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E-Book

Kursbuch 183

Wohin flüchten?

VerlagMurmann Publishers
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783867744782
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Was bringt Flüchtlinge dazu, ihr ganzes Leben, oftmals mit Arbeit, Familie und Haus, zurückzulassen? Mit welchen Ressentiments müssen sie am Ankunftsort kämpfen? Diese Fragen stellen sich die Autoren des Kursbuchs 183 'Wohin flüchten?'. So fragt Mitlias Oulios nach einem globalen Recht auf Migration, Roger Zetter konstatiert im Sommer 2015 keine Einwanderungs-, sondern eine Politikkrise und Wolfgang Bauer und Philipp Ruch sprechen über falsche Betroffenheit, Ignoranz und echtes Mitgefühl. Aufbauend auf Gesprächen und Interviews mit Flüchtlingen bieten Ferdinand Haenel, Carlo Kroiß und Alfred Hackensberger Einblicke in Beweggründe, Erlebnisse und Erfahrungen. Es sind Erzählungen, die so manche vermeintliche Selbstverständlichkeit irritieren und uns einen Blick in den Spiegel werfen lassen. Mit Beiträgen von Jochen Oltmer, Roger Zetter, Albert Scherr, Miltiadis Oulios, Jürgen Ebach, Armin Nassehi, Carlo Kroiß, Friedrich Kiesinger, Wolfgang Bauer, Philipp Ruch, Ferdinand Haenel, Wilhelm Bartsch und Alfred Hackensberger.

Seit 2012 erscheint das Kursbuch unter der Herausgeberschaft von Armin Nassehi und Peter Felixberger. ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'. PETER FELIXBERGER (*1960) ist Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'. Das Kursbuch wurde 1965 von Hans Magnus Enzensberger zusammen mit Karl Markus Michel gegründet. Als einer der wichtigsten kritischen Begleiter der bundesdeutschen Öffentlichkeit setzte die Kulturzeitschrift Themen, die sonst nicht auf der öffentlichen Agenda standen. Demgegenüber gilt es heute, im vorhandenen Themendickicht neue Schneisen zu schlagen und überraschende und ungewohnte Verbindungen herzustellen. Unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi bietet das Kursbuch solche neuen unerwarteten Perspektiven an. Nicht die großen Unterschiede werden diskutiert, sondern das, was einen Unterschied macht.

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Leseprobe

Alfred Hackensberger
Der Tod als Waffe

Flüchtlinge und ihre Träume

Jeden Tag fahre ich an ihnen vorbei: auf dem Weg zur Schule, zum Einkaufen, in die Stadt oder zum Strand. Bei jeder roten Ampel klopfen sie an meine Fensterscheibe. Junge Männer, die mit leidender Miene die Hand an den Mund führen und sagen, sie haben Hunger. Junge Mütter deuten auf ihre am Rücken festgeschnallten Babys und sagen, sie brauchen Milch. Es sind Menschen aus Nigeria, Kamerun, Mali oder aus dem Tschad, aber auch aus Syrien und Pakistan, die sich zum Heer der professionellen Bettler gesellen, die in Tanger zum Straßenbild gehören. Die meisten Flüchtlinge geben offen zu, sie wollten von der marokkanischen Hafenstadt aus nach Spanien. Die wenigen, die behaupten, in Marokko Arbeit zu suchen, haben Angst. Das ist verständlich, denn ihr Trip, den sie über die Meerenge von Gibraltar vorhaben, ist illegal, und sie befürchten Probleme mit der Polizei. Die behandelt sie in der Regel wenig zimperlich und kann sie völlig überraschend nach Rabat, Casablanca oder Marrakesch verfrachten. Aber Ausreden ergeben in Tanger wenig Sinn. Sie werden nur mit einem müden Lächeln quittiert. Jeder weiß, wozu die Fremden gekommen sind.

