Einleitung von DETMAR DOERING:1 Ein kämpferischer Intellektueller unter den Ökonomen
Hinterher ist man immer klüger. Dass der Sozialismus nicht funktionieren konnte, war nach 1989 jedem klar, der das wirtschaftliche, soziale, mentalitätsmäßige und ökologische Trümmerfeld besichtigen konnte, das er hinterließ. Aber wie war es vor der großen Wende? Zumindest unter den Intellektuellen war es auch im freien Westen fast so etwas wie eine unumstößliche Wahrheit, dass Sozialismus (wenngleich auch nicht ganz so wie er im „real existierenden“ Gewande im Sowjetimperium sich bot) tatsächlich funktionieren könne – und das mit „humanem Antlitz“ und wirtschaftlich erfolgreicher als der verschmähte Kapitalismus. Zu den Ausnahmeerscheinungen, die sich dieser Ansicht nicht beugten, gehörte an vorderster Stelle Ludwig von Mises. Seine Kritik unterschied sich von der vieler anderer sozialismuskritischer Autoren aber vor allem durch einen Punkt. Mises erging sich nicht in bloßer Ideologie oder in der Anprangerung terroristischer Exzesse kommunistischer Machthaber. Er wollte den Sozialismus widerlegen. Er wollte zeigen, dass die ökonomischen Denkfehler der sozialistischen Theoretiker zu gar nichts anderem führen konnten als zu Not und Gewalt. Dies ließ ihn zu den Großen seines Fachs und zu einem der maßgeblichsten Verteidiger einer liberalen Wirtschaftsordnung werden.
Ludwig Edler von Mises wurde 1881 in dem k.u.k.-Provinzstädtchen Lemberg (heute in der Ukraine) geboren. Er studierte in Wien zunächst Rechtswissenschaft, dann bis 1913 Ökonomie bei einem der berühmtesten Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, dem ehemaligen k.u.k. Finanzminister Eugen von Böhm-Bawerk. Schon ganz in der Tradition dieser Schule stand seine Habilitationsschrift Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel (1912). Der Weg zur akademischen Karriere schien vorgezeichnet. Doch es kam anders. Seine liberalen Ansichten und seine jüdische Abstammung waren ein Hindernis für sein Weiterkommen an der Universität. Wider Erwarten erlangte er in Wien keine Professur. Nach einer längeren Zeit als Referent bei der Wiener Handelskammer wurde er schließlich 1927 zusammen mit seinem Schüler Friedrich August von Hayek, dem späteren Wirtschaftsnobelpreisträger (1974), Leiter des Österreichischen Konjunkturforschungsinstituts. Nur nebenbei lehrte er noch auf einer unbezahlten Gastdozentenstelle an der Universität Ökonomie. Dort allerdings waren Studenten, die offiziell an seinen Vorlesungen teilnahmen, ständigen Repressalien seitens der „etablierten“ Professoren ausgesetzt. Wichtig wurde daher vor allem sein außerhalb der Universität betriebenes „Privatseminar“. Die Schüler, die sich hier um ihn scharten, sollten später fast allesamt zu den ganz Großen ihres Fachs gehören: Friedrich August von Hayek, Oskar Morgenstern, Gottfried Haberler, Fritz Machlup und viele andere.
1934 verließ er das von politischen Krisen erschütterte Österreich, um in der Schweiz zu lehren. Während seiner Zeit am Genfer Institut Universitaire des Hautes Études veröffentlichte er 1940 auch eines seiner wichtigsten Hauptwerke Die Nationalökonomie. Auch von Genf aus hielt er indes noch den Kontakt nach Wien, zu seinen dortigen Schülern und dem Konjunkturforschungsinstitut aufrecht. Dies endete abrupt, als 1938 die Nazis in das „angeschlossene“ Österreich einmarschierten. Seine dortige Wohnung wurde vom Mob geplündert und seine Büchersammlung verbrannt oder beschlagnahmt. In Europa fühlte er sich zunehmend bedroht. Deshalb verließ er 1940 auch die Schweiz, um mit seiner Frau in die USA zu fliehen. Die Reise durch Frankreich, das gerade von deutschen Truppen besetzt wurde, sollte dabei zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit werden.
In Amerika angekommen, setzte er sich voller Energie weiterhin schriftstellerisch für die liberale Sache ein. 1949 erschien sein umfangreichstes Werk Human Action – eine stark erweiterte englische Fassung seines Buches Die Nationalökonomie. Seinen methodologischen Ansatz weiter verfeinernd, entwickelte er darin systematisch die Ökonomie deduktiv aus handlungstheoretischen Prämissen (Praxeologie). Es handelt sich um einige der wenigen groß angelegten theoretischen Zusammenfassungen der Ökonomie des 20. Jahrhunderts, in dem die Wirtschaftswissenschaft als ein geschlossenes Gesamtgebäude sichtbar wurde.
