1 Kraulschwimmen – Herkunft und aktuelle Bedeutung
„Der Laie, der in unseren Tagen zum ersten Mal die Übungsstätte eines Schwimmvereins besucht, wird erstaunt sein, über die mannigfache Art, in der hier das Schwimmen betrieben wird, wird kopfschüttelnd sehen, wie Jünger Poseidons mit kräftigem Beinschlag das Wasser peitschen und sich einem Dampfer gleich durchs Wasser schrauben. Das ist denn doch etwas ganz anderes, als ihn der biedere Schwimmmeister dereinst gelehrt hat“ (Hans Luber, 1922, S. 83).
Die Kraultechnik ist wirklich „ganz anders“ und: sie ist modern! Zunehmend nutzen diese Technik immer mehr Menschen in Schwimmbädern und freien Gewässern, weil diese einen extrem dynamischen Zugang zum Wasser ermöglicht. Es bereitet einfach mehr Freude, sich kraftvoll, kraulend durch das Wasser fortzubewegen. Die ganze Sache würde noch mehr Spaß machen, wenn man die Technik so richtig beherrschen würde. Viele Freizeitschwimmer, aber auch zielorientierte Triathleten beherrscht das dominante Problem, dass sie nicht „ins Gleiten kommen“ und ewig als „Verdränger“ wie ein Surfboard bei einer Windflaute im Wasser „dümpeln“. Im Leistungssport kann man selbstverständlich ohne eine optimale Schwimmtechnik „keinen Blumentopf mehr gewinnen“.
Deshalb wird in den folgenden Kapiteln Rat und Hilfe für das Erlernen, die Ausführung, aber auch für das Korrigieren des Kraulschwimmens gegeben werden.
Dieses Buch entstand im Umfeld der Stadt Halle an der Saale, an einem Ort, wo Schwimmgeschichte geschrieben wurde. Im 18. Jahrhundert stellten die sogenannten Halloren, als ursprüngliche Salzwirker, die ersten methodisch orientierten Schwimmlehrer in Europa dar. Im Jahre 2009 hat der Hallenser Paul Biedermann bei den Weltmeisterschaften in Rom im Kraulschwimmen für Furore gesorgt und in der Folgezeit mehrere Weltrekorde aufgestellt.
Abb. 1.1: Neunjährige Nachwuchsschwimmerin des SV Halle/Saale
Die Technik des Kraulschwimmens dominiert das Wettkampfgeschehen im Schwimmsport bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften. Von den gegenwärtig 34 Wettkämpfen während der Olympischen Spiele werden 22 vollständig im Freistil oder anteilig im Lagenschwimmen mittels des Kraulschwimmens bewältigt. Es werden Einzelrennen über 50 m, 100 m, 200 m, 400 m, 800 m und 1.500 m im 50-m-Becken ausgetragen, sowie 10 km im Freiwasser. In die Wettkampfprogramme der Welt- und Europameisterschaften wurden zusätzlich 5- und 25-km-Distanzen im Freiwasser aufgenommen. Neben den Einzelrennen werden Staffelwettkämpfe ausgetragen. Olympisch sind 4 × 100 m und 4 × 200 m Freistil sowie 4 × 100 m Lagen. Bei Einzelwettkämpfen im Lagenschwimmen (200 m und 400 m) wird je ein Viertel der Strecke in der Kraultechnik bewältigt.
Seit 1993 werden auf der Kurzbahn (25 m) zusätzlich Wettkämpfe über 4 × 50 m Freistil und 4 × 50 m Lagen ausgetragen. Somit ist der Anwendungsaspekt des Kraulschwimmens im Leistungssport überwältigend. Die 50- oder auch die 100-m-Freistil-Distanzen stellen die Königsdisziplinen dar, vergleichbar mit dem 100-m-Sprint in der Leichtathletik. Dieser Sprintwettkampf fasziniert auch Menschen, welche nicht unbedingt Fachleute des Schwimmsports sind.
Kraulschwimmen ist die schnellste Variante, mit der sich ein Mensch im Wasser ohne Hilfsmittel fortbewegen kann. Gegenwärtig krault ein Mensch über 50 m mit einer Geschwindigkeit von ca. 2,38 m/s (8,6 km/h) und über 100 m mit 2,13 m/s (7,7 km/h)! Ein Sprinter in der Leichtathletik bewegt sich heutzutage mit ca. 10 m/s (36 km/h) fort. Ein Mensch kann somit ca. 4 × schneller laufen als schwimmen! Konkret vorstellbar sind diese beeindruckenden Zahlen, wenn z. B. während des Radfahrens die Geschwindigkeiten sowohl des Schwimmens als auch des Laufens mittels des Tachometers abgelesen und bewusst erlebt werden.
Die 1.500-m-Strecke wird heute so bewältigt, dass der Schwimmathlet letztendlich 15 × ohne Unterbrechung jeweils die 100-m-Kraulstrecke unter einer Minute bewältigt! Der Weltrekord im 100-m-Kraulschwimmen hat sich innerhalb von knapp 100 Jahren um ca. 11 Sekunden verbessert, dagegen im 100-m-Sprint der Leichtathleten nur um ca. eine Sekunde. Dies weist auf die noch zu besprechenden Besonderheiten menschlicher Bewegungen im Wasser hin.
