Kotzt euch ruhig aus
Weihnachten 1994. Ich war vierzehn, trug eine zu lang eingewirkte Dauerwelle mit grünen Strähnen, die eigentlich blond sein sollten, und eine buntgemusterte Leggins, deren Anblick schon genügte, um paranoide Zustände auszulösen. Über der Stirn hatte ich mir mit dem Föhn und einer halben Flasche Haarspray eine Art Betonschild gebaut, das eine erstaunliche Höhe von zehn Zentimetern erreichte. Ich fühlte mich so, wie ich aussah: sehr merkwürdig. Vielleicht, weil auch eine Achtziger-Jahre-Revival-Frisur meine kugelrunden Pausbacken nicht kaschieren konnte und die unansehnliche Glanzhose ebenso wenig davon ablenkte. Vielleicht aber auch, weil ich generell nicht gerne in den Spiegel sah.
Meine Aufwachsstätte war eine hessische Kleinstadt mit Dorfcharakter, die den geschmacklichen Untergang der Achtziger auch noch in den Neunzigern stolz zur Schau trug: Das Straßenbild prägten weiblicherseits knallige Karottenhosen, in denen Beine mindestens dreimal dicker und halb so lang aussahen, neonfarbene Stirnbänder, die schmerz- und dauerhafte Druckstellen neben unschönen Hautallergien hinterließen, und Blusen, deren Schulterpolster Rambos Oberarmen Konkurrenz machten. Gekrönt wurden die modischen Missgriffe durch Wattebauschfrisuren, die aussahen, als würde ihre Trägerin mit Vorliebe in Steckdosen greifen. Ausgerechnet zu dieser Zeit musste ich an diesem Ort groß werden, es zumindest versuchen. Meine Eltern zählten nämlich eher zu den Zwergen. Mama war eins sechzig, Papa eins siebzig. Ich war klitzeklein – und so fühlte ich mich auch.
Das Größte an mir waren Minderwertigkeitskomplexe, zum einen, weil ich unter dem Sandwichkind-Syndrom litt, zum anderen, weil ich das einzige Mädchen unter Brüdern war. So etwas wie Selbstbewusstsein besaß ich nicht, seit ich das Wenige davon an meinen zwei Jahre älteren Bruder Horst verhökert hatte, so wie manch einer seine Seele an den Teufel. Was nicht heißt, dass mein großer Bruder der Teufel war – er war vielmehr dessen bester Freund. Horst war mit einem Durchsetzungsvermögen gesegnet, das schon an Größenwahn grenzte. Was er sich in den Kopf setzte, realisierte er, egal, wie und zu wessen Leidwesen. Ob das heimliche Bauen kleiner Bomben aus dem Silvesterknaller-Innenleben, die gescheiterte Aufzucht von Kaulquappen oder das Zusammensetzen eines Miniatur-Modellflugzeugs mit selbstentworfenem Flugmotor aus Papas Bohrmaschine: Für Horst gab es keine Grenzen. Ich stand ihm dabei meist nur blöd und staunend im Weg.
Zum Glück musste ich als Mädchen keine Flugzeuge bauen. Wenn es nach Mama ging, gehörten Flugzeuge ohnehin nur in meinen Bauch, und das am besten auch nur einmal im Leben, so wie im Märchen.
Märchenmäßig ging es bei uns daheim allerdings nicht zu. Fröscheküssen war schon gar nicht drin, denn die starben bereits in ihrer Kinderstube. Horst vergaß, dass Pfützen im Hochsommer zum Austrocknen neigen und man Kaulquappen nicht in der Hand spazieren trägt, zumindest nicht über drei Kilometer. »Ist doch egal«, lautete seine trockene Antwort auf meine Tränen, die ich beim Beerdigen der vertrockneten Kaulquappen vergoss. »Du bist ein liebes, braves Liebdingli«, sagte Mama und kniff mir in die tränenbedeckten Pausbacken, während Papa Horst die Leviten las und die hausgemachten Bomben entschärfte. »Und du siehst sooo süß aus!«
Tat ich nicht. Ich sah aus wie das Titelgesicht der Mad-Hefte. Horst sagte zu mir »Monsterbacke«, meine Mitschüler nannten mich »Chowchow«.
Doch zurück zu Weihnachten 1994. Die gesamte Familie hatte sich bei uns eingefunden – nicht etwa, um mein komisches Äußeres zu begutachten, sondern um mit uns das Fest der Liebe zu feiern. »Feiern« stand in meiner Familie für Essen, das in den Mund katapultiert wurde, während gleichzeitig ein stetiger Schwall von Worten aus selbigem sprudelte. Keine Unmöglichkeit.
Der lange Esstisch wurde durch ein Zusatzbrett verlängert und jeder noch so kleinste Winkel mit Schüsselchen und Schälchen bedeckt. Was nicht mehr auf den Tisch passte, fand seinen Platz auf der Fensterbank. Tagelang hatte Mama für diese Berge an Essen in der Küche gestanden, gekocht, gebacken und gebraten. Während dieser Zeit beschwerte sie sich pausenlos über all die fiesen Kalorienbomben, die sie produzieren müsse. Lieb oder brav war das nicht. Mama kochte sehr gut, doch oftmals »kochte« sie dabei auch innerlich. Aber darauf verzichten, die Feier absagen, das wollte sie ebenso wenig. Mama war ein wenig widersprüchlich. Und deshalb war es für mich auch normal, dass sie sich stets zu dick fand und immer wieder vom Abnehmen sprach, beim Essen aber routiniert zuschlug wie ein ausgehungerter Löwe.
Papa meinte, dass Mama in einer »gestörten« Beziehung zum Essen stand und trotz der Massen, die sie tagtäglich verdrückte, eine erstaunlich gute Figur besaß.
