1. »Wild« New World – die neuen Herausforderungen
Das heutige Marktumfeld stellt Unternehmen vor gänzlich neue Herausforderungen. Selten war die Umgebung, in der Unternehmen sich behaupten müssen, so schwierig wie heute. Organisationen, die vor zwei Jahren noch Marktführer waren, kämpfen inzwischen um ihre Existenz. Firmen, die vor wenigen Jahren noch unbekannte Marktpioniere waren, haben in kürzester Zeit die Vorreiterrolle übernommen. Die globalen Märkte schufen neue Absatzchancen, aber auch komplett neue Konkurrenzsituationen. Noch nie standen uns derart viele Informationen in Echtzeit zur Verfügung, und dennoch scheitern 70 bis 80 Prozent der Produkteinführungen binnen der ersten zwölf Monate.1
Zugleich erleben wir eine radikale Verkürzung der Produktlebenszyklen. Ein Handy, heute auf den Markt geworfen, ist schon in wenigen Monaten Schnee von gestern. Während der Produktlebenszyklus eines Automodells in den Siebzigerjahren noch bei sechs bis sieben Jahren lag, gilt es heute bereits nach zwei Jahren als veraltet und benötigt das erste Update. Selbst diese kurzen Produktlebenszyklen sind eigentlich noch zu lang. Märkte und Kundenbedürfnisse verändern sich schneller, als man darauf reagieren kann. Keiner weiß, ob die Wirtschaft vor einer der größten Boomphasen oder vor dem totalen Abgrund steht. Sehnsüchtig hofft man auf das Ende ständiger Veränderungen und Umbrüche, auf das Ende der Krisen und das baldige Eintreten der gewohnten Beständigkeit und Planbarkeit.
Doch wir hoffen vergebens, denn was wir derzeit erleben, ist keine Übergangsphase. Wir sind in eine neue Ära eingetreten, und was wir heute als Krise empfinden, werden wir in zehn Jahren als Normalzustand ansehen. Das Zeitalter der Beständigkeit und der Planbarkeit ist vorbei, und wer auch in Zukunft erfolgreich sein will, muss den Tatsachen ins Auge sehen und sich für das Zeitalter beständiger Veränderung rüsten, in dem das Unvorhersehbare die Regel wird.
Das Ende der Planbarkeit
Wenn die vergangenen Jahrzehnte im Rückblick ruhiger und gemächlicher wirken, so liegt das nicht daran, dass der Blick durch die Nostalgiebrille alles positiver erscheinen lässt, als es war. Wir sind tatsächlich Zeitzeugen eines dramatischen Umbruchs, der die Art, wie wir arbeiten und wie Unternehmen operieren und somit auch die Faktoren, die zum Erfolg führen, nachhaltig verändert hat und weiterhin verändert. Wir haben das industrielle Zeitalter längst hinter uns gelassen und sind in eine neue Ära eingetreten.
Es ist weder das Informations- noch das Kommunikationszeitalter angebrochen, wie gerne behauptet wird. Denn Begriffe wie Information und Kommunikation beschreiben nicht ausreichend, worauf es heute ankommt. Wir befinden uns im Zeitalter der Vernetzung. Die hochgradige Vernetzung unserer Welt ist es, die unseren Alltag und die Märkte prägt. Sie betrifft alle Aspekte von der Produktion über den Vertrieb bis hin zu Liefersystemen und Marketing.
Wenn über die Erfolgsgeschichten des Internets geschrieben wird, werden gerne Facebook, Amazon oder Google als Paradebeispiele gefeiert. Dabei sind die eigentlichen Erfolgsgeschichten weder das Internet noch dessen prominenteste Akteure. Das Internet ist nur ein Aspekt der hochgradigen Vernetzung. Niedrige Logistikkosten, neue Verkehrswege, die uns in die entlegensten Regionen der Welt bringen, radikal gesunkene Markteintrittsbarrieren, Handelsabkommen – all dies trägt zur Vernetzung der Welt bei. Die wirkliche Revolution findet nicht nur im Internet statt, sondern hat längst den Mittelstand und sogar die kleinsten Unternehmen erfasst. Der hohe Vernetzungsgrad bietet jedem kleinen Unternehmen enorme Chancen, in rasanter Geschwindigkeit global in den Markt zu treten. Zugleich breiten sich Krisen, die in einer entfernten Region der Welt auftreten, binnen kürzester Zeit aus und betreffen schnell Unternehmen auf aller Welt. Die hochgradige Vernetzung ist der Grund, warum ehemalige Spitzenunternehmen plötzlich am Abgrund stehen und vormalige Nischenanbieter plötzlich dominieren.
Die Frage der Neunzigerjahre, ob wir eine Dienstleistungs- oder eine Produktionsgesellschaft werden sollten, hat sich insofern erledigt, als wir in erster Linie eine vernetzte Gesellschaft geworden sind und diese Vernetzung vorantreiben müssen. Nicht nur in der Infrastruktur, sondern auch im Denken und Handeln. Der Erfolg des deutschen Mittelstands mit seinen von der Politik oft vernachlässigten Hidden Champions hat eine Renaissance erfahren, die nicht allein auf Tüftlereigenschaften und der guten deutschen Ingenieurtugend fußt. Die konsequente Nutzung von Vernetzungen macht es mittelständischen Unternehmen möglich, Produktionen sinnvoll auszulagern, neue Märkte zu erschließen und global zu agieren. Das ist jedoch keine Einbahnstraße, denn genau jene Möglichkeiten, die ein globales Agieren möglich machen, können zugleich das Einfallstor für ungeahnte Gefahren sein.
