A. Max Wirth:
Die Hebung der arbeitenden
Klassen durch Genossenschaften und Volksbanken
I. Einleitung
Die Geschäftskrisis, welche in Folge des nordamerikanischen Bürgerkriegs seit einigen Jahren die europäischen Industrieländer heimgesucht hat, macht sich in der Schweiz, die unter ihnen in der Ausfuhr relativ den zweiten Rang einnimmt, in so hohem Grade fühlbar, dass der Rückschlag feine Wellen bis in die ländlichen Distrikte, und namentlich des vorzugsweise ackerbautreibenden Kantons Bern erstreckt. Es wird vielfach über ein Missbehagen unter dem Landvolk berichtet, das sich in der Klage über Geldklemme, Kreditmangel und hohem Zinsfuß Luft macht. Ist es schon an und für sich die Pflicht der Staatsmänner und Volkswirte, ein achtsames Ohr zu haben für die Leiden des Volkes, so ist es umso mehr geboten, das Übel zu sondieren und nach den Mitteln zur Abhilfe zu forschen, wenn die Unzufriedenheit schon so groß geworden ist, dass das Volk nach jedem Strohhalm greift, der ihm als Hilfe geboten wird, ohne zu untersuchen, ob er auch stark genug sei, um sich daran aufzurichten, oder ob es auf denselben sich stützend ganz zusammenbreche. Lässt man der althergebrachten Gewohnheit, nach dem Schein zu urteilen, auch in volkswirtschaftlichen Dingen Lauf, so kommt man gar leicht in die Gefahr, über die Ursachen eines Übels sich zu täuschen und Missgriffe zu begehen; denn ohne richtige Diagnose ist die Wahl des Heilmittels dem Zufall preisgegeben. Heutzutage weiß Jedermann, dass nicht Sonne, Mond und Sterne in 24 Stunden sich um die Erde drehen, sondern dass diese nur Schein ist, weil die Erde sich dreht. Dennoch hat die Menschheit Jahrtausende lang an die erstere Annahme geglaubt; dennoch stoßen wir in anderen Fächern fast jeden Tag auf gleiche Vorurteile, die oft nachteiliger wirken, als der naive Glaube an den alltäglichen Sonnen- und Sternentanz. So taucht in der gegenwärtigen Krisis vielfach der Glaube an Universalheilmittel auf, wie Glatzköpfe auf Eau de Lob und Hypochonder auf Pillen schwören, die vom König Humbug allerorten als Mittel gegen Hühneraugen und Schwindsucht u. s. w. angepriesen werden. Eines dieser Allerheilmittel ist die Staatshilfe und die Vormundschaft über einen Teil des Volkes, den man für die volle Freiheit nicht reif hält, als ob es möglich wäre, schwimmen zu lernen ohne ins Wasser zu gehen.
Als jüngst eine dieser Glaubensrichtungen mit einem förmlichen Programm hervortrat, welches bei jener Stimmung im Lande vielfach Beachtung fand und daher vollkommen geeignet war, durch Verbreitung irriger Vorstellungen über den naturgemäßen Verlauf der Volkswirtschaft, großes Unheil zu stiften, ward ich von der Redaktion des »Bund« aufgefordert, ein wissenschaftliches Gutachten über dieses Programm abzugeben, welches in einer Reihe von Aufsätzen unter dem Titel »Volkswirtschaftliche Glossen« erschien.
Nun würde ich die Anonymität nicht verlassen haben, weil ich überhaupt, zu kurze Zeit im Lande, unaufgefordert mich an der Streitfrage nicht beteiligt hätte, wäre nicht von verschiedenen Seiten die Aufforderung an die Redaktion des »Bund« und mich selbst ergangen, die »Glossen« in einem Separatabdruck erscheinen zu lassen, und wäre ich nicht selbst bereits häufig aus verschiedenen Bezirken aufgefordert worden, Material und Ratschläge wegen Gründung von Volksbanken zu geben. Indem ich also in den nachfolgenden Blättern den ausgesprochenen Wünschen nachkomme, leiste ich nicht sowohl der Sache, als mir selbst einen Dienst, indem ich meine Antwort, statt sie jedes Mail besonders zu schreiben, typografieren lassen.
Ich füge der Schrift einen Statutenentwurf für eine Volksbank bei.
II. Diagnose
Man klagt über Geldklemme oder Kapitalmangel, über die Höhe des Zinsfußes und über Schwierigkeit des Kredits.
Als Ursache betrachtet man die Banken, man klagt, dass sie fremdes Geld ins Land gebracht hätten, man verlangt strengere Handhabung des Wuchergesetzes, die Ausschließung des Landvolkes von der allgemeinen Wechselfähigkeit u. s. w.
Man vergisst aber, dass dies Widersprüche in sich selbst sind, wovon einer den andern aufhebt.
Wenn die Banken fremdes Geld ins Land gebracht, so haben sie den Vorrat und nicht die Geldklemme vermehrt, sie haben aus diesem Grund dann nicht zu dem Steigen des Zinsfußes beigetragen, sondern vielmehr verhindert, dass er nicht höher stieg. Die strengere Handhabung des Wuchergesetzes erhöht den Zinsfuß.
Die Ausschließung von der allgemeinen Wechselfähigkeit vermindert den Kredit des Landvolkes.
Wir werden diese Sätze im Verlauf dieser Schrift beweisen.
Um zu wissen, wie man ein Bedürfnis befriedigen soll, muss man das Bedürfnis erst kennen.
Das Geldbedürfnis des Landvolkes ist ein durchaus verschiedenes in Beziehung auf Umfang und Zeit. Vermengt man alles in eines, dann kann man natürlich kein klares Mittel zur Abhilfe angeben.