Mama meinte, dass Papa in einer »gestörten« Beziehung zum Essen stand, weil er seit jeher Dinge aß, die durch ihre Eigenartigkeit alle Aufmerksamkeit auf ihn zogen. Das war seine Mittelpunkt-Strategie: Papa belegte ein Brötchen Marke »Extrahart vom Vormonat« mit frischen Zwiebelringen, scharfem Senf, rohen Salzheringen und einem Topping aus Marmelade und Honig – nur um es dann vor den angewiderten Augen aller Anwesenden mit breitem Grinsen zu verspeisen. Er war da recht schmerzfrei. Waren nicht genug Blicke auf ihn gerichtet, packte er einfach noch etwas Abscheulicheres obendrauf. Gab es keine Zuschauer, aß Papa überhaupt nichts und nannte das »Diät«.
Mein großer Bruder Horst war in meinen Augen sowieso »gestört«, vor allen Dingen, wenn es ums Essen ging. Mama und Papa mussten ihn immer wieder ans Kauen erinnern, da Horst seine Nahrung üblicherweise einatmete. Zudem war er süchtig nach Zucker, was Mama dazu bewog, eingekauften Naschkram sofort zu verstecken. Leider vergaß sie mit der Zeit die Hälfte ihrer vierundachtzig Verstecke, die sich dann nach einiger Zeit durch intensiven Geruch von allein bemerkbar machten.
Wenn meine Eltern Horst mal wieder auf Süßigkeitenentzug setzten und seine anschließende Hausdurchsuchung erfolglos blieb, wurde er unausstehlich. Heute hätte man ihm dafür wohl ein paar Ritalin-Pillen in den Rachen geworfen.
Als wäre das alles nicht schon genug, gab es neben mir noch jemanden: meinen achtjährigen Minibruder Billy. Mit seiner weltoffenen Art und den dazu passenden Kulleraugen wäre er das ideale Aushängeschild einer jeden humanitären Organisation gewesen. Doch wie wir alle stand auch er in einer gestörten Beziehung zum Brot der Welt. Billy war hypersensibel, sehr empfindlich oder, wie es mein großer Bruder ausdrückte, »hochbescheuert«. Ärgerte sich das Nesthäkchen, was aufgrund der Anwesenheit zweier Geschwister im Allgemeinen und eines Voll-Horsts im Besonderen täglich vorkam, brauchte es kalorienbombigen Trost. Den wiederum fand Billy in unserem Kühlschrank, der ebenfalls essgestört sein musste, da meine Eltern all das in ihn hineinstopften, was das Frustesserherz begehrte. Das Teil war so beladen, dass wir bald ein zweites in den Keller stellen mussten, direkt neben die gigantische und ebenso überladene Gefriertruhe. Und da Billy nicht mit der Hyperaktivität seines großen Bruders gesegnet war, nahm sein Bauch bereits in jungen Jahren den Umfang eines Medizinballes an, ganz zu schweigen von seinen Pausbacken, die den meinigen ernsthafte Konkurrenz machten. Schade, denn Billy war im Grunde bildhübsch.
Es war also mehr als offensichtlich, dass in meiner Familie bereits irgendein kleines Essproblem allgegenwärtig war, das nur noch auf den richtigen Zeitpunkt wartete, um endlich auch auf mich überspringen zu können. Und da es bei uns neben dem Essproblem auch noch ein Sprachproblem gab, hatte es leichtes Spiel.
Das Sprachproblem bezog sich nicht etwa auf einen mangelnden Sprachschatz. Nein, vielmehr herrschte in unserer Familie ein Mangel an Zuhörern – bei einem gleichzeitigen Übermaß an Rednern. Hatte man das Glück, einen Zuhörer gefunden zu haben, musste man ihn aufs Aufwendigste unterhalten, denn auch sein Interesse bestand eigentlich nur darin, das Thema geschickt auf sich selbst zu lenken. Letzten Endes redeten immer achtzig Prozent aller Tischnachbarn gleichzeitig und wild durcheinander. Und so störte es auch nicht, dass nebenbei Fernseher und Radio liefen, Billy sich lautstark Geschichten über seinen Kassettenrekorder anhörte und alle acht Minuten Güterzüge durchs Wohnzimmer rauschten (es war wohl kein Zufall, dass mein Vater unser Haus ausgerechnet neben ein doppelspuriges Eisenbahngleis gestellt hatte).
Viel Essen und viel Lärm – daran hatte ich mich gewöhnt. Und beides hatte ich akzeptiert, solange niemand für mein Essen sterben musste.
Ein Jahr zuvor, in der Hitze des Sommers 1993, war ich Vegetarier geworden. Ausgerechnet auf einem Grillfest. Als Papa Schneckenbratwürste auf den Grill legte, deren Fettaugen mir zuzwinkerten, fasste ich den Entschluss, »meine Freunde« lieber nicht mehr zu essen. Tiere waren schon immer meine Freunde – an erster Stelle Schnüffel, eine alte Häsin, die noch immer munter durch unseren Garten hoppelte, und seit Anfang der Neunziger auch Bonnie, eine spanische Hündin, die sich noch immer mit den deutschen Gepflogenheiten und unserer speziellen Familie auseinandersetzte. Die beiden waren meine besten Freunde. An erster Stelle perfekte Zuhörer. Sie hatten auch gar keine andere Wahl. Jeden Nachmittag nahm ich sie mit in mein Zimmer und laberte ihre Ohren mit hirnlosem Teenie-Müll voll, bis sie schließlich auf dem Sesamstraßen-Teppich einschliefen. Vielleicht war mein...