Unabhängig davon, ob man international oder national am deutschen Markt agiert: Die konsequente Vernetzung der Welt bietet Chancen und beschleunigt andererseits Veränderungen in nie zuvor gekannter Weise. Die Karten werden ständig neu gemischt, und wer heute zu den Gewinnern gehört, kann schon morgen ein Verlierer sein. Der eingangs erwähnte Flügelschlag eines Schmetterlings, der laut Chaostheorie einen Sturm auslösen kann, ist heute in der Wirtschaft zum Alltag geworden. Das Eintreten des Unvorhersehbaren wird zur Normalität. Da jedes Ereignis durch die hohe Vernetzung seine Auswirkung mit enormer Wucht in kürzester Zeit entfalten kann, wird das Planbare und Vorhersehbare die Ausnahme sein.
Der Statistiker und Finanzmathematiker Nassim Taleb prägte hierfür in seinem gleichnamigen Bestseller den Begriff des schwarzen Schwans. Er greift dabei auf eine prägnante Analogie zurück: Jahrhundertelang ging man in der westlichen Welt davon aus, dass Schwäne weiß seien, eben weil alle Schwäne, die man bis dahin gesehen hatte, weiß waren. Dann entdeckte man jedoch Australien und fand dort schwarze Schwäne vor – ein Ereignis, das völlig unvorhersehbar war.
Genau jene schwarzen Schwäne sind im heutigen Marktumfeld zur Regel geworden, nur dass die Schwäne in allen möglichen Farbnuancen auftauchen, denn sonst wären sie ja wiederum vorhersehbar. Wenn Unternehmen nun unter Druck geraten oder ums Überleben kämpfen, so ist dies weniger Ursache der Krise als Symptom eines viel grundlegenderen Problems. In einem Sturm havarieren meist die Schiffe, die ohnehin kaum noch seetauglich waren. Unternehmen werden nicht wegen plötzlicher, unvorhersehbarer Veränderungen untergehen, sondern weil sie intern auf solche Szenarien nicht vorbereitet sind. Denn allein dass wir vorhersagen können, dass nichts mehr vorhersagbar ist, ist eine Basis zum Handeln. Das Unternehmen der Zukunft muss auf das Unvorhersehbare vorbereitet sein, und genau darin liegt die Herausforderung. Um in Zukunft erfolgreich zu sein und in der permanenten Krise bestehen zu können, benötigen Unternehmen andere Eigenschaften als jene, die bisher gepflegt wurden.
Grenzen der Managementstrategien
Das Zeitalter der Vernetzung zeigt die Grenzen gängiger Managementstrategien auf. Denn die permanenten Veränderungen des Marktumfelds und der Unternehmensanforderungen führen zu einer komplett anderen Gültigkeit von Strategien. Jede Strategie ist in dem Moment, da sie erdacht wird, bereits veraltet, weil sie auf Annahmen beruht, die der Vergangenheit angehören.
Eine Strategie ist nicht mehr als ein gut gemeinter Plan, der auf Annahmen beruht, denen Zustände der Vergangenheit zugrunde liegen.
Wenn man von einer Stadt in eine andere fährt, nimmt man sich ein Navigationsgerät und gibt den Zielort ein. Eine Route wird berechnet. Das ist die Strategie. Aber schon nach wenigen Kilometern beginnt das Computerprogramm zu optimieren. Ein hohes Verkehrsaufkommen wird registriert, Staumeldungen werden verarbeitet und die Route entsprechend angepasst. Es ist eine Frage der Zeit, bis Navigationsprogramme zusätzlich Wetterbedingungen wie Gewitter, Hagel und Nebel standardmäßig in Echtzeit in die Routenoptimierung einbeziehen. Am Anfang stand die Strategie, die ursprünglich geplante Fahrtroute, doch die schnelle intuitive Anpassung der Routenplanung während der Fahrt ist das, was optimal zum Ziel führt. Während wir früher noch mit Straßenkarten fuhren und Verkehrsmeldungen allenfalls im Radio hörten – und dies meist, wenn wir bereits im Stau standen –, wird jetzt jede Fahrt kontinuierlich optimiert.
Heute können Unternehmen es sich gar nicht mehr leisten, sich auf eine Strategie, also eine Straßenkarte zu verlassen, die sie am Anfang der Reise angeschaut haben. So faszinierend neue Technologien auch sind, die schnelle Anpassung an neue Gegebenheiten kann ein Computer nur bedingt bewältigen. Jedes noch so gute Computersystem kann nur das optimieren, was vorgegeben wurde. Ein Navigationssystem kann nur innerhalb des programmierten Straßennetzes optimieren. Wenn nun plötzlich die Bedingungen verrückt spielen und binnen Minuten Straßen nicht mehr existieren oder neue Straßen auftauchen, ist jeder Navigationscomputer am Ende seiner Möglichkeiten. Genau in dieser Situation befinden sich Führungskräfte mit gängigen Managementtheorien und mühsam erarbeiteten Unternehmensstrategien, und hieraus erwächst ein grundlegendes Dilemma.
Das Dilemma des Managements
Seit dem Beginn der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Entstehen komplexer Unternehmungen mit einem hohen Maß an...