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E-Book

Kursbuch 176

Ist Moral gut?

VerlagMurmann Publishers
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783867743181
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
'Moral ist nicht dazu da, ein gutes Leben zu sichern oder das Glück zu befördern. Ihre erste Aufgabe ist, die Verletzungsmacht des einen über den anderen einzudämmen', so Wolfgang Sofsky im Kursbuch 176 'Ist Moral gut?'. Das Kursbuch verzichtet auf Eindeutigkeit, auf letzte Gründe und erst recht auf normative Sicherheit. Es akzentuiert vielmehr die empirischen Bedingungen von Moral. Der Soziologe Heinz Bude bringt das Kunststück fertig, die Figur des 'Gutmenschen' zugleich zu dekonstruieren und zu verteidigen, während Birger Priddat fragt, wie moralische Ansprüche in wirtschaftliche Logiken transformiert werden können. Im Zentrum des Kursbuchs steht die Fotostrecke von Uli Reinhardt, der mit eindrucksvoll bedrückenden Bildern aus den Kriegs- und Krisenregionen der Welt dafür plädiert, den Begriff Moral durch Ethik zu ersetzen. Mit Beiträgen von Rainer Erlinger, Heinz Bude, Wolfgang Sofsky, Irmhild Saake, Uli Reinhardt, Alfred Hackensberger, Barbara Vinken, Birger P. Priddat, Peter Felixberger, Gert G. Wagner, Yasmina Khadra, Stephan Lohr und Armin Nassehi.

Seit 2012 erscheint das Kursbuch unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger. ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'. PETER FELIXBERGER (*1960) ist Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'. Das Kursbuch wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel gegründet. Als einer der wichtigsten kritischen Begleiter der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzte die Kulturzeitschrift Themen, die sonst nicht auf der öffentlichen Agenda standen. Demgegenüber gilt es heute, im vorhandenen Themendickicht neue Schneisen zu schlagen und überraschende und ungewohnte Verbindungen herzustellen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi bietet das Kursbuch solche neuen unerwarteten Perspektiven an. Nicht die großen Unterschiede werden diskutiert, sondern das, was einen Unterschied macht.

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Leseprobe

Heinz Bude

Das Schicksal des Gutmenschen

Ein Vorschlag zur Güte

Der Ausdruck stammt von Kurt Scheel. Anlässlich seines Abschieds vom Merkur hat der langjährige Herausgeber dieser »deutschen Zeitschrift für europäisches Denken« erzählt, wie es zur Prägung des Gutmenschen kam.1 Karl Heinz Bohrer, der andere Herausgeber, hatte im Januarheft 1992 »gegen die westdeutsche Schaumsprachigkeit« gewettert und die Anlegung eines »Wörterbuchs des guten Menschen« angeregt, in das Begriffe und Sätze wie »die Mauer im Kopf niederreißen«, »Streitkultur« oder »Querdenker« gehören sollten. Kurt Scheel hatte bei der Redaktion des Manuskripts seines Mitherausgebers daraus mit seiner dadaistischen Begabung das »Wörterbuch des Gutmenschen« gemacht. Deshalb darf er sich, streng genommen, als Erfinder des Ausdrucks betrachten.

Die damals »in kämpferischer Stimmung« von ihm in die Welt gesetzte Chiffre wird seitdem mit beträchtlichem Erfolg gehandelt2 und gilt heute als ironischer Standard für Kommentare von Vorgängen politischer Korrektheit. Das Gutmenschentum scheint besonders in Deutschland verbreitet zu sein, das mit militärischer Zurückhaltung, ökologischem Avantgardismus und ökonomischen Austeritätsdiktaten seinen europäischen Nachbarn das Fürchten lehrt. Aber die Wendung gegen den deutschen Gutmenschen kommt nicht aus Portugal, Irland oder Spanien, sondern aus dem eigenen Lande. Hier macht man sich gern mit unverhohlener Schadenfreude über gutmenschliches Scheitern in einer Welt handfester Interessenkonflikte lustig. Man wartet anscheinend nur darauf, dass die Liebchen aus der mittelständischen Komfortzone mit ihrem festen Glauben, dass es nur ein wenig guten Willen braucht, damit die Dinge sich zum Besseren wenden, auf die Schnauze fallen.

Wer ist ein Gutmensch?

