Einleitung – Krisen im Schulalltag
Stefan Drewes und Klaus Seifried
Das Wort Krise wird gegenwärtig inflationär gebraucht. In den Nachrichten werden wir jeden Tag mit Finanzkrisen, Wirtschaftskrisen, Umweltkrisen, politischen Krisen, Persönlichkeits- oder Leistungskrisen konfrontiert. Täglich sehen und hören wir in den Medien von Naturkatastrophen und Kriegen und hoffen – selbstverständlich –, davon verschont zu bleiben.
Krisen gehören zum Leben von Menschen und zum Alltag in der Schule, so wie beispielsweise Unfälle, lebensbedrohliche Krankheiten und Todesfälle jederzeit geschehen können. Die Konfrontation mit einem Krisenereignis zieht heute jedoch immer weitere Kreise und erreicht immer mehr auch nur mittelbar betroffene Personen, da durch die schnelle Informationsverbreitung in der heutigen medialen Welt ein Ereignis regelmäßig eine besondere Dramatisierung erfährt.
Krisen können jederzeit auftreten, somit auch in der Schule. Dabei sind es nicht nur die plötzlich auftretenden krisenhaften Ereignisse durch äußere Umstände, sondern auch die Entwicklungen und die Veränderungen im Lebenslauf, die persönliche Krisen auslösen können. Der Schulalltag ist somit häufig von kleinen und – sehr selten – auch von großen Krisen betroffen (vgl. Ria Uhle in diesem Band).
Wir haben uns dazu entschlossen, an dem Begriff „Krise“ festzuhalten. Dieser Begriff wird im Kontext Schule akzeptiert. Es besteht mittlerweile eine allgemeine Sensibilität für krisenhafte Ereignisse, für mögliche psychische Auswirkungen und für die Notwendigkeit eines Krisenmanagements. Es ist unvermeidlich, dass sich Schulen und Schulverwaltungen auf die Bewältigung von Krisen vorbereiten. Krisen im Schulalltag sind alltäglich, und die Bewältigung sollte auch als eine alltägliche pädagogische Aufgabe der Schule sowie als eine Managementaufgabe der Schulleitung und Schulverwaltung verstanden werden. Die Entwicklung von Notfallordnern für Schulen sowie der Aufbau von Krisenmanagementstrukturen in den Schulverwaltungen sind Beispiele dafür.
Was ist eine Krise?
In diesem Buch wird eine Krise auf unterschiedlichen Ebenen definiert. Einfach ausgedrückt, bedeutet „Krise“ (griechisch κρíσıς krísis,) eine „schwierige Lage“, d. h., eine Person oder eine Institution ist in akuten Schwierigkeiten (Zeitlexikon, 2005).
Im psychologischen Sinne sind Krisen der Verlust des inneren Gleichgewichts und der Handlungssicherheit, die durch Notfälle (Unfall, Gewalt, Katastrophen), besondere Lebensphasen (Pubertät, Alter), durch Sucht oder durch bestimmte individuelle Ereignisse (Stress, Prüfungen, Konflikte, Trennung) ausgelöst werden können. Krisen können somit durch äußere unvorhersehbare Ereignisse, aber auch durch innerpsychische Konflikte einzelner Personen oder durch soziale Prozesse ausgelöst werden. Im zweiten Fall stellt sich oft die Frage, wie es zu einer solchen Eskalation kommen konnte und ob die Krisensituation nicht durch gezielte Prävention vermeidbar gewesen wäre.
Pädagoginnen und Pädagogen in der Schule sehen die krisenhafte Entwicklung eines Schülers oder einer Schülerin manchmal unter einem anderen Blickwinkel als ein Arzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik oder die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes, die Jugendhilfemaßnahmen einleiten und z. B. klären müssen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Die unterschiedlichen professionellen Sichtweisen der Experten führen manchmal zu Missverständnissen, wenn es um ein gemeinsames Fallmanagement geht, wie Rainer Zeddies in diesem Buch erläutert.
Krisen können durch unbewältigte Konflikte entstehen
Werden Konflikte nicht erkannt oder ignoriert, können daraus latente und manifeste Krisen entstehen. Menschen und Institutionen geraten in manifeste Krisenzustände, wenn zu viele oder zu massive Konflikte nicht bearbeitet und gelöst werden können. In den Analysen von School Shootings (Robertz & Wickenhäuser, 2010) wird deutlich, dass Täter von schweren Gewaltvorfällen immer auch aufgrund unbewältigter Konflikte in Lebenskrisen geraten sind. Meist war dies eine Summe von Kränkungen und Misserfolgen in der Schule, der Peergroup oder der Familie, in Kombination mit sozialer Isolation und depressiven Persönlichkeitsmerkmalen. Die Schule hat hier einen hohen Symbolwert (siehe Frank J. Robertz, Jens Hoffmann, Friederike Sommer et al. in diesem Band). Es ist daher von großer Bedeutung, die zugrundeliegenden Konflikte zu erkennen und den pädagogischen Alltag in Schulen auf die Bewältigung von kleinen und großen Konflikten vorzubereiten.
Was ist ein Konflikt?
Ein Konflikt (lateinisch confligere, conflictum) bezeichnet das Aufeinandertreffen einander entgegengesetzter Interessen, Bedürfnisse, Verhaltensweisen, Intentionen und Motivationen (Zeitlexikon, 2005).
