Dieses Kapitel wirft zunächst einen Blick auf die Wurzeln der Textlinguistik und beleuchtet dann in Kürze die wesentlichen Phänomene der Kohäsion und Kohärenz. (Diese werden in den nachfolgenden Kapiteln dann vertieft dargestellt.) Weitere Phänomene der Textualität werden angesprochen und Beispiele für die Untersuchung annotierter Korpora genannt.
2.1 Die Anfänge der Textlinguistik
In den 1960er Jahren, einer durch die bahnbrechenden Entwicklungen von Chomskys Generativer Transformationsgrammatik ausgelösten „Blütezeit der Syntax“, waren die Untersuchungsgegenstände der Linguistik das Morphem, das Wort, die systematischen Wortgruppen bzw. Konstituenten und der Satz. Nur wenige Sprachwissenschaftler zeigten sich von dieser Konzentration auf die Satz-Beschreibung unbefriedigt und meldeten Interesse an, auch satzübergreifende Phänomene zum Ziel linguistischer Untersuchung und Theoriebildung zu machen, mithin den Text als linguistische Einheit zu begreifen.
Einer der wesentlichen Auslöser der Beschäftigung mit Texten war der Wunsch, die Funktion und Bedeutung von Pronomina linguistisch zu erklären. Pronomina sind die augenfälligsten sprachlichen Mittel, die Bezüge zwischen Sätzen herstellen. Hier ein auch von Linke u.a. (1994) zitiertes Textbeispiel aus einem Roman:
- (2.1)
Ich glaube, dann war Nadja dran. Sie hatte sich für Jura beworben und wußte längst, daß sie zugelassen war. Sie hatte es telefonisch erfahren, und sie hatte mittlerweile auch einen Förderungsvertrag mit Patenschaft und so unterschrieben. Sie kriegte dann aber irgendwie Kontakt mit einer frustrierten Richterin, die den Laden von innen kannte. Von da an wollte Nadja nicht mehr.
(Thomas Brussig: Wasserfarben)
Mit Ausnahme eines einzelnen Teilsatzes ist kontinuierlich die Rede von Nadja, auf die nach der ersten Erwähnung durchgehend mit dem Personalpronomen sie verwiesen wird – bis zum letzten Satz, wo wieder ihr Name genannt wird, entweder um der drohenden Monotonie zu begegnen, oder um einer möglichen Verwechslung mit der Richterin vorzubeugen. Der Autor hat bei der Wahl seiner referierenden Ausdrücke (auch ‚referenzielle Ausdrücke‘ genannt) viele Freiheiten: Er kann Eigennamen, Pronomen, umschreibende Nominalphrasen (NP) verwenden. Gleichzeitig unterliegt er aber auch Beschränkungen, denn das intendierte Bezugsobjekt muss von der Leserin auch ohne allzu viel Mühe rekonstruiert werden können. Solcherlei Beobachtungen zum Wechselspiel zwischen Wahlfreiheit und Einschränkung bei der Textproduktion weckten das Interesse derjenigen, die den Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand des Satzes hinaus richteten.
Eine der „Pionierarbeiten“ der Textlinguistik war die Dissertation von Roland Harweg (1968), in der er die unterschiedlichen Arten von Pronomina klassifizierte und ihre Rolle im Text untersuchte. Da er einen sehr weiten Begriff verwendete und auch einige definite NPs unter ‚Pronomina‘ subsumiert, definierte er dann auch ‚Text‘ als „ein durch ununterbrochene pronominale Verkettung konstituiertes Nacheinander sprachlicher Einheiten.“ Als weiteren Wegbereiter der Textlinguistik nennt Adamzik (2004) vor allem Peter Hartmann (s. etwa Hartmann, 1968), der u.a. das Augenmerk auf die Funktion von Texten (im Gegensatz zu ihrer strukturellen Beschreibung) richtete und deutlich machte, dass Sprecher nicht in Worten, auch nicht in Sätzen, sondern mit Sätzen aus Worten in Texten sprechen, mithin der Text der primäre Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft sei. Ähnlich hatte auch Harald Weinrich mit seiner vielbeachteten Arbeit Tempus (Weinrich, 1964) dem Satz den Status als Haupt-Gegenstand der Linguistik abgesprochen; später legte er konsequenterweise dann auch eine Textgrammatik der deutschen Sprache vor (Weinrich, 2005, 3. Aufl.).
„Phasen“ der Textlinguistik
Nach Adamzik (2004) lässt sich die bis zur Jahrtausendwende durchgeführte Textlinguistik-Forschung (im deutschsprachigen Raum) grob in drei Phasen einteilen:
die transphrastische Phase, die Phänomene der Satzverknüpfung untersucht;
die kommunikativ-pragmatische Phase, die Texte als komplexe sprachliche Handlungen auffasst und analysiert;
die kognitivistische Phase, die die kognitiven Prozesse der Produktion und Rezeption bei Sprachbenutzern in den Mittelpunkt stellt.