Dabei war die Bezeichnung von ihrem Erfinder ursprünglich so böse womöglich gar nicht gemeint. Schließlich ist Kurt Scheels Darstellung seines Wegs zu dem honorigen Organ, welches der Merkur nun mal ist, zu entnehmen, dass er selbst diesem eigentümlichen sozialen Milieu, dem die Annoncierung von Moral für sein Selbstverständnis so wichtig ist, entstammt. Damit sind Leute aus der Mitte unserer Gesellschaft gemeint, die sich schwer damit tun, zu glauben, dass die Welt, so wie sie jetzt ist, die beste aller möglichen sein soll. Sie sind indessen nicht allein in der grün-linken Ecke zu finden. Auch junge Konservative, die aus dem Gedanken der Schöpfung eine ökologisch sensible Politik ableiten, oder Jungliberale, die als mutige Obelixe der Bürgerrechte Big Data herausfordern, muss man dazurechnen.

In der Regel besitzen Gutmenschen einen hohen Bildungsstatus, gehen einem mit befriedigenden Selbstwirksamkeitserfahrungen verbundenen Beruf nach und verfügen über ein halbwegs komfortables Einkommen. Aber wenn man sich gegen eine Welt stellt, die für einen selbst vielleicht gar nicht so schlecht aussieht, die aber für viele andere augenscheinlich ein Ort des Unglücks ist, muss man irgendeine Art von Gesinnung für sich in Anspruch nehmen. Die Gesinnungsethik ist zwar von Max Weber gegen die Verantwortungsethik ausgespielt worden, aber wenn man nur Verantwortung kennt, hat man doch schnell Begründungen dafür gefunden, dass die Welt so sein muss, wie sie ist.

Nein, es ist anzunehmen, dass Kurt Scheel seinen Leuten nicht die Moral ausreden, dass er auch nicht gegen das Gute im Menschen stänkern und dass er schon gar nicht Leute denunzieren wollte, die für ihr Selbstverständnis eine Moral in Anspruch nehmen. Sie sollten bloß nicht so maßlos gerecht sein wollen und dabei über alles hinweggehen, was anderen Leuten das Leben schwer macht und woran diese möglicherweise scheitern. Die öffentliche Selbstfeier moralischer Überlegenheit ist ekelhaft und widerlich. Dem Gutmenschen, dem Kurt Scheel den Kopf waschen wollte, ist aller Sinn fürs Graue, Uneindeutige und fürs Vorläufige verloren gegangen. Wer diese Dimensionen der Existenz unterschlägt, wird unmoralisch, wenn er moralisch sein will. Moralische Empathie erschöpft sich in herablassendem Mitleid und entlastender Fremdanklage. Außerdem sollten wir dem gewieften Herausgeber zufolge auch nicht vergessen, dass wir aus dem Land der Täter stammen und wir deshalb, auch wenn wir gar keine Schuld auf uns geladen haben, ein bisschen vorsichtig mit der Moral sein sollten.

In einer Fernsehserie mit angeblichem Millionenpublikum konnte man unlängst miterleben, wie Unsere Mütter, unsere Väter um ihr Leben gestrampelt haben, dabei gleichzeitig jedoch aus einer Haltung maßloser Moral zu Mord und Totschlag in der Lage waren. Auch der Nationalsozialismus hatte nämlich, wie neuere Untersuchungen darlegen,3 eine Moral, die, wie man an den diversen Figuren des bundesdeutschen Moralestablishments mit Waffen-SS- und HJ-Führer-Vergangenheit erkennen kann, erstaunliche Metamorphosen in den »Männerfantasien« des Wiederaufstiegs nach 1945 erfahren hat.4 Die moderne Barbarei ist ohne Moral gar nicht zu denken.

So gesehen stammt der Schimpfklatsch über den Gutmenschen nicht aus der Gedankenwelt Nietzsches, der hinter der Moral nur das Ressentiment ängstlicher Untermenschen erkennt, die sich ihren Wunsch nach Größe nicht einzugestehen vermögen; er verdankt sich vielmehr dem Geist der moralischen Melancholie, der weiß, dass die Moral immer auch eine Geste der Resignation vor einer nicht verbesserbaren Welt darstellt.

Insofern steckt eine Stimmung der Trauer im Begriff des Gutmenschen: Die Trauer eines allenthalben verabschiedeten Subjekts, das sein prinzipielles moralisches Scheitern einsehen muss und das sich höchstens mit Camus in eine Idee der Revolte retten kann, welche die Absurdität seines Seins in der Welt akzeptiert.

