Wissenschaftstheoretische Grundlagen
Manfred Grohnfeldt
Einleitung
Wissenschaftstheorie ist eine Teildisziplin der Philosophie. Dementsprechend weit zurück lassen sich auch aktuelle Diskussionen in ihren Anfängen und Grundlagen zurückverfolgen, wobei ein wissenschaftstheoretischer Diskurs im engeren Sinne als Metatheorie vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts geführt wird. Übergreifend geht es dabei um Methoden, Ziele und Kernfragen zur Erkenntnisgewinnung.
Die damit verbundenen Gedankengänge sind außerordentlich vielfältig und kontrovers. Dabei erfolgt eine unterschiedliche Bezugnahme auf bestimmte Paradigmen, d. h. grundlegende Vorstellungen der Welt und ihres Funktionszusammenhangs. Im Folgenden soll ein Ausschnitt aus den damit verbundenen Gedankengängen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Sprachheilpädagogik, akademische Sprachtherapie und Logopädie thematisiert werden. Dazu erfolgt ein
• Abriss zu unterschiedlichen Richtungen in der Philosophie ( Kap. 1),
• eine Diskussion zur Bedeutung von Menschenbildern ( Kap. 2) sowie
• eine Analyse zum unterschiedlichen Selbstverständnis der Fachdisziplinen des Sprachheilwesens in Deutschland ( Kap. 3).
Übergreifend werden Grundlagen und Querverbindungen zu den nachfolgenden Artikeln, insbesondere zur Forschungsmethodologie (Stadie) sowie zur Qualitätssicherung (Beushausen, Kohler, Hartmann) aufgezeigt. Die übrigen Kapitel sind indirekt davon betroffen.
1 Grundlegende Richtungen
Mit Fragen der Philosophie und wissenschaftstheoretischen Verortung im weiteren Sinne beschäftigt sich der Mensch spätestens seit der Antike und damit seit über 2500 Jahren. Dabei ist eine Vielzahl an Richtungen zu konstatieren, wobei man zusätzlich bedenken muss, dass viele der historischen Denker gar nicht überliefert oder ihre Werke verlorengegangen sind – man denke an den legendären Brand und die Zerstörung der berühmten Bibliothek in Alexandria zur Zeit des Altertums. Einige Fragen durchziehen die Jahrhunderte, wobei in der Sprache der jeweiligen Epoche neue Antworten gefunden werden, die sich jedoch in ihrem Wesen ähneln.
Im Folgenden wird eine Auswahl an philosophischen Grundrichtungen im Hinblick auf fundamentale Sichtweisen vorgenommen, die sich im historischen Verlauf als bedeutsam erwiesen haben. Sollten Filme dazu verfügbar sein, so sind die Angaben dazu in Klammern hinzugefügt.
1.1 Antike
Innerhalb der umfangreichen griechischen Philosophie soll hier auf unterschiedliche Aussagen zum Verhältnis von Teil und Ganzem eingegangen werden. Nach Ansicht der Atomisten, zu denen vor allem Demokrit (ca. 460–370 v. Chr.) gehörte,1 besteht der Kosmos aus unteilbaren Atomen, die sich zudem in ständiger Bewegung befinden. Diese Theorie ist erstaunlich modern und wird auch heute vertreten (z. B. beim Gesetz von der Erhaltung der Energie). Gegen diese Vorstellung wendete sich u. a. Aristoteles (384–322 v. Chr.). Er gilt – neben Sokrates (470–399 v. Chr.) und Platon (427–347 v. Chr.) – als einer der bedeutendsten Philosophen der Antike und wurde durch seine Lehren zur Logik, nikomachischen Ethik, Metaphysik und wissenschaftlichen Methodik bekannt.2 An dieser Stelle soll er durch den ihm zugesprochenen Ausspruch »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« genannt werden, der in der Ganzheits- und Gestaltpsychologie des 19. Jahrhunderts aufgenommen und weitergeführt wurde.
Es ist zu fragen, inwieweit derartige Gedankengänge für das heutige Verständnis der Welt bedeutsam sind. Dabei zeigt sich, dass damit existenzielle Fragestellungen des menschlichen Seins angesprochen sind, die sich einerseits auf eine immer dezidiertere Analyse von Einzelteilen und andererseits auf das Erkennen sinnhafter Zusammenhänge von Strukturen und eines komplexen Ganzen richten. Es kommt darauf an, was man wissen möchte.
1.2 Renaissance und Aufklärung
Nachdem im Mittelalter schwerpunktmäßig Fragen des Glaubens aus theologischer Sicht reflektiert wurden, erfolgte im Zeitalter der Renaissance eine Rückbesinnung auf die Antike. Zunehmend gewannen Fragen des Empirismus an Bedeutung, indem wissenschaftliches Denken als logisches, aus der Erkenntnis gewonnenes Denken und im Experiment überprüfbares Wissen verstanden wurde. Vertreter dieser Richtung mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung waren u. a. Francis Bacon (1561–1626; »Wissen ist Macht«)3, René Descartes (1596–1650; »Cogito, ergo sum« – »Ich denke, also bin ich«)4 als Vertreter des Rationalismus, John Locke (1632–1704; »tabula rasa« – Der Geist ist ein unbeschriebenes Blatt«)5 und David Hume (1711–1776)6 als Vertreter eines erfahrungswissenschaftlichen Ansatzes.
Von den Philosophen des 18. Jahrhunderts soll hier vor allem auf Immanuel Kant (1724–1804; Kategorischer Imperativ: »Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne«)7 mit seinem entscheidenden Einfluss auf das Verständnis von Ethik verwiesen werden.
Es versteht sich, dass die genannten Philosophen und Richtungen eine Auswahl darstellen. Der Einfluss des Empirismus und Rationalismus auf das heutige Verständnis von Forschung und Wissenschaft ist aber unmittelbar einsichtig, ebenso wie die Notwendigkeit von Ethik in der Forschung erkannt wird und durch Ethik-Kommissionen eingehalten werden soll (Grohnfeldt et al. 2016).
1.3 19. und 20. Jahrhundert
In den letzten 200 Jahren gab es eine Vielzahl an bedeutenden Philosophen, die sich verschiedenartigen Richtungen wie dem Idealismus, Materialismus, Existentialismus und der Postmoderne zuordnen lassen. Auf die dabei vertretenden Meinungen kann und soll hier nicht eingegangen werden. Im Hinblick auf das unterschiedliche Wissenschaftsverständnis der Berufsgruppen des Sprachheilwesens in Deutschland im Wandel der Zeit ( Kap. 2) erfolgt hier eine Nennung der Hermeneutik sowie des Positivismus und Kritischen Rationalismus.
Die Hermeneutik als Lehre vom Verstehen beschäftigt sich mit der Auslegung und Deutung von Schriften. Wesentliche Vertreter waren z. B. Wilhelm Diltey (1833–1911)8 und Hans-Georg Gadamer (1900–2002).9 Der Einfluss auf die Sozialwissenschaften und die Pädagogik in ihrer Phase bis ca. 1970 (Brezinka 1971) ist erheblich.
Der Positivismus lässt sich letztlich bis zu Auguste Comte (1798–1857)10 zurückverfolgen. Die wesentliche Grundannahme besteht darin, dass wissenschaftliches Forschen durch die Aufstellung von Hypothesen erfolgt, die im Hinblick auf eine Verifikation zu überprüfen sind. Die meisten Forschungsarbeiten heute basieren auf diesem Grundverständnis wissenschaftlichen Arbeitens. Davon setzt sich die Richtung des Kritischen Rationalismus mit ihrem bedeutenden Vertreter Karl Popper (1902–1994)11 ab, bei der betont wird, dass eine Verifikation im Sinne eines endgültigen Beweises letztlich unmöglich ist. Stattdessen wird auf das Prinzip der Falsifikation verwiesen, d. h. den Nachweis durch Widerlegung in Form eines Gegenbelegs (Bsp.: Die Vermutung »Alle Schwäne sind weiß« wird durch die Existenz eines schwarzen Schwans widerlegt.).
Die hier nur kurz genannten Richtungen haben einen erheblichen Einfluss auf das heutige Verständnis von Philosophie und Wissenschaftstheorie. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, inwieweit sich verschiedene Paradigmen, d. h. grundsätzlich angenommene Vorstellungen miteinander verknüpfen lassen oder im Sinne eines Axioms einmalig sind. Die Gedankengänge zur »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (Kuhn 1979) und zur Paradigmenverknüpfung von Thomas Kuhn (1922–1996)12 sind hier wegweisend. Ebenso ist zu fragen, ob eine »Wahrheit« bzw. »Überprüfbarkeit« überhaupt möglich ist oder nur innerhalb bestimmter Denkstile Gültigkeit hat. Die lapidare Antwort »Anything goes« von Paul Feyerabend (1924–1994; Feyerabend 1984)13 drückt das Verständnis einer postmodernen Epoche aus.
Weitere Details zu den einzelnen Richtungen und Modellvorstellungen finden sich in den genannten (Stand: 25.05.2016) sowie jeweils aktuellen...