KAPITEL 1
Das erste Mal
Ein Mittwochvormittag im Jahr 2006. Mein Handy klingelt. Schon am Klingelton höre ich: Es ist das KIT.
»Hallo, Olav, wir haben einen Einsatz. Ist was Größeres!«
Mein Herz schlug schon schneller, als das Handy läutete. Nun pocht es heftig. Mein erster Einsatz und gleich etwas Größeres?
Die Kollegin spricht weiter: »Ein kleines Mädchen ist in der Schule zusammengebrochen, mitten im Unterricht. Alle Kinder sind geschockt, die ganze Schule ist in Aufruhr. «
»Ist die Kleine denn tot?«, frage ich mit unsicherer Stimme.
»Wir wissen noch nichts Genaues. Aber nun mach mal. Wir müssen! Hol mich ab! Fix!«
Ich versuche, mich blitzschnell startbereit zu machen. Während ich die Rotkreuzjacke anziehe, verheddere ich mich in den Ärmeln. Noch mal ausziehen. Zweiter Anlauf. Endlich klappt’s. Dann: Wo ist meine Brieftasche? Und der Autoschlüssel? Linke Jackentasche? Nein. Rechte? Auch nicht. Doch links? – Er liegt auf dem Schreibtisch.
Meine Hände zittern. Mit dem roten Betreuungsrucksack auf den Schultern renne ich die Treppe hinunter. Eigentlich war ich schon seit gestern Abend nervöser als sonst, denn um 19.00 Uhr hatte mein erster Bereitschaftsdienst begonnen. Was mich wohl erwarten würde? Ob überhaupt ein Einsatz käme? Und wenn: Würde ich damit zurechtkommen? Nun ist es so weit.
Jetzt aber los!
Mist, der Rotkreuzwagen parkt weit entfernt. Parkplätze sind in meinem Stadtteil Mangelware. KIT-Kollegin Silke wartet bestimmt schon. Endlich bin ich am Wagen. Mir fällt der Autoschlüssel runter. Ich bücke mich, der Rucksack rutscht von der Schulter. Ich fluche.
Als ich den Wagen starte, schlottern meine Knie. Eigentlich dürfte ich in diesem Zustand gar nicht fahren. Auf dem Weg zu meiner Kollegin geht mein Puls etwas nach unten. Gott sei Dank ist Silke schon sehr erfahren. Das wird schon, das wird schon. Silke lässt mich bestimmt nicht hängen.
Sie steht bereits am Straßenrand, steigt schnell ein und versorgt mich mit knappen Informationen.
»Wir müssen nach Wandsbek. Die Polizei wartet auf uns und wird uns einweisen. Ich habe noch zwei KIT-Kolleginnen zur Verstärkung alarmiert.«
»Was ist denn nun mit dem Mädchen?«, frage ich. Aus der Ausbildung weiß ich, dass das KIT meist bei Todesfällen alarmiert wird. Silke schaut auf ihre Notizen. Die Kleine heißt Malia, ist acht Jahre alt. Die Familie kommt aus Nigeria. Rettungsdienst und Notarzt waren da und haben das Kind mitgenommen.
Vor der Schule stehen mehrere Polizeiwagen. Die Auffahrt ist mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Als wir vorfahren, hebt eine Polizistin das Absperrband an und lässt uns durch.
Ein Beamter erklärt uns, dass Malia nach jetzigem Ermittlungsstand kurz vor Beginn der Schulstunde kollabiert ist. Die Lehrerin war noch nicht im Raum, aber alle Mitschüler haben den Zusammenbruch miterlebt. Ein Schüler behaupte voller Scham, er sei schuld. Es müsse also geklärt werden, ob Fremdverschulden vorliege. Bei Kindern und Lehrern herrscht große Sorge und helle Aufregung.
Wir werden zum Grundschultrakt geführt. Auf dem Schulhof wimmelt es von Kindern. »Ist Malia tot?«, fragt uns ein kleiner Junge. »Die ist bestimmt im Himmel«, sagt ein Mädchen mit Pferdeschwanz.
»Wir müssen erst rauskriegen, was mit Malia passiert ist«, antwortet Silke. »Wenn wir wissen, wie es ihr geht, bekommt ihr alle Bescheid.«
Vor dem Grundschulgebäude warten schon unsere beiden Kolleginnen Ruth und Karin. Silke teilt uns auf: Eine KIT-Kollegin begleitet die Polizisten zu dem Jungen, der sich für das Drama verantwortlich fühlt, und wird später den Schulleiter beraten. Silke, Ruth und ich gehen gemeinsam in die Klasse des betroffenen Mädchens. Wir werden gleich umringt und mit Fragen überschüttet. Die Lehrerin sorgt für Ruhe. Silke vereinbart mit der Lehrerin eine Gesprächsrunde mit allen Kindern, um festzustellen, welche Kinder besonders belastet sind und wie wir am besten helfen können.
Meine Aufgabe ist es, in Erfahrung zu bringen, wie es Malia geht. Ich werde in die Kinderklinik fahren. Auf dem Weg zum Wagen wird mir klar, dass ich nun auf mich allein gestellt bin. Welche Nachricht wird mich dort erwarten?
Auch wenn mich die Frage nach dem Zustand des Kindes beunruhigt, so merke ich auf der Fahrt doch, dass ich nicht mehr so nervös bin wie vorhin. Ich habe eine klare Aufgabe. Als ich die Notaufnahme des Kinderkrankenhauses betrete und nach Malia frage, klopft aber doch mein Herz.
Ich werde gebeten, in der Wartezone Platz zu nehmen. Doch zum Sitzen bin ich zu unruhig, ich gehe stattdessen auf und ab.
