Anstelle eines Vorworts
2007
Warum ich?
Warum jetzt?
Im März 2007 war ich gerade 44 geworden. Und ganz oben angekommen.
Oder jedenfalls so weit oben, wie ich mir das damals immer erträumt hatte. Mein Buch Rache am Chef schaffte es auf die Spiegel-Bestsellerliste. Eine große deutsche Boulevardzeitung ernannte mich zu einer der hundert tollsten Frauen des Jahres, weil ich den Vorgesetzten mal so richtig gezeigt hatte, wo der Hammer hängt. Ich erfreute mich meines Lebens mit Mann und Katzen und gesunder Mittelmeerkost. Und wenn ich mich nicht so bodenlos gegrämt hätte über den dräuenden Wandel meiner Ausmaße von Bikini- zu Badeanzugfigur, dann wäre eigentlich alles perfekt gewesen.
Also, zumindest bis zum 25. Juli.
Da landete ich nämlich auf einen Schlag ganz unten.
Brustkrebs rechts auf 6 Uhr, multifokal, Wächter-Lymphknoten befallen.
Therapiemaßnahmen: OP, Chemo, Strahlen, Hormone.
Weitere Aussichten: beschissen.
Um das zu kapieren, brauchte ich keine medizinischen Ausführungen. Ein Blick auf meinen Gynäkologen reichte völlig. Er setzte das Gesicht auf, das er vermutlich für besonders finstere Diagnosen in Reserve hält, murmelte etwas von »jetzt gehen wir am besten gleich in medias res« und sprach es aus.
Das schreckliche K-Wort.
Ich bin im falschen Film, dachte ich.
Mehr dachte ich nicht.
Ich funktionierte nur noch auf Notstrom. Ganz gelegentlich flackerte ein Lebenszeichen in einzelnen Körperteilen auf. Mein Gehirn meldete wachsende Taubheitserscheinungen und drohenden Systemabsturz. In meinen Ohren brauste es. Meine Kehle rang mit einem Kloß, mein Magen funkte steigende Übelkeit und mein Darm akutes Toiletten-SOS.
Der Gynäkologe schaute mich an. »Vor Ihnen liegt jetzt ein Parcours«, beschied er mir mit Seelsorgermiene und reichte mir die Hand. Ich sah sie in Zeitlupe auf mich zukommen. Unter Aufbietung aller kümmerlichen noch vorhandenen Kräfte gelang es mir, sie zu ergreifen, meinem Sprachzentrum eine höfliche Abschiedsfloskel zu entringen, die Tür zu öffnen und irgendwie aus der Praxis herauszufinden.
So fühlt sich also der Ernstfall an, dachte ich in Endlosschleife, während der Kloß in meiner Kehle sich langsam verflüssigte und hochstieg in Nase und Augen. So fühlt es sich also an, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird.
So fühlt es sich also an, wenn man erfährt, dass man sterben muss.
Warum ich? Warum jetzt?
Und dann war es so weit. Meine Schockstarre wich auf einen Schlag waschechter Verzweiflung. Dicke Tränen tropften auf die braunbeigen Granitstufen im Treppenhaus meines Arztes. Und ich bekam den ersten Heulkrampf meines neuen Lebens.
Irgendwann kamen keine Tränen mehr nach. Und in dem Moment der Ent-Spannung, der Gott sei Dank zuverlässig auf jeden Heulkrampf folgt, sah ich mich auf dieser Treppe sitzen. Ein Haufen Elend mit Rotznase und verschmierter Schminke in einem 50er-Jahre-Treppenhaus mit Blick aus einem Fenster, gegen das der Münchner Juliregen nieselte. »O Mann, so was Klischeehaftes, das würde man jedem Drehbuchautor sofort um die Ohren hauen«, schoss es mir durch den Kopf. Was einem bei aller existenziellen Verzweiflung eben so durch den Kopf schießt, wenn man ewig in der Filmbranche gearbeitet, zusammengezählt Jahre seines Lebens in Kinos verbracht hat und sich plötzlich live und in Farbe in seinem eigenen, höchstpersönlichen Melodram wiederfindet.
Immerhin: Mein Verstand war offenbar wieder angesprungen. Ein paar graue Zellen hatten sich von den Ereignissen merkwürdigerweise nicht weiter beeindrucken lassen. Seelenruhig erhob sich dieser Restverstand über die Massenpanik aller anderen Körperzellen und beäugte mich. Freundlich, dabei offenbar rein fachlich interessiert, etwa wie ein Zoologe das Verhalten von Labormäusen unter Stress beobachten würde. Anscheinend nahm er völlig ohne mein Zutun eine Evaluierung der Gesamtsituation vor. Während ich apathisch ins Leere starrte, gewichtete er die Faktoren Unglück, Panik, Todesangst und Selbstmitleid. Und meldete sich sodann energisch zu Wort.
»Hör auf zu heulen!«, befahl er mir mit bedeutend weniger Mitgefühl in der Stimme, als ich es mir gewünscht hätte. »Was soll dieser melodramatische Quatsch von wegen ›Warum ich?‹ und ›Warum jetzt?‹? Du weißt doch ganz genau, was Sache ist.«
Und dann zählte mein Restverstand mir kurz, schmerzhaft und punktgenau alle Faktoren meines bisherigen Lebens auf, die zu diesem Krebs geführt haben könnten.