Ein Konflikt besteht, wenn einzelne Schüler oder Lehrer unterschiedliche Interessen und Ziele haben und versuchen, diese durchzusetzen. Dies kann auch Gruppen von Schülern innerhalb der Schule oder Fraktionen im Kollegium betreffen. Ein Konflikt entsteht dann, wenn die Konfliktpartner versuchen, durch Druck und Drohungen den anderen zu überzeugen oder zum Handeln zu zwingen (Höher, 2004).
Konfliktformen und Eskalationsstufen
In der Schule sind unterschiedliche Konfliktformen anzutreffen. Zunächst stehen Beziehungskonflikte zwischen verschiedenen Personengruppen im Vordergrund: Schüler-Schüler-Konflikte, Schüler-Lehrer-Konflikte, Lehrer-Lehrer-Konflikte, Lehrer-Eltern-Konflikte und natürlich auch Konflikte mit der Schulleitung. Die verschiedenen Entwicklungsphasen eines Kindes oder Jugendlichen, wie z. B. die Pubertät, sind zudem durch eine Vielzahl von Identitätskonflikten geprägt, die die Beziehungen zu Autoritäten wie Lehrern und Eltern belasten.
Aber auch Interessenkonflikte über Noten und scheinbar ungerechte Bewertungen, über den Einfluss in der Klasse oder in der Peergroup, durch Konkurrenzstreit um Mädchen oder Jungen können zu massiven Auseinandersetzungen führen. Häufig werden schulfremde Freunde und Bekannte bei Konflikten mit Mitschülern um „Hilfe“ gebeten und verursachen dramatische Eskalationen. Auch familiäre Konflikte werden in die Schule getragen. Erfahrungen von Misserfolg und Enttäuschung, Gefühle wie Wut, Ängste oder Aggressionen beeinflussen und belasten oft den schulischen Alltag.
In den letzten Jahren entwickelten sich zunehmend auch ideologische und Glaubenskonflikte zwischen ethnischen Gruppen, die sich voneinander abgrenzen oder um Einflusssphären kämpfen (Maringer & Steinweg, 1997).
Viele Schulen sind bemüht, Konflikte zu bearbeiten und Eskalationen zu vermeiden. Nach Glasl (2011) unterscheidet man neun Eskalationsstufen von Konflikten:
Phase I
1. Verhärtung
2. Debatte, Polemik, Streit
3. Taten statt Worte (Kontaktabbruch)
In Phase I können schulinterne Moderatoren, z. B. Schüler als Streitschlichter, aber auch Lehrerinnen und Schulsozialpädagogen helfen, nach Konfliktlösungen zu suchen. Es besteht noch die Möglichkeit, dass beide Konfliktpartner Erfolge in der Mediation erzielen.
Phase II (Schwelle I)
4. Suche nach Koalitionen (soziale Ausweitung)
5. Gesichtsverlust, Demaskierung
6. Bedrohung und Erpressung
In Phase II ist eine Intervention durch Autoritäten, also durch Sozialpädagogen, Lehrer und Schulleitung, notwendig, um dem Konflikt Grenzen zu setzen. Eine externe Mediation, z. B. durch einen Schulpsychologen ist möglich. In Stufe 6 sollte bei schweren Fällen die Polizei einbezogen und eine Strafanzeige gestellt werden.
Phase III (Schwelle II)
7. Begrenzte Schläge (offene Angriffe und soziale Ausfälle)
8. Gezielte Angriffe und Zerstörung des Gegners
9. Gezielte Vernichtung und Selbstvernichtung (Totschlag, Mord, Krieg)
In Phase III sind nur noch Grenzsetzungen durch schulische Sanktionen, polizeiliche Maßnahmen und Strafanzeigen sinnvoll.
Für die Konfliktschlichtung und das Konfliktmanagement ist es wichtig, die Anatomie von Konflikten zu kennen (Kellner, 1999) und Sach- von Beziehungskonflikten zu unterscheiden. Das Eisbergmodell verdeutlicht, dass die emotionale Basis von Konflikten vordergründig nicht sichtbar ist und auch den Konfliktpartnern meist erst selbst sichtbar und bewusst gemacht werden muss. Die entscheidende Konfliktdynamik entsteht nicht durch den sichtbaren Sachkonflikt, sondern durch teilbewusste oder unbewusste Gefühle, Wünsche, Ängste und Unsicherheiten. Dies ist im Verhalten der Konfliktpartner aber nicht beobachtbar, sondern es liegt im Verborgenen (Besemer, 2009).
Konflikte gehören zum Alltag in der Familie, der Peergroup und der Schule. Sie können eskalieren und zu innerpsychischen oder sozialen Spannungen führen. Konflikte werden nur dann zu einer Belastung des einzelnen Schülers oder Lehrers oder zu einer Belastung des Klassen- und Schulklimas insgesamt, wenn keine Regeln und Strukturen zur Konfliktlösung bestehen. „Denn bei Konflikten ist nicht das Bestehen von Differenzen das eigentliche Problem, sondern die Art und Weise, wie mit ihnen umgegangen wird“ (Glasl, 1998, S. 181).
Im System...