In den letzten etwa zehn Jahren wurde die Linguistik dan insgesamt stark von der Hinwendung zu authentischen Sprachdaten beeinflusst, wodurch eine empirisch fundierte Theoriebildung befördert wurde. Im vorliegenden Buch nehmen wir ebenfalls diese Perspektive ein und richten den Blick auf die Arbeit mit Korpora, die für die Beschreibungsebene Text vielfältig annotiert sind.
Um Sätze oder Teilsätze miteinander zu verbinden, sind die oben genannten Pronomina ein prominentes, aber keineswegs das einzige sprachliche Mittel. Solche Verbindungen kommen immer dann zum Tragen, wenn die Interpretation einer sprachlichen Einheit die Interpretation einer anderen zur Voraussetzung hat. Wir sprechen dann von Kohäsion zwischen solchen Einheiten und nennen die entsprechenden Signale an der sprachlichen Oberfläche kohäsionsstiftende Mittel.
2.2 Kohäsion
Zur Motivation dieses Themas zitieren Halliday u. Hasan (1989) das Beispiel eines stand-up comedian, der auf die Bühne trat und seinen Vortrag mit den Worten begann: So we pushed him under the other one. Dies ist (zumindest bis unmittelbar nach der Äußerung des Satzes) ein Exemplar eines rundum misslungenen Textes, der eine Anzahl unauflösbarer Verweise enthält – sozusagen ein vorgetäuschter Text, der Kohäsionsmittel einsetzt, aber dabei keinen Sinn vermittelt. Kohäsion ist also allein ein Aspekt der sprachlichen Oberfläche. In gewöhnlichen Texten geht sie mit Sinnhaftigkeit (der im nächsten Abschnitt zu besprechenden Kohärenz) einher, doch ist diese Verbindung eben nicht zwangsläufig gegeben.
2.2.1 Kohäsionsmittel
Welche sprachlichen Mittel gibt es, um solcherlei Kohäsion herzustellen? Nach Bußmann (2002) handelt es sich „im Wesentlichen um Erscheinungen der Wiederholung, Ersetzung und Verknüpfung.“ Die nachfolgende Liste ist eine Kombination und Ergänzung aus ähnlichen Listen von Halliday u. Hasan (1989), Linke u.a. (1994) und Bußmann (2002). Die Phänomene werden hier nur kurz erwähnt, und die meisten werden in späteren Kapiteln dann ausführlicher behandelt.
Rekurrenz bezeichnet nach Linke u.a. (1994) die „materielle Wiederaufnahme eines einmal eingeführten Textelements im nachfolgenden Text.“ Dies kann durchgehende Koreferenz (Bezugnahme auf denselben Gegenstand; s.u.) einschließen wie in Beispiel 2.2 mit Vogel oder auch nicht, wie in Beispiel 2.3 (Mutter); der letztgenannte Fall wird häufig als weniger kohäsiv angesehen als der erste.
- (2.2)
Gestern habe ich einen Vogel beim Nestbau beobachtet. Der Vogel war ganz klein, hat aber trotzdem ziemlich große Zweige angeschleppt. Als Nistplatz hatte sich der Vogel ausgerechnet die Nische über unserem Rollladenkasten ausgesucht.
- (2.3)
Meine Mutter ist sehr ängstlich und denkt immer gleich das Schlimmste. Annas Mutter ist da viel pflegeleichter: Die lässt ihre Tochter abends auch allein weggehen. So eine Mutter wäre mir ja auch lieber.
Rekurrenz liegt auch vor, wenn zwei Wörter in unterschiedlichen Flexionsformen gebraucht werden, also zum Beispiel zwischen Mutter und Mütter.
Substitution ist die Wiederaufnahme eines Textelements mit identischem Referenzobjekt, aber unterschiedlicher lexikalischer Realisierung. Typisch für Substitution sind die lexikalischen Relationen der (Quasi-) Synonymie, Hyponomie (Unterbegriff) und Hyperonymie (Oberbegriff). Typischerweise wird bei der späteren Wiederaufnahme ein Hyperonym gewählt: Gegen 19 Uhr trat ein Damhirsch aus dem Wald. Nachdem er die Hasen verscheucht hatte, knabberte der Hirsch genüsslich an den Kleeblättern. Ausnahmen von dieser Tendenz gibt es aber beispielsweise in Nachrichtentexten, wo mit referierenden Ausdrücken bei der Wiederaufnahme auch noch neue Information übermittelt wird, wodurch sich insgesamt kurze, verdichtete Texte erstellen lassen: Ein 43 Jahre alter Mann überfiel die Sparkasse. Der Facharbeiter war mit einer Schreckschusspistole …
(In-)Definite...