Wenn also geklagt wird, dass das Landvolk an Geldklemme und hohem Zinsfuß leide, so muss man, ehe man es unternimmt, ein Hilfsmittel angeben, erst unterscheiden zwischen langem und kurzem Kredit – mit einem Wort zwischen Hypothekar- und Personal-Kredit.
Diejenigen Landwirte, welche ihre Höfe schuldenfrei haben, gehören fast in ganz Europa zu den Ausnahmen. Die meisten haben Hypothekenkapitalien darauf stehen; welche Schulden nur unter günstigen Umständen und allmählich zurückbezahlt oder getilgt werden können. Das Interesse der Landwirte besteht in dieser Hinsicht darin, dass sie ihre Hypothekenkapitalien zu möglichst niedrigen Zinsen in möglichst langen Kündigungsfristen erhalten, um im Fall der Kündigung sich nach einem andern Gläubiger umsehen, und im andern Falle die Schuld allmählich durch Ersparnisse abtragen können.
In früheren Zeiten war die Aufnahme eines Hypothekenkapitals überall auf dem Kontinent mit Mühe, Zeitverlust und Kosten verknüpft. Am leichtesten ging es, wenn man bei Stiftungen und Vermögensverwaltungen zur toten Hand ankommen konnte; wo diese nichts mehr zu vergeben hatten, musste das Bäuerlein oft bei Kapitalisten herum katzbuckeln und sich von Agenten und Maklern aussaugen lassen. Fünf Prozent Zinsen und 1, oft auch 2 % Maklerlohn war die billigste Art auf einen Pfandbrief Kapital zu erlangen. Traf dann den Landwirt ein Unglück: Hagelschlag, Missernte, Viehseuche, Krankheit, Handelskrisen – und das Kapital wurde gekündigt, so kam es oft, dass ihm Haus und Hof in Zwang versteigert und nicht mehr als das Hypothekenkapital gelöst wurde, wenn der Verkauf gerade in eine schlechte Zeit fiel.
Diese Übelstande abzuhelfen wurden die Hypothekenbanken geschaffen, ursprünglich eine Erfindung des »alten Fritz«.
Die Hypothekenbanken, deren Einrichtung wir unten näher erörtern werden, gewähren dem Grundbesitzer den Vorteil, dass er
- um das Hypothekenkapital nicht zu betteln braucht,
- dasselbe unkündbar erhält,
- es in bequemen Jahresfristen zurückzahlen kann,
- einen geringen Zins, als früher dem Privatkapitalisten, d. h. nur ca. 4½ % zahlt,
- mit einem Zuschlag von ½ – 1½ %, d. h. mit der jährlichen Zinszahlung von im Ganzen 5 % – 6 %, die er früher dem Kapitalisten abzutragen hatte, zugleich in einer Reihe von Jahren sein Gut schuldenfrei erhält, wobei größere Tilgungszahlungen nicht ausgeschlossen sind.
Der Landwirt wird wahrhaft emanzipiert, ein freier Mann, der wohlgemut der Zukunft entgegensehen kann.
Überall, wo Hypothekenbanken bestehen, hat die Lage des Landvolkes sich außerordentlich verbessert. Indessen muss dabei bemerkt werden, dass Staatsanstalten nirgends so ausreichende Dienste geleistet haben als Privathypothekenbanken.
Ein jeder bekommt da Kapital auf eine meist geringere Pfandhaftung als früher, unkündbar, wenn er nicht ein notorisch schlechter Wirtschafter ist, der sein Grundstück zu Grunde richtet, und wenn er seinen Zins regelmäßig zahlt, wobei indessen in außerordentlichen Fällen billige Verlängerungsfristen nicht ausgeschlossen sind.
Die Kapitalisten, welche der Hypothekenbank ihre Gelder anvertrauen, sehen besonders darauf, dass sie sichergestellt sind und regelmäßigen Zinsenbezug haben. Sie geben ihre Kapitalien der Bank lieber zu 4 % als dem Privaten zu 5 %. Deshalb kann beim Hypothekarkredit von einer Steigerung des Zinsfußes nicht die Rede sein. Es kann bloß darüber geklagt werden, dass die Staatshypothekenbank (von Bern) nicht alle Anforderungen befriedigen kann. Daran ist das Institut der Hypothekenbank nicht schuld. Man überlasse diesen Zweig der Privattätigkeit. Wenn das Bedürfnis groß genug ist, werden sich die Kräfte zu einer neuen Hypothekenbank leicht finden. Auch würden sich auswärtige Banken zur Hilfe herbeilassen, wenn ihnen von Seite von Korporationen entgegengekommen wird. Es kann beim Hypothekarkreditbedürfnis also nicht über Höhe des Zinssatzes, sondern allenfalls nur über Kapitalmangel geklagt werden.
Wir kommen zum Personalkredit.
Außer dem Bedürfnis nach Hypothekenkapitalien braucht der Landwirt zuweilen zwischen Saat und Verlauf der Ernte kleine Vorschüsse, welche er mit dem Erlös seiner Produkte zurückzahlt. Solche Vorschüsse aber dürfen, bei ordnungsmäßiger Wirtschaft, nie auf längere Zeit als ein Viertel- bis ein halbes Jahr in Anspruch genommen werden. Solcher kurzer Kredit ist aber naturgemäß dem laufenden Zins- oder Diskontosatz des beweglichen Kapitals unterworfen, der oft höher, oft dagegen aber auch niedriger ist als der Zinssatz der Hypothekenkapitalien.
Will man nun dem Landmann die...