Prolog
Der Lauf der Dinge
Die Schweiz ist ein Binnenland. Ohne Zugang zum Meer, umschlossen von den Alpen, ähnelt ihre geographische Lage bekanntermaßen der einer Insel: Zwischen der Schweiz und ihren Nachbarstaaten existieren Hürden. Dennoch ist das Land auch ein Knotenpunkt im Zentrum eines Kontinents. Vielleicht erklären diese einfachen Fakten zum Teil die Zahl der Kuratoren, die von dort stammen. Die Schweiz ist einerseits eine polyglotte Kultur, welche die Sprachen dreier sie umgebender Länder spricht, andererseits ist sie aber auch ein ganz eigener Raum, der neue Einflüsse nicht ohne einen Selektionsprozess zulässt. Dies ist eine grundlegende Parallele zur Tätigkeit des Kuratierens, dessen wesentliche Eigenschaft schlichtweg darin besteht, Kulturen miteinander zu verbinden und ihre Elemente einander anzunähern – die Aufgabe des Kuratierens ist es, Verbindungen zu schaffen, dafür zu sorgen, dass verschiedene Elemente miteinander in Berührung kommen, selbst wenn es bisweilen schwierig ist, die Wirkung solcher Gegenüberstellungen exakt nachzuzeichnen. Man könnte das Kuratieren als den Versuch einer Art kulturellen Befruchtung oder als eine Form der Kartographie bezeichnen, die neue Wege durch eine Stadt, eine Kultur oder eine Welt eröffnet.
Bei seiner Ausreise aus der Schweiz 1970 hinterließ der Schriftsteller Paul Nizon zum Abschied eine buchlange Kritik dessen, was er als den «Diskurs in der Enge» bezeichnete: Er kritisierte den Konservatismus der Schweiz, ihre fehlende Beweglichkeit, den Mangel an metropolitaner bricolage oder Durchmischung. Nizon beklagte die gefährliche Selbstgenügsamkeit des Landes. In der Schweiz, so Nizon, sei die Schönheit den Reichen vorbehalten und Luxus werde versteckt hinter falscher Bescheidenheit. Dies war sein Porträt des Landes, in dem ich 1968 geboren wurde. Man könnte es aber auch so sehen, dass diese Bedingungen zugleich den Impuls zu ihrer eigenen Überwindung hervorbringen, wie es auch im Falle Nizons geschah. Ressourcen entstehen sehr oft durch Beschränkungen, und unbefriedigende Bedingungen regen dazu an, neue Perspektiven zu suchen. Wie Nizon verließ ich schließlich das Land, um meinen Sinn für die Welt zu weiten. Und doch, wenn ich auf meine Anfangsjahre in der Schweiz zurückblicke, dann stelle ich fest, dass sich all die Interessen, Themen und Leidenschaften, die meine gesamte Karriere bestimmt haben, schon sehr früh durch eine Reihe von Begegnungen mit Orten und Menschen entwickelten: Museen, Bibliotheken, Ausstellungen, Kuratoren, Dichtern, Dramatikern und, allen voran, Künstlern.
1985, als ich sechzehn Jahre alt war, sah ich in der Kunsthalle Basel eine Ausstellung von Peter Fischli und David Weiss, die mich tief beeindruckte. Einige Wochen später stieß ich durch Zufall auf das Exemplar eines Buches eben jener beiden Künstler mit dem Titel Plötzlich diese Übersicht. Es enthielt Bilder einer Serie handmodellierter, ungebrannter Tonskulpturen, die eine Reihe höchst vielfältiger und oftmals trocken-witziger Vignetten bildeten: Eine Tonmaus und ein Tonelefant von gleicher Größe waren als Groß und Klein bezeichnet, zwei verlorene Gestalten in Mänteln hießen Strangers in the Night Exchanging Glances, ein japanischer Steingarten wurde auf lustige Weise in drei Klumpen verwandelt. Die Werke zeigten sowohl die verheißungsvollen als auch die zutiefst unglückseligen Momente der Menschheitsgeschichte auf die gleiche respektlose Weise. In ihnen manifestierte sich ein Impuls, menschliche Szenarien zu erkunden, zu kartographieren und zu sammeln, und zwar in einer Mischung aus großem Anspruch und Miniaturmaßstab. Ich schaute mir das Buch jeden Tag an. Nach einigen Monaten fasste ich den Mut, Fischli und Weiss in ihrem Atelier in Zürich anzurufen, und fragte, ob ich vorbeikommen dürfe. Sie sagten, ich sei herzlich willkommen.
Damals arbeiteten beide Künstler an einem Projekt, das schließlich Kultstatus erlangen sollte, einem Film mit dem Titel Der Lauf der Dinge, in dem eine Reihe von Alltagsgegenständen und Maschinenteilen herumrollen, umkippen, in Flammen aufgehen, auslaufen oder sich auf andere Weise vorwärtsbewegen, um eine Kettenreaktion aus wunderlichen Ursachen und Wirkungen in Gang zu setzen. Der Lauf der Dinge ist nicht nur eine Allegorie auf Kontingenz und Entropie, sondern zeigt auch den hintergründigen Humor und die erstaunlich kreative Experimentierfreudigkeit der beiden Künstler: Die chemischen und physikalischen Abläufe erzeugen die Illusion, die Objekte hätten sich auf geheimnisvolle Weise menschlicher Kontrolle entzogen. Der Film vermittelt auf nachhaltige Weise einen Eindruck davon, welche Freude die Künstler am Prozess der Kunstproduktion haben, daran, Dinge auseinanderzunehmen und zusammenzufügen, präzise das Gleichgewicht zu halten und es im nächsten Moment zum Kippen zu bringen.