Obwohl, zumindest im deutschsprachigen Raum, sich die überwiegende Zahl der Schwimmanfänger in der ersten Lernphase auf das Brustschwimmen beziehen musste, ist die Kraultechnik dem Grundmuster menschlicher Bewegungen am ähnlichsten. Demzufolge erlernen Kinder in Australien das Schwimmen während der ersten Stunden mit dem „Crawl“ (siehe Kap. 5.2).
Die gesundheitliche Bedeutung des Kraulschwimmens wird in Kap. 9 beschrieben. Es werden vielfältige Muskelgruppen aktiviert und die individuelle Belastung gegenüber den anderen Schwimmtechniken ist sehr hoch. Trotzdem kann diese Technik im Vergleich zum hochintensiven Schmetterlingsschwimmen lang andauernd betrieben werden. Somit liegt eine ideale Bewegungsvariante vor, die einen hohen Energieverbrauch besitzt und damit optimal zur Gewichtsregulation beitragen kann. Dieser intensive Energieverbrauch wird aber ebenso durch das aktive Muskeltraining erreicht, da eine erhöhte Muskelmasse bekanntermaßen auch unter Ruhebedingungen den Stoffwechsel ankurbelt. Der Vergleich zu den „Landsportarten“ lässt den Vorteil deutlich werden, dass eine Bewegung im Wasser durch einen höheren Anspruch an den Wärmehaushalt und einen damit verbundenen Energieverbrauch gekennzeichnet ist. Kraulschwimmen verbraucht somit „viele Kalorien“, intensiviert die Fettverbrennung und ist ideal für das Abnehmen.
Die Beanspruchung des Stütz- und Bewegungssystems eines Menschen ist während des Kraulschwimmens ausgesprochen harmonisch. Eine Fehlbelastung von Knie-, Hüftgelenk und Wirbelsäule während des Brustschwimmens ist dagegen bekannt. Das Rückenschwimmen ist aus orthopädischer Sicht ebenso vorteilhaft, besitzt aber nicht die komplexen Wirkungen des Kraulschwimmens für weitere gesundheitsorientierte Zielstellungen. So trainiert beim Kraulen die rhythmische Ausatmung in das Wasser zusätzlich die Atemmuskulatur.
Die Bezeichnung Kraulschwimmen leitet sich aus dem englischen Crawlstroke ab und ist mit Kriechstoß zu übersetzen bzw. bedeutet to crawl = kriechen, krabbeln.
Abb. 1.2: Die vermutlich älteste Schwimmdarstellung der Welt, ägyptische Hieroglyphe, etwa 3.000 v. Ch, Quelle: Pahncke (1979).
Auf der Suche nach den Ursprüngen der Kraultechnik muss man eingestehen, dass dieses „Krabbeln“ im Wasser seit der Existenz der Menschen simuliert wird. Darauf weist insbesondere die ägyptische Darstellung eines schwimmenden Menschen um 3.000 v. Ch. hin. Das im 16. Jahrhundert entstandene, bekannte Gemälde „Jungbrunnen“ des Wittenbergers Lucas Cranach zeigt ein Bad, in dem von der einen Seite gealterte Frauen ins Wasser steigen und auf der anderen Seite verjüngt verlassen (Abb. 1.3). Die beiden bauchwärts liegenden Damen zeigen deutlich eine Vorstufe des heutigen Kraulschwimmens. Die Unterschenkel werden aus dem Wasser gehoben und die Arme über das Wasser nach vorn geführt.
Abb. 1.3: Der „Jungbrunnen“ von Lucas Cranach dem Älteren (1546)
Das Kraulschwimmen soll seine Anfänge Ende des 19. Jahrhunderts in Hawaii genommen haben.
Die Vorstufe des Kraulschwimmens entwickelte sich im 19. Jahrhundert in England als sogenannter Seitstoß. In der Seitlage wurde statt des Grätschstoßes ein Spreizschrittstoß vollzogen, der mit dem Nach-vorn-Führen des oberen Arms kombiniert wurde. Nur der obere Arm erzeugte Antrieb (vgl. Luber, 1922).
Die Ausprägung der Kraultechnik lässt sich ca. 1875 auf den Engländer John Trudge zurückführen. Er schwang als einer der Ersten die Arme wechselseitig nach vorn und führte dabei mit den Beinen eine Scherbewegung durch (Abb. 1.4).
Abb. 1.4: Entwicklung des Kraulschwimmens, modifiziert nach Colwin (1992)
Daraus entwickelte sich in Deutschland das Hand-über-Hand-Schwimmen (Hüh-schwimmen), wobei die Arme wechselseitig über Wasser gebracht wurden. Diese Armbewegung wurde mit einem Brust-Beinschlag kombiniert.
Der Ungar Biegelbauer hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts den bekannten Brust-Beinstoß mit einem wechselseitigen Nach-vorne-Führen der Arme in Deutschland erstmalig demonstriert. Dabei schwang er den Oberkörper von der einen Seite zur anderen.
Der Australier Healey Sydney hatte 1906 während des Hamburger Verbandfestes diese Art weiterentwickelt, indem er die Beine wechselseitig aus dem Wasser hob und den Fußrist nachfolgend auf das Wasser drückte. Eine „unabhängige“ Bewegungsstruktur von Armen und Beinen hat neben anderen Jonny Weissmüller, bekannt als Tarzandarsteller und erster Schwimmer, der 1922 die 100 m Freistil unter einer Minute schwamm, perfektioniert...