Die marokkanische Millionenstadt am Mittelmeer, an der äußersten Nordspitze des afrikanischen Kontinents, gilt seit über 20 Jahren als Sprungbrett für Migranten nach Europa. Es ist die beständigste Route. Momentan ist sie jedoch in Vergessenheit geraten. Im Brennpunkt steht zurzeit Libyen, von dem aus Tausende von Flüchtlingen nach Italien in See stechen und dabei Hunderte von ihnen ihr Leben lassen. Wie lange Libyen allerdings noch Transitland bleibt, hängt vom Verlauf des Bürgerkriegs ab. In jedem Fall ist es nur ein temporäres Schlupfloch, so wie das vorher Mauretanien oder der Senegal waren. Auf Druck Europas machen die lokalen Sicherheitsbehörden irgendwann dicht, und die Flüchtlingsströme sickern aus.

In Tanger ist es anders. Denn von hier aus sind es nicht Hunderte Seemeilen, sondern nur 14 Kilometer, die Afrika vom europäischen Kontinent trennen. Marokkos Polizei und Militär verhindern zwar das Auslaufen von Flüchtlingsbooten nahezu vollständig. Aber die kurze Strecke scheint so verlockend, dass nonstop Flüchtlinge anreisen – egal wie groß oder klein die Chancen sind, auf die andere Seite des Mittelmeers zu gelangen. Laut Registrierung des katholischen Hilfswerks Caritas in Tanger sollen es rund 20 000 Menschen sein, die den Norden Marokkos belagern und auf ihre europäische Chance warten. Wahrscheinlich sind es mehr, denn nicht alle sind bei der Caritas gemeldet. Und für die Bewohner von Tanger, einschließlich mir, scheinen es so viele zu sein wie nie zuvor. Vor zehn oder 15 Jahren wohnten sie in billigen Pensionen in der Altstadt, und es gab einige Camps außerhalb der Stadt. Heute müssen sie auf die Vorstädte von Tanger ausweichen, und dort gibt es unzählige Lager im Freien. Mit ein Grund für den Anstieg: Der Weg über Tanger ist die weitaus weniger gefährliche Route. Libyen ist Bürgerkriegsland, und von dort auf wackeligen, überfüllten Booten das gesamte Mittelmeer zu überqueren, grenzt beinahe an Selbstmord.

Traum vom Paradies

Bei klarem, sonnigem Wetter kann man vom Boulevard Pasteur im Zentrum Tangers aus die Küste der Iberischen Halbinsel deutlich sehen. Sie scheint zum Greifen nahe und nur einen Katzensprung entfernt. Tatsächlich dauert die Fahrt mit der Schnellfähre gerade mal eine halbe Stunde über die Meerenge. Für das Ticket brauchen Passagiere allerdings einen westlichen Pass oder ein gültiges Schengen-Visum. Beides haben die Flüchtlinge natürlich nicht. Viele von ihnen beantragten zu Hause ein Visum für Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, bekommen haben sie keines. Und deshalb sind sie in Tanger, um mit einem Schlauchboot über die Meerenge nach Spanien zu rudern. Nicht ungefährlich, aber trotzdem: »Denn dort beginnt alles Gute, ein anderes, besseres Leben«, wie sie alle sagen. »Dort gibt es jede Menge Arbeit, eine gute Ausbildung, wer fleißig ist, kann reich werden und eine schöne Frau oder einen wohlhabenden Mann heiraten.« Das ist ihr Traum vom Paradies. Der Traum vom Norden als Ort der unbeschränkten Möglichkeiten, der Disziplin verlangt, jedoch Stabilität und Wohlstand garantiert. Von einer Krise in Europa haben sie gehört, aber, wie der 21-jährige Kerdal aus Kamerun stellvertretend die einhellige Meinung der Flüchtlinge festhält: »Nur wer faul ist, findet keine Arbeit.«