Daneben gab es – anknüpfend an seine große Streitschrift Liberalismus von 1927 – einige „populärere“ Werke. 1956 erschien das Buch The Anti-Capitalist Mentality (Die Antikapitalistische Mentalität), das auf den Niedergang marktliberalen Denkens und seine Ursachen aufmerksam machte, oder die eher geistesgeschichtliche Abhandlung Omnipotent Government von 1944. 1957 veröffentlichte er das Werk Theory and History, das die sozialphilosophischen und methodologischen Grundlagen seiner Ansichten darlegte. Dies waren nur einige Beispiele seines überaus reichen Schaffens in den USA.
Der Umfang und die reiche Qualität seines dortigen Schaffens verhinderten allerdings nicht, dass Mises in Amerika zunächst ebenfalls einen schweren Stand hatte. Obwohl er von manchen Schülern überschwänglich als der größte Ökonom seiner Zeit gefeiert wurde, blieb ihm der Zugang zu einem Lehrstuhl auch hier zunächst verwehrt. Unter der Präsidentschaft von Franklin D. Roosevelt hatten auch die USA – wie die meisten europäischen Länder zuvor – begonnen, sich einer kollektivistischen Wirtschaftspolitik („New Deal“) zuzuwenden, die zwar noch demokratisch legitimiert und beschränkt war, aber deutliche Anleihen an sozialistischen und faschistischen Politikansätzen machte. Ein klassischer Liberaler wie Mises schwamm auch hier gegen den Strom. Das erste Jahr in Amerika mussten Mises und seine Frau in bitterer Armut von ihrem Ersparten leben. Ein kleines Stipendium der Rockefeller Foundation, das ihm Freunde vermittelten, half in den nächsten Jahren ein wenig aus der Misere. Erst 1945 bekam er immerhin eine Teilzeit-Gastprofessur in New York. Erst 1949 wurde sie schließlich zu einer von einer privaten Stiftung finanzierten Vollprofessur umgewandelt, die er bis 1969 innehatte. 87-jährig schied er als der älteste aktive Professor Amerikas aus seiner Lehrtätigkeit aus. Auch hier hinterließ er wieder viele begeisterte und talentierte Schüler – etwa Israel Kirzner und den Anarcho-Libertären Murray Rothbard. So sorgte Mises dafür, dass heute das Erbe der Österreichischen Schule in Amerika weitaus mehr gepflegt wird als in Österreich selbst. 1973 starb Mises in New York im Alter von 92 Jahren.
Man kann Mises’ Bedeutung für die Ökonomie und die Sache der Marktwirtschaft nicht verstehen, wenn man sich nicht mit seiner Widerlegung des Sozialismus befasst. Als er 1922 die „Unmöglichkeit des Sozialismus“ in seinem Buch Die Gemeinwirtschaft verkündete und in der Nationalökonomie noch vertiefte, gehörte ungläubiger Zweifel noch zu den positiven Reaktionen. Die Behauptung, jedes planwirtschaftliche System sei per se zum Scheitern verdammt, stieß in der Gelehrtenwelt auf einen Widerspruch, der zur heftigsten Debatte führte, die es in den 20er und 30er Jahren in den Wirtschaftswissenschaften zu führen gab. Seine Gegner von damals – etwa Oskar Lange und Abba Lerner – sind heute fast vergessen, aber damals waren sie die Vertreter des Mainstreams. Mises’ Denkansatz ist ein Muster an theoretischer Klarheit und Geschlossenheit. Das Bestreben, großen ökonomischen Problemen mit rein theoretischer (nichtempirischer) Analyse zu begegnen, hatte Mises von seinen Lehrmeistern der Österreichischen Schule der Nationalökonomie – etwa Carl Menger und Eugen von Böhm-Bawerk – übernommen. Ihr mikroökonomischer Theorieansatz, der methodologische Individualismus, durchzieht das ganze Werk. Wenn es heute ein wenig Mode geworden ist, die Neoklassik und ihre Gleichgewichtstheorien kritisch zu hinterfragen, um damit alle wirtschaftsliberale Theorie zu diskreditieren, so kommt Mises das Verdienst zu, diese Kritik vorweggenommen und zugleich andere Wege zur theoretischen Fundierung der Marktwirtschaft aufgezeigt zu haben. Die Annahme, es könne irgendwo ein Gleichgewichtspreis berechenbar sein, habe erst den Glauben an wirtschaftliche Planung ermöglicht. Die Fiktion des „Gleichgewichts“ sei ein realitätsfernes Theoriekonstrukt, das den eigentlichen Prozess, der zu Preisbildungen führe, ausblende. Dieser Prozess sei mikroökonomischer Natur, das heißt, das individuelle Handeln der Akteure sei das eigentlich Ausschlaggebende.
Praxeologie nennt Mises diesen handlungsorientierten Ansatz, der von ihm nicht als enge ökonomische Denkschablone, sondern als umfassende Sozialwissenschaft konzipiert ist. Menschen handelten demnach bewusst aus subjektiven Motiven...