Ein Arzt im weißen Kittel erscheint. Auf der Brusttasche mit dem Stethoskop lese ich »Dr. Mühlhaupt«. Er begrüßt mich mit Handschlag. Ich denke: Jetzt bitte keine schlechten Nachrichten!
»Malia geht es den Umständen entsprechend gut. Sie hatte einen Krampfanfall. Wir werden die kleine Dame noch in Ruhe untersuchen und dann entscheiden, wann sie wieder nach Hause kann.«
»Ein Junge hat sie geschubst. Kann das den Anfall ausgelöst haben?«
»Nein, da besteht ganz sicher kein Zusammenhang.«
»Danke, dann informiere ich gleich die Schule. Das wird alle beruhigen.«
Der Arzt nickt. »Wenn noch etwas ist: Sie finden mich auf der Station.«
Ich rufe sofort Silke an. »Prima!«, reagiert sie erleichtert, »das gebe ich gleich weiter an alle. Und Fabian, der Schubser, ist auch entlastet. Das ist gut.«
»Soll ich wieder zurück in die Schule kommen?«, frage ich.
»Nein, bleib bitte noch in der Klinik. Der Vater von Malia müsste demnächst dort eintreffen. Den kannst du vielleicht beruhigen.«
Also setze ich mich zum Warten auf eine blaue Metallbank.
Knapp zehn Minuten später trifft Malias Vater ein, sichtlich aufgeregt. Ich gehe sofort auf ihn zu. Ob ich jetzt mein Schulenglisch aktivieren muss?
»Was ist mit meiner Tochter?«, fragt er in perfektem Deutsch.
»Es geht ihr gut. Sie hatte einen Krampfanfall.«
Ich erzähle ihm, was in der Schule vorgefallen ist.
»Dann nehme ich Malia jetzt mit«, sagt Herr Anyoha.
»Das ist zu früh. Es müssen noch einige Untersuchungen durchgeführt werden.«
»Nein, das ist nicht nötig.«
»Doch, der Arzt sagte vorhin …«
Herr Anyoha schüttelt entschieden den Kopf: »Nein, Malia soll jetzt nach Hause.«
Ich bin verwirrt. »Ich hole wohl besser mal den Arzt«, schlage ich vor.
Herr Anyoha ist einverstanden.
Auf der Station erfahre ich, dass Dr. Mühlhaupt gerade im OP ist. Wir müssen warten. Während der Wartezeit unterhalte ich mich mit Herrn Anyoha. Er ist Physiker und lebt mit seiner Frau und seiner Tochter seit acht Jahren in Deutschland. Und dann erklärt er mir, warum er mit Malia sofort nach Hause möchte.
»Ihre Mediziner können meiner Tochter nicht helfen. Wissen Sie: Es gibt in Afrika eine Familie, die uns feindlich gesonnen ist. Seit mehreren Generationen. Immer wieder werden Flüche gegen uns ausgesprochen. Jetzt wurde Malia verhext. Deshalb ist sie in der Schule umgefallen.«
Ich bin baff. Ein Physiker, der an Zauberei glaubt?
Herr Anyoha bemerkt meine erstaunte Miene.
»Sie glauben nicht an Hexerei, oder?«, fragt er mich.
»Eher nicht«, sage ich vorsichtig.
»Ich bin zwar Naturwissenschaftler, aber auch die Wissenschaft durchdringt längst nicht alles, was es auf der Welt an Wundern und Rätseln gibt. Vielleicht sind wir in Afrika einigen Kräften noch näher als Sie hier in Europa. Jedenfalls braucht meine Tochter keinen Arzt. Können Sie bitte noch mal nach dem Doktor schauen und sagen, dass ich meine Tochter jetzt mitnehmen möchte?«
Ich nicke und gehe durch die Glastür in Richtung Station. Dr. Mühlhaupt kommt mir entgegen und sagt mir, dass der Vater nun zu seiner Tochter könne.
Ich kläre ihn kurz auf, dass Malias Vater keine weiteren Untersuchungen möchte und behaupte, seine Tochter sei verhext.
Der Arzt ist sichtlich irritiert.
»… und er hält deshalb nichts von medizinischen Maßnahmen«, fahre ich fort. »Ist es denn sinnvoll, wenn er die Kleine jetzt mitnimmt?«
»Aus ärztlicher Sicht nicht. Wir sollten sie schon gründlich untersuchen, um ihre Disposition zu Krampfanfällen hinreichend zu klären und den Eltern therapeutische oder prophylaktische Maßnahmen empfehlen zu können. Zwei, drei Tage sollte sie bei uns bleiben.«
»Und wenn er Malia trotzdem mitnimmt?«
»Dann trägt der Vater die Verantwortung. Das muss selbstverständlich auch schriftlich dokumentiert werden.«
Ich gehe zurück zu Herrn Anyoha. Gern würde ich ihn davon überzeugen, Malia noch im Krankenhaus zu lassen. Ich will mich aber auch nicht besserwisserisch über seine Sichtweise erheben …
»Sie haben vorhin selbst gesagt, dass es in Europa nicht so viele Fachleute für Zauberei gibt. Auch ich bin da ganz unerfahren. Aber ich will mir nicht anmaßen zu behaupten, dass es das nicht gibt. Dennoch möchte ich Sie bitten, Ihre Tochter noch ein paar Tage hierzulassen. Die Ärzte werden Ihrer Tochter sicher nicht schaden. Sie können Ihr Kind sogar gesundheitlich stärken. Vielleicht kann sie dadurch der Wirkung von Flüchen mehr entgegenstellen? Dann müssten Sie sich zukünftig weniger Sorgen um Malia machen. Und Malias Schulfreunde wären auch beruhigter, wenn sie hörten, dass sie hier gepflegt wird.«
Herr Anyoha ist skeptisch, und ich suche weiter nach guten...