Es sind ziemlich ernüchternde Träume – zumindest klingen sie so für uns Europäer. Wir sehen »unseren Norden« weitaus weniger paradiesisch. Wir beklagen die Leistungsgesellschaft, deren Zwängen und Verpflichtungen wir am liebsten entfliehen würden. Man will raus aus der sterilen Welt, in der alles austauschbar geworden ist, keine Authentizität mehr existiert und sogar das Privatleben von den Gesetzen des Marktes diktiert wird. Jeder wird es nicht so formulieren, aber es ist da, das Gefühl des Unbehagens, das Sehnsüchte der Ferne stimuliert. Angesichts der Krise mag sich das in Griechenland, Portugal oder Spanien verändert haben. Dort sind Arbeitslose mittlerweile froh, wenn sie überhaupt eine Anstellung finden, ihre Familie ernähren können und medizinisch versorgt sind. Dafür nimmt man die »kapitalistische Entfremdung« wieder ohne Murren in Kauf, über die man sich vor Jahren noch beschwert haben mag.

Für Deutsche, Briten oder Franzosen liegen die Sehnsüchte nach wie vor im »Süden«: in Spanien, Marokko, Thailand oder in der Karibik. Der Süden repräsentiert Sonne, Meer und Strand. Aber noch viel mehr: Temperament, Genuss, Sinnlichkeit, Erotik, Freundlichkeit, Offenheit, Entspannung und was weiß ich nicht noch alles mehr. Es sind die Ingredienzien, die als Werte eines schönen, besseren Lebens gelten. Klar, das ist eine Gegenwelt zu den am frühen Morgen überfüllten U-Bahnen und Zubringerstraßen, den schlecht gelaunten Chefs, strafzettelschreibenden Politessen, dem Sprint durch den Supermarkt nach der Arbeit, dem beständigen Stress und viel zu hohen Raten für die Eigentumswohnung.

Sehnsüchte entwickeln sich üblicherweise diametral zur Realität. Man möchte das, was man nicht hat. Was scheinbar fehlt, wird gegenüber dem Alltag erhöht, ja hypostasiert und infolgedessen mit Klischees und Stereotypen bepackt: Der Süden, wo der Wind der Freiheit weht und das Leben noch lebenswert ist – um es etwas überspitzt zu formulieren. Wer dann tatsächlich den Schritt ins sonnige Ausland wagt, wird schnell feststellen, die geschätzten »Ureinwohner« lachen doch nicht den ganzen Tag, zur Arbeit muss man auch hier um sieben Uhr morgens aufstehen, und die Bürokratie ist so korrupt, dass man sich die vormals verhassten deutschen Beamten zurückwünscht. Das Leben im Ausland ist mindestens so schwer oder leicht wie zu Hause.

Ich lebe seit über 15 Jahren außerhalb Deutschlands (Libanon, Marokko, Spanien) und reise beruflich sehr viel – da hat man das Déjà-vu der ersten Desillusionierung hinter sich. Man weiß mittlerweile, worauf man sich einlässt, plant im Voraus und würde nie ein unkalkulierbares Risiko eingehen, wie das etwa die Flüchtlinge tun. Viele Dinge sind durch das Leben in unterschiedlichen kulturellen Kontexten längst nicht mehr so wichtig, wie sie früher einmal waren. Ein Traumland existiert nicht. Das Ausland, so exotisch es klingen mag, ist einfach nur anders als zu Hause. Ob man sich wohlfühlt oder nicht, hängt ganz von persönlichen Präferenzen ab. Wir Europäer können leicht sagen: »persönliche Präferenzen«. Für uns ist es einfach, in das ausgewählte Paradies zu kommen. Wir können das Paradies, falls es uns nicht gefällt, auch hinter uns lassen oder es sogar mit einem anderen austauschen. Der Pass eines EU-Bürgers macht das möglich.

Wenn Träume platzen

Für die Flüchtlinge in Tanger gestaltet es sich völlig anders. Ihre Reise ist in der Regel eine einmalige Angelegenheit, und ihre gesamte Existenz hängt davon ab. Die Flüchtlinge riskieren ihr Leben und das Vermögen der Familie. Der Erfolg ihrer Auswanderungsmission hängt stetig am seidenen Faden. Jeden Moment kann es aus sein. Auf dem Weg durch die Wüste können sie ausgeraubt oder noch schlimmer ermordet werden. Selbst in Marