Sudhir Venkatesh
Freiheit im Untergrund
Die Gangsterökonomie in New York
Ich kam viel zu früh zur Vernissage und war nervös und aufgeregt. Es war der Tag, als Shine in mein Leben treten sollte.
Nachdem ich 1997 nach New York City gekommen war, hatte ich mich fünf Jahre lang mit der Untergrundökonomie der Stadt beschäftigt, einer weitgehend unbekannten Schattenwelt, in der Menschen Einkommen unterschlagen, Gesetze brechen und eine schier grenzenlose Kreativität entfalten, um an Geld zu kommen. In der Fachwelt würde man mich als »Ethnografen« bezeichnen, ein schickes Wort für einen Soziologen, der seine Zeit vor allem damit verbringt, andere Menschen in ihrem Alltag zu beobachten – also jemand, der herumlungert, statt Daten zu erheben oder Umfragen durchzuführen. In meiner Arbeit gehe ich davon aus, dass die Zeit für mich arbeitet. Sie bringt Dinge ans Licht, die Menschen gern verbergen. Sie lässt sie Sachen sagen, für die sie sich im Grunde schämen, und sie vermittelt ihnen ein Gefühl der Sicherheit, indem sie Dinge preisgeben, die sie fürchten. Zeit schafft Vertrauen. Nach zehn Jahren mit einer Crack-Bande in Chicago war auf diese Weise mein letztes Buch Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben entstanden.
Jetzt stand ich vor derselben Hürde wie damals: Ich brauchte einen Zugang.
Dieser Zugang war Shine. Als ich ihn kennengelernt hatte, war er ein gewiefter Crack-Dealer in Harlem, doch seit dem Ende des Crack-Booms versuchte er, sich andere Märkte zu erschließen. Das bedeutete Midtown und Wall Street, Greenwich Village und Upper East Side. Ich folgte ihm bei seinen Abenteuern über gesellschaftliche Grenzen hinweg und lernte dabei eine ganze Menge Leute kennen, die sich außerhalb der Legalität bewegen: Prostituierte, Zuhälter, Puffmütter, Pornoproduzenten und tausenderlei Schieber und Drücker, die alle ihre Stückchen vom Kuchen abhaben wollten. Manchmal wurde daraus eine methodische Untersuchung, zum Beispiel, als ich mit Forschungsfördergeldern den Drogenmarkt von Harlem untersuchte oder in Zusammenarbeit mit den städtischen Justizbehörden eine Erhebung unter 150 Prostituierten durchführte. Aber oft blieb am Ende das nagende Gefühl, dass es Zusammenhänge gab, die ich nicht durchschaute. Richtig faszinierend und bewegend wurde es jedoch, als Shine mit Menschen in Berührung kam, die ich aus meinem Privatleben kannte, und die Grenze vom interessanten Forschungsgegenstand zur schmerzhaften Realität überschritten wurde.
Als ich kam, war die Party bereits in vollem Gange. In der großen weißen Atelierwohnung lagen wahllos verstreut Balken, Altmetallteile und gigantische Abbruchbirnen herum. Auf mich wirkte das Ganze weniger wie Kunst, eher wie eine verlassene Baustelle, doch es ist gut denkbar, dass ich nach anderthalb Jahrzehnten der Armuts- und Verbrechensforschung kein geeigneter Gast für dieses Zeug war.
Auf der anderen Seite des Raums erspähte ich Shines Cousine Evalina. Wir hatten uns vor einigen Jahren kennengelernt. Bei meinen Untersuchungen über die Schattenwirtschaft tauchte Evalina regelmäßig an Orten auf, an denen ich sie am wenigsten vermutet hätte. Sie war eine kleine, dralle Frau, die vor Energie nur so sprühte. In der Highschool hatte sie für Shine gearbeitet, dann war sie an die Westküste durchgebrannt, um sich selbst zu finden. Nachdem sie wegen Laden- und Autodiebstahl eingesessen hatte, war sie wieder nach New York City gekommen, wo Shine sie Kokain verkaufen ließ, unter der Bedingung, dass sie wieder zur Schule ging. Sie landete schließlich in der Fotografie und Bildhauerei. In der heutigen Ausstellung wurde eines ihrer Stücke gezeigt. Vielleicht war es ja keine schlechte Idee, auch ihr bei ihren Abenteuern zu folgen.
»Ist das nicht geil?«, fragte sie mich. »Ist das nicht alles total durchgeknallt?«
»Ja, cool«, erwiderte ich. »Glückwunsch, dass du hier ausgestellt wirst.«
Sie strahlte und sah glücklich aus, aber sie schien mir ein bisschen bemüht. Genau wie ich stach sie aus dem Meer der weißen Gesichter heraus. Von Shine wusste ich, dass sie in die Kunstwelt von Soho und Chelsea vernarrt war und irgendwann eine eigene Galerie aufmachen wollte. Er ließ sie sogar 30 Prozent der Einnahmen behalten, die sie dort machte. Evalina tat ihren hippen neuen Freunden gern einen Gefallen, aber wenn es ans Kassieren ging, stellte sie sich nicht immer sonderlich schlau an. Das war auch der eigentliche Grund, weshalb Shine heute Abend in die Galerie kommen wollte. Wenn sie in diesem neuen Territorium überleben wollte, so Shine, dann musste sie diese verdammten Künstler auch dazu bringen, die Scheine rüberwachsen zu lassen.