An jedem Übergang im Film ist der Zuschauer um die Kontinuität besorgt, die jedoch aufrechterhalten wird, wenngleich es an vielen Punkten unmöglich erscheint, dass der entscheidende Energietransfer zustande kommt. So entsteht fortwährend der Eindruck, als stünden Zusammenbruch und Chaos unmittelbar bevor, doch häufig sind es Unregelmäßigkeiten und Ausnahmen, die das System vor dem Stillstand bewahren. Der Film ist eine Reise, auf der banale Objekte den Ausschlag geben und die Handlung vorantreiben; es handelt sich um eine Reise ohne Anfang oder Ende, ohne ein klar definiertes Ziel. Die Ereignisse im Film können nicht lokalisiert werden, und die Entfernungen, die tatsächlich zurückgelegt wurden, lassen sich nicht bestimmen. Der Lauf der Dinge ist eine Reise, die irgendwo beginnt und uns irgendwo hinführt. Die Reise wird, wie Paul Virilio schrieb, zum Warten auf eine Ankunft, die nicht erfolgt.
Zur Zeit unserer ersten Begegnung begannen Fischli und Weiss gerade mit ihrem Projekt Sichtbare Welt, an dem sie während der nächsten vierzehn Jahre weiterarbeiten sollten. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von dreitausend kleinformatigen Fotografien, die auf einem speziell konstruierten, fast dreißig Meter langen Leuchttisch ausgelegt und angeordnet sind. In ihr sind Elemente unserer kollektiven sichtbaren Welt zu einer riesigen Sammlung von Details des alltäglichen Lebens vereint. Die Bilder stammen aus allen Teilen der Erde und umfassen viele der mannigfaltigen natürlichen und konstruierten Umgebungen – der Orte und Nicht-Orte –, innerhalb derer sich das tägliche Leben abspielt; sie reichen von Dschungeln, Gärten, Wüsten, Bergen und Stränden bis hin zu Städten, Bürogebäuden, Appartements, Flughäfen, berühmten Sehenswürdigkeiten wie dem Eiffelturm oder der Golden Gate Bridge und allem, was dazwischen liegt. Jeder, der mit dem Werk in Berührung kommt, wird darin seine Welt wiederfinden: Ein Buddhist wird den Buddhismus finden, ein Landwirt die Landwirtschaft, ein Vielflieger findet Flugzeuge. Aber Sichtbare Welt kann nie als Ganzes betrachtet werden; das Werk verweigert einem die Gesamtschau.
Die beiden Künstler zeigten stets eine große Vorliebe dafür, Fragen zu stellen, vor allem solche, die sich gar nicht beantworten ließen. Noch im gleichen Jahr, in dem ich sie zum ersten Mal persönlich kennenlernte, schufen sie ihren Fragentopf, ein großes Gefäß, in das sie zahlreiche Fragen gepinselt haben. Fast zwei Jahrzehnte später, 2003, entstand für die Biennale in Venedig die Arbeit Fragen, bei der mehr als tausend handgeschriebene, existenzielle Fragen auf eine Wand projiziert wurden. Im gleichen Jahr erschien zudem ihr Buch Findet mich das Glück?, das alle möglichen kleinen und großen Fragen versammelt und dabei ständig zwischen Banalität und Weisheit oszilliert.
Fischli und Weiss waren rastlos tätig, überraschten ständig neu und suchten nie das Rampenlicht (ganz selten nur gaben sie Interviews) – und sie waren die Serienerfinder der Kunstwelt. In Fotografien, Filmen, Skulpturen, Büchern und Installationen dokumentierten sie alltägliche Dinge, befreit von ihren Alltagsfunktionen und in wechselnde Beziehungen zueinander gesetzt. Gemeinsam schufen sie einige der reichhaltigsten, denkwürdigsten und zutiefst menschlichen Werke der letzten drei Jahrzehnte. Fredric Jameson hat einmal behauptet, unser postmodernes Zeitalter sei von einem «Schwinden der Affekte» geprägt, einem Verlust von Ernsthaftigkeit und Authentizität, die vollständig durch die Ironie ersetzt worden seien. Fischli und Weiss aber haben gezeigt, dass Ironie und Ernsthaftigkeit ohne einander gar nicht existieren können, ja, dass es nichts Ernsthafteres als die Ironie gibt.
Mein erster Besuch bei ihnen wurde für mich zum Moment der Erkenntnis. Ich wurde im Atelier von Fischli und Weiss geboren: Dort fiel meine Entscheidung, Ausstellungen kuratieren zu wollen, obwohl ich die meiste Zeit meiner Jugend mit der Betrachtung von Kunstwerken, Sammlungen und Ausstellungen verbracht hatte. Fischli und Weiss waren zudem die Ersten, die mich fragten, was ich sonst noch gesehen hatte und was ich über das, was ich gesehen hatte, dachte. Auf diese Weise begann ich, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, einen Drang, meine Reaktionen auf die Kunst zu erklären und zu rechtfertigen – in einen Dialog...