1 Bewegungskoordination
Ein Beispiel vorab!
Wer einmal versucht, auf einem Bein zu stehen und mit dem freien Bein einen Kreis zu beschreiben, wird mit der Ausführung dieser Bewegung kaum größere Schwierigkeiten haben. Noch leichter fällt es wahrscheinlich, einen Arm auf und ab zu bewegen. Sollen wir aber beide Bewegungen zur gleichen Zeit und über Kreuz ausführen, dann stellen wir rasch fest, dass uns die Bewältigung dieser Doppelaufgabe nicht auf Anhieb gelingt. Unversehens verursacht die Kopplung beider Teilbewegungen erhebliche Probleme. Wir müssten wohl längere Zeit üben, bis wir dieses Kunststück anderen vorführen könnten und dies, obwohl es uns an Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer keineswegs mangelt.
Mit diesem kleinen Versuch haben wir uns auf ein Feld begeben, das man als Bewegungskoordination bezeichnet. Im Alltag werden uns Probleme bei der Bewegungskoordination kaum einmal bewusst. Weil wir es gewöhnt sind, Alltagshandlungen, Bewegungen „des täglichen Bedarfs“, wie Treppensteigen, Zähneputzen, essen und trinken routinemäßig und stereotyp auszuführen, merken wir von den damit einhergehenden und zum Teil sehr komplizierten inneren Vorgängen so gut wie nichts. Irritationen ergeben sich erst, wenn uns abverlangt wird, gewohnte Bewegungen unter ungewohnten oder neuen Bedingungen auszuführen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn wir uns als Verkehrsteilnehmer in England auf den dort praktizierten Linksverkehr einstellen müssen. Wie im ersten Beispiel werden wir zunächst allerlei Misserfolge erleben, bis wir uns schließlich, nach einiger Übung, an die neue Situation angepasst haben.
Ähnliches erleben auch Menschen, die z. B. wegen einer mit Bettruhe verbundenen Krankheit zu längerer Passivität verurteilt waren. Vorher problemlose Handlungen bereiten plötzlich erhebliche Schwierigkeiten, die nicht allein mit einem Verlust an Kraft zu erklären sind.
In besonderer Weise treten Koordinationsprobleme auf, wenn schwierige, z. B. sportliche Bewegungen erst einmal neu erlernt werden sollen. Wer z. B. beobachtet, wie sich kleine Kinder abmühen, um das Rad fahren zu erlernen, wer zusieht, wie oft Skianfänger zu Fall kommen, bis die erste sturzfreie Abfahrt gelingt, wer verfolgt, wie sich Anfänger beim Schlittschuhlaufen anstellen, um ohne Hilfe eine kleine Strecke auf dem Eis zu gleiten, der kann ermessen, wie schwer es sein kann, neue Bewegungen richtig zu koordinieren.
Schließlich stoßen wir auch an Grenzen der Bewegungskoordination, wenn wir älter werden. Was uns früher „leicht von der Hand ging“, das dauert jetzt auf einmal viel länger oder es misslingt nicht selten ganz.
Probleme mit der Bewegungskoordination treten demnach vor allem auf
- während motorischer Lernprozesse.
- bei der Ausführung von Bewegungen unter ungewohnten oder neuen Bedingungen.
- nach längerer Passivität.
- als Folge des biologischen Alternsprozesses.
1.1 Begriffliches
Mit dem Terminus „Bewegungskoordination“ werden alle Prozesse bezeichnet, die der Regulation von ziel- und zweckgerichteten Bewegungen dienen.
Demzufolge ist Bewegungskoordination „die Abstimmung aller Teilprozesse des motorischen Aktes im Hinblick auf das Ziel, auf den Zweck, der durch den Bewegungsvollzug als Handlungsbestandteil erreicht werden soll“ (MEINEL/SCHNABEL 1987, 54).
Der koordinative Prozess bildet ein komplexes System von Informationsaufnahme (Wahrnehmung), Informationsverarbeitung (einschließlich kognitiver Prozesse), Informationsspeicherung (Gedächtnis, Erfahrung) und Informationsabgabe (Bewegungssteuerung) auf verschiedenen, miteinander vernetzten Ebenen (SCHNABEL/HARRE/BORDE 1997, 67). Als biologisches Substrat gilt das geordnete Zusammenwirken von sensorischem System (Sinnesorgane), Nervensystem und Skelettmuskulatur innerhalb eines ziel- und zweckgerichteten Bewegungsaktes im Zusammenspiel mit der Umwelt.
Mit SCHNABEL/HARRE/BORDE (1997, 56) ist darauf hinzuweisen, dass sich Bewegungskoordination auf einen „zweiten“ biologischen Grundmechanismus bezieht, der sich von dem „ersten“, durch sportliche Betätigung möglichen Prozess morphologisch-funktioneller Veränderungen im Organismus unterscheidet: Während sich etwa Ausdauer und Kraft über morphologisch-funktionelle Anpassung (Adaptation) verbessern lassen, lässt sich die Verbesserung der Bewegungskoordination als „Verbesserung der Informationsorganisation“ bezeichnen.
Beide „Mechanismen“ führen über entsprechende körperliche Beanspruchung zu mehr oder weniger dauerhaften Veränderungen. Allerdings unterscheiden sich beide Prozesse hinsichtlich des zugrunde liegenden biologischen Geschehens: Während morphologisch-funktionelle Verbesserung vorzugsweise über die so genannte „Superkompensation“ geschieht und im Wesentlichen als energetisch interpretierbarer, reaktiver Prozess verläuft, trägt der Prozess der Verbesserung der Informationsorganisation in hohem Maße auch aktive Züge (SCHNABEL/HARRE/BORDE 1997, 56), die vom Begriff „Anpassung“ nicht mehr zur Gänze abgedeckt werden (vgl. KIRCHNER/SCHALLER 1996, 43).
