieder weiter weg.
Um Autonomie zu erlangen, sind drei Fähigkeiten von Bedeutung, nämlich Bewusstheit, Spontaneität (im Sinne eines Handelns aus eigenem freiem Antrieb) und Intimität (im Sinne einer Fähigkeit, Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken zu können).
Bei der Selbstwahrnehmung geht es um die elementarste dieser drei Fähigkeiten, nämlich um Bewusstheit – vorwiegend um die Bewusstheit für das eigene Fühlen, Denken und Körperempfinden. Bewusstheit im Sinne der Transaktionsanalyse schließt auch die äußeren Geschehnisse mit ein und wird von Ian Stewart und Vann Joines wie folgt beschrieben: „Unter wacher Bewusstheit verstehen wir die Fähigkeit, Dinge als reine Sinneseindrücke zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken und zu riechen, so wie das ein Neugeborenes tut.“ Sie fügen hinzu: „Er [derjenige, der die Fähigkeit erreicht hat] ist im Kontakt sowohl mit seinen eigenen Körperempfindungen wie auch mit äußeren Reizen.“ Es geht also darum zu lernen, die inneren Geschehnisse und die...