Quasi als Warm-up zeigte er mit dem Finger auf die üblichen Verdächtigen, die mit Sicherheit auch in meinem Leben ihre Spuren hinterlassen hatten: zu viel rotes Fleisch, unglückliche Liebesbeziehung, Demotivation und drohender Burn-out im Job, Schadstoffe in Grundwasser und Atemluft, Chemie in Lebensmitteln, Parabene im Plastik, Hang zu Schwermut und schweren Rotweinen.
Immerhin konnte er mir keine Nikotinsucht vorwerfen.
Also ging mein Restverstand gleich über zu den ganz harten Fakten: »He, du hast eine chronische Angststörung! Mit 21 die erste Panikattacke, mit 26 die erste Therapie – und trotzdem drehst du immer noch regelmäßig durch vor Schiss, du könntest bei der Arbeit diesen einen riesigen peinlichen, unverzeihlichen Fehler machen! Oder vergessen haben, den Herd auszuschalten! Oder von einer Spinne tätlich angegriffen werden! Menschenskind, du weißt doch, dass Angststörungen die Lebenserwartung verkürzen!«
Ich schluckte. Was hätte ich zu meiner Rechtfertigung vorbringen können? Dass diese Angststörung offenbar genetisch bedingt ist und auch einen Teil meiner Familie umtreibt?
Mein Restverstand lächelte mitleidig. »Genetische Veranlagung ist keine Ausrede für Angst, sondern ein Grund, umso energischer etwas dagegen zu tun. Sonst wird sie nämlich immer schlimmer. Aber nein, du hast dich ja für Leiden und Verdrängen entschieden. Obwohl du sogar im Verdrängen eine Niete bist, sonst würde deine Hormonvergangenheit dir nicht immer wieder die prächtigsten Albträume bescheren …«
Die Hormone. Neben der Angststörung der zweite beinharte Krebsfaktor in meinem Leben.
Nein, nicht wegen der Pille, obwohl ich die über zwanzig Jahre lang geschluckt habe.
Sondern wegen der Antiwachstumsbehandlung. Damals, als ich zwölf war.
Wir schrieben das Jahr 1975, die Ärzte waren noch Götter in Weiß und die Fortschritte in Wissenschaft und Medizin ein wahres Wunder. Auch für meine Eltern. Als Schulärzte im Auftrag der Düsseldorfer Uniklinik nach besonders hochgewachsenen Mädchen suchten, dabei auch mich (damals 173 Zentimeter) entdeckten, reagierten meine Mutter (179 Zentimeter) und mein Vater (193 Zentimeter) enthusiastisch auf das Angebot, das ihnen für ihre Tochter unterbreitet wurde: eine Hormontherapie gegen Großwuchs.
Allein schon dieses Wort. Es klang, als hätte die Vermessung meiner Handgelenke eine zukünftige Zweimeterfrau entlarvt. Dabei lag die Prognose nur bei »circa 185 Zentimetern«. Zu vermeiden durch die tägliche Gabe hochdosierter Östrogene und Gestagene über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren.
Heute würde man über so einen Vorschlag den Kopf schütteln. Oder die Ärzte gleich wegen versuchter Körperverletzung verklagen.
Aber damals schien diese Methode nicht nur für meine, sondern für viele weitere Eltern groß gewachsener Töchter wie die letzte Rettung vor drohendem Elend: »Wenn du so groß wirst, findest du doch nie mehr elegante Schuhe! Und einen Mann findest du erst recht nicht! Und dann bei deiner Figur! Groß und zierlich geht ja vielleicht noch, aber groß und stämmig … überleg doch mal!«
Ich überlegte. Im Rahmen meines Zwölfjährigenhorizonts war das nicht schwer. Ich wollte Schuhe finden, ich wollte einen Mann, ich hatte Angst, groß und stämmig zu werden. Also fing ich an, diese Hormone zu schlucken. Und die brachten meinen überraschten Kinderkörper mit dem Presslufthammer in Frauenform. Quasi über Nacht wuchs mir ein Riesenbusen, und die erste Periode setzte ein. Ich wurde dick, pickelig und unglücklich. Nach fünfzehn Monaten brach ich die Behandlung ab. Es war mir egal geworden, wie groß ich werden würde, ich wollte nur raus aus dieser Studie. Die wurde einige Jahre später sang- und klanglos eingestellt. »Aufgrund gravierender psychischer Probleme der Probanden«, wie ich später hörte. Allerdings nicht von den verantwortlichen Ärzten der Uniklinik. Von denen habe ich nie wieder etwas gehört. Keine Nachuntersuchungen, keine Langzeitstudie über die Folgen der Behandlung – nichts. Obwohl die potenziell krebsfördernde Wirkung von Hormonbehandlungen aller Art seit den 70er-Jahren immer eindeutiger belegt ist.
»Du bist halt ein Hormonkalb, da lässt sich nix mehr dran ändern. Das war immer schon ein Risiko, das wusstest du. Da brauchst du jetzt nicht theatralisch ›warum ich?‹ zu rufen«, dozierte mein Restverstand. »Und das mit deiner Mutter weißt du...