Wenn es auch nur sehr bedingt möglich ist, biologische Prozesse mit mechanischen Modellen zu vergleichen, so soll doch das Beispiel eines Verbrennungsmotors bemüht werden, um den Unterschied zu verdeutlichen: Ein Automotor verfügt über einen „energetischen“ Teil, in dem unter anderem mit Hilfe des Brennstoff-Luft-Gemisches die Kolben in den Zylindern bewegt werden und einen „koordinativen“ Teil, der mittels elektrischer Energie für die geordneten Abläufe (Verteilung) der Zündvorgänge sorgt. Beide Teilsysteme müssen in optimaler Abstimmung aufeinander funktionieren, damit der Motor rund und ökonomisch läuft und effektiv die Kraft entwickelt, die das Fahrzeug, gelenkt von einem intelligenten Fahrer, sicher zum Ziel bringt.
Diesem Umstand Rechnung tragend, macht es durchaus Sinn, immer dann von „Trainieren“ zu sprechen, wenn auf dem Wege der Superkompensation morphologische Anpassungsprozesse beabsichtigt sind, wenn also in erster Linie die Verbesserung konditioneller Fähigkeiten wie Kraft, Ausdauer (und Beweglichkeit) angestrebt wird (KURZ 1978, 131-132).
Steht stattdessen die Verbesserung der Bewegungskoordination im Vordergrund, so bietet es sich zur Markierung des Unterschiedes an, die dazu eingesetzten Aktivitäten als „Üben“ zu bezeichnen (KIRCHNER/SCHALLER 1996). Alltagssprachlich wird man freilich auch dann „Trainieren“ sagen, wenn man die Verbesserung der Bewegungskoordination im Auge hat.
Selbstverständlich laufen beide „Mechanismen“ – Trainieren und Üben – nicht unabhängig voneinander ab. Es bestehen Wechselwirkungen in Richtung einer gegenseitigen Beförderung, aber auch einer gegenseitigen Behinderung. So profitiert z. B. das Üben der Gleichgewichtsfähigkeit von einer gut trainierten Muskulatur. Andererseits können bestimmte Formen des Krafttrainings die Schulung der Bewegungskoordination negativ beeinflussen.
Bei der Gestaltung von Übungsprogrammen zur Erhaltung und Förderung der Bewegungskoordination muss dieser zwiespältige Sachverhalt stets im Auge behalten werden.
1.2 Die gut koordinierte Bewegung
Da es – wie ausgeführt – innere Vorgänge sind, die über die Bewegungsqualität entscheiden, hängt das Gelingen einer Bewegung ab vom geordneten Zusammenwirken der an der erforderlichen Koordination beteiligten internen Faktoren und Prozesse. Wie gut das Zusammenspiel funktioniert, wird zunächst vom Entwicklungsstand und vom Niveau der motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten des Individuums beeinflusst. Beteiligt sind jedoch in jedem Falle die folgenden Teilbereiche:
- Orientierende Informationsaufnahme und -selektion aus der Umwelt (Wahrnehmung, Beobachtung).
- Programmierung der Bewegung (Bewegungsentwurf) und mentale Vorwegnahme des Ereignisses (im Zusammenhang mit dem motorischen Gedächtnis).
- Steuerimpulse an die Muskulatur.
- Bewegungsausführung durch die Bewegungsorgane.
- Rückmeldungen über den Verlauf der Bewegung.
- Gegebenenfalls angemessene Korrekturimpulse.
Bestehen auch nur an einer Stelle dieses ineinander greifenden, komplexen Gefüges Defizite oder Hemmnisse, z. B. durch fehlende Bewegungserfahrung oder durch Wahrnehmungsschwächen, dann kann es zunächst nicht zu geglückten, gut koordinierten Bewegungen kommen.
Äußerlich ist eine gut koordinierte Bewegung daran zu erkennen, dass ihre einzelnen Phasen im Hinblick auf das Ziel der Bewegung sinnvoll ineinander greifen, dass die Teilbewegungen des Körpers in der jeweils erforderlichen Weise gekoppelt sind und die Bewegungen den für sie typischen, unverwechselbaren Rhythmus zeigen. Auch müssen die Aktionen im richtigen Tempo und mit dem angemessenen Krafteinsatz ausgeführt werden. Schließlich muss der Umfang der Bewegung stimmen und die Bewegung muss präzise, d.h. treff- und zielgenau sowie fließend-kontinuierlich ablaufen (MEINEL/SCHNABEL 1987, 170).
Schon dem ungeschulten Betrachter erscheinen gut koordinierte Bewegungen als harmonisch, rhythmisch, beherrscht, rund und anmutig sowie als den gegebenen Umständen angepasst. Mängel an (externer) Bewegungsqualität lassen Bewegungen als eckig, disharmonisch, schlaff, steif, unrhythmisch, unzweckmäßig, unsicher und als den jeweiligen situativen Gegebenheiten unangemessen – stereotyp – erscheinen.
Ihre Ursachen können diese Defizite an verschiedenen Stellen des beschriebenen, komplexen internen Koordinationssystems haben. Nicht selten ist es schwer, die jeweils vorliegenden Gründe zu erkennen. Dies behindert...