Zu viel Moral in der Gesellschaft

Wenn das alles so abgebrüht nicht gemeint war, warum hat dann die Metapher des Gutmenschen so sehr als Waffe der realistischen gegen die idealistische Fraktion in Moralfragen eingeschlagen? Die einfache Antwort darauf lautet, dass sie ein Ausdruck des Selbsthasses war. Die Gutmenschen suchen im Begriff des Gutmenschen Abstand von sich selber – oder deutlicher noch: Der Gutmensch versteckt sich hinter der Demaskierung des Gutmenschen. Die schärfsten Kritiker der Elche waren auch in diesem Fall früher selber welche. Es ist zumindest auffallend, dass Gehässigkeit und Verhärtung in der Begriffsverwendung gerade bei jenen zu finden sind, die vorgeben, zu wissen, wen sie meinen. Es gibt gerade im grün-alternativen Bereich ein gewisses Renegatentum, das in seinem Kampf gegen die moralische Keule den Schaum vor dem Mund nicht kontrollieren kann. Aber das sind einzelne Fälle, welche die allgemeine Stimmung der Abwendung vom moralischen Rigorismus nicht zu erklären vermögen.

Komplexer und plausibler ist die Erklärung, dass der Gutmensch eine exemplarische Figur des moralischen Konsums darstellt.5 Wir haben nämlich nicht zu wenig, sondern zu viel Moral in unserer Gesellschaft. Das Bild der Ellbogengesellschaft hat selbst in der manischen Periode des Neoliberalismus für vielleicht neun Prozent von Leistungsindividualisten gestimmt. Das klägliche Schicksal der FDP beweist, dass Wahlen in Deutschland nicht mit Parolen der Marktgläubigkeit, sondern mit Sorgen um die soziale Gerechtigkeit gewonnen werden.

Besonders die gut situierten Leute in der gesellschaftlichen Mitte wissen, solange es nicht um Steuererhöhungen für Besserverdienende und Schulreformen für Bildungsreiche geht, gar nicht, wohin mit ihren moralischen Motiven. Sie brauchen die Lizenz zum moralischen Konsum, der für sie ein Gefühl der moralischen Befriedigung abwirft. Der Ausdruck des Gutmenschen will diese Selbstbezogenheit in der Fremdbekümmerung bloßlegen. Sobald geschundene Menschen in Szene gesetzt werden oder wenn uns Bilder davon übermittelt werden, dass Menschen bei dem Versuch, übers Meer nach Europa zu gelangen, im Meer ertrinken, meldet sich der Gutmensch in seiner ganzen moralischen Hilflosigkeit und appelliert an den Menschen im Menschen. Das tut für den Moment gut, hilft aber auf Dauer nur wenig.

Wenn die Idee des moralischen Konsums zutrifft, dann haben wir es heute mit einer ganzen Branche von moralischen Unternehmern zu tun, die ihren Abnehmern Angebote für moralischen Konsum machen. Nichtregierungsorganisationen machen das teilweise besser als die Kirchen, und Charity-Stars effektiver als die Wohlfahrtsverbandsfunktionäre. Bei Veranstaltungen von Human Rights Watch kann man studieren, dass die amerikanischen Methoden der Betroffenheitserzeugung durch »moral leadership« inzwischen auch bei uns funktionieren. Die seit den Tagen des Hamburger Innensenators Helmut Schmidt in Flutkatastrophen aller Art bewährte Spendenbereitschaft der Deutschen stellt dafür einen fruchtbaren Boden dar.

Erst kommt das Denken, dann die Moral

Der Gutmensch, der das einsieht, gerät verständlicherweise in Verwirrung. Ich will mich doch nicht nur als moralischer Konsument sehen, sondern als moralische Person begreifen. Dafür ist heute allerdings eine Strategie der moralischen Verknappung nötig. Wer moralisch sein will, muss sich gut überlegen, zu welcher Gelegenheit und mit welchen Konsequenzen er das sein will. Moral ist nicht billig zu haben. Manchmal verlangt sie sogar, das teuerste Gut, das man hat, einzusetzen. So weit muss man natürlich nicht gehen, aber ohne einen gewissen Einsatz des Lebens treibt man den Preis für die Moral nach unten.

So ein Filmmensch wie Kurt Scheel träumt hier gerne von Humphrey Bogart6, der...

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