Mit einem Mal stand er in der Tür, in Jeans, Kapuzenpulli und weißen Basketballschuhen. Langsam überblickte er den Raum, so wie es jeder gute Verkäufer tun würde. Er wirkte selbstbewusst, groß, attraktiv – und völlig fehl am Platz.
Mit drei Nichtweißen im Raum war dies die multikulturellste Party, die ich je in Soho besucht hatte.
Einen Augenblick lang zögerte Shine. Vielleicht kamen ihm Zweifel. Dann ging er auf einen Knäuel von Abbruchbirnen zu, die an unsichtbaren Schnüren von der Decke herunterhingen. Sie waren kotzgrün, schwarz bemalt und groß genug, um sich dahinter zu verstecken.
Ich ging auf ihn zu. »Komisches Zeug, oder?«
»Findest du?«
Ich verdrehte die Augen.
Er sah sich die schwebenden Kugeln an und überlegte einen Moment lang. »Ich find’s cool.«
In den letzten fünf Jahren hatte ich erlebt, wie er nach einer Schlägerei seine Fingerknöchel verarztete, sich um Verwandte in Not kümmerte, junge Männer als Drogenhändler rekrutierte, und was weiß ich, was noch alles. Mich konnte er nur wenig überraschen. Aber jetzt erstaunte er mich doch. Wollte er mich auf den Arm nehmen? »Echt? Das Zeug findest du cool?«
Er nickte. »Könnte eine Krankheit sein oder einfach nur Seifenblasen – weißt du, das Zeug, das du als Kind so gemacht hast.«
Er lächelte. Der Gedanke schien ihm zu gefallen. »Es kann einen glücklich machen, aber es kann einen auch umbringen. Ja, das ist echt cool. Der Typ hat’s geschnallt.«
Ich war ein bisschen genervt. Wollte dieser Drogendealer aus Harlem an diesem fremden Ort vielleicht auch den Boss spielen? Aber ich unterdrückte das Gefühl.
Ich war dabei gewesen, als Shine seine ersten Schritte aus Harlem heraus in die Bars an der Wall Street und in Soho gemacht hatte. Ich wusste, wie viel Mut dazu nötig war, wie viel sorgfältige strategische Analyse, welche Vision. Ich hatte viele Drogenhändler kennengelernt, aber niemand überschritt mit solcher Leichtigkeit immer neue Grenzen. So gesehen war Shine nichts anderes als ein junger Amerikaner, der seinen Traum leben wollte, und alles tat, um riesige Hindernisse zu überwinden. Statt mich zu ärgern, hätte ich lieber seine geniale Anpassungsfähigkeit beobachten sollen.
*
Shine war allerdings nicht der einzige Großstadtpionier, den ich beobachtete. Aus verschiedenen Blickwinkeln der Untergrundökonomie und der jungen Reichen konnte ich zusehen, wie die Kräfte der Globalisierung und Stadtentwicklung ganz New York umkrempelten. Rudy Giulianis ehrgeiziges Säuberungsprogramm hatte der Stadt die Dollars der Touristen und eine beschleunigte Gentrifizierung beschert. In Manhattan richteten multinationale Konzerne neue Unternehmenszentralen ein. An der Wall Street boomten die Finanzdienstleister mit schier manischer Energie. Angehörige der Mittel- und Oberschicht strömten scharenweise aus den Vororten zurück in die Innenstadt. Das alles war mit bloßem Auge erkennbar und wurde in den Medien abgefeiert. Auch der Untergrund war in Bewegung, auch wenn die Umwälzungen dort kaum Beachtung fanden. In der zunehmenden Gentrifizierung suchten Tausende Aufstrebende aus der Unterschicht nach neuen Marktnischen und Betätigungsfeldern. Von südasiatischen Pornoladeninhabern und nigerianischen Taxifahrern in Hell’s Kitchen bis zu ambitionierten lateinamerikanischen Prostituierten der Lower East Side und den Luxusescorts der Upper East Side schufen die raschen Umwälzungen in dieser Weltstadt neue Gewinner und Verlierer.
Der Strudel ließ den kommenden Crash bereits erahnen, doch vieles davon war schwer zu greifen. In den Verschiebungen im riesigen Kontinent der Untergrundökonomie warfen kommende Ereignisse ihre Schatten voraus – doch wie diese Ereignisse aussehen würden, das konnte niemand ahnen.
In diesem Zusammenhang schien Shines Begegnung mit der zeitgenössischen Kunst so etwas wie ein Signal. Ich befand mich nicht mehr in einer Stadt des Mittleren Westens, in der die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Milieus und Stadtteilen stabil waren, egal welche Kräfte auf sie wirkten. Chicago feiert sich etwa als »Stadt der Stadtviertel«, und dahinter verbirgt sich ein Ort der systematischen gesellschaftlichen und ethnischen Segregation. Das hat seine Vor- und Nachteile. Jeder hatte sein Viertel, auf das er stolz war und in dem er sich engagierte. Selbst der Untergrund organisierte sich streng nach Stadtteilen. Egal ob es um Babysitter, Drogen oder Kredite ging: In Chicago machte man seine Deals mit dem Nachbarn. Es war nahezu unvorstellbar, dass die Banden, die ich untersuchte, die Wege von Menschen aus meinem universitären Milieu kreuzten. Ich war davon ausgegangen, dass alle Städte nach diesem Muster funktionierten. Doch die Stabilität Chicagos lag hinter mir, und im Rest des Landes schien einiges in Bewegung geraten zu sein. Vielleicht war New York ein Vorbote der Zukunft.
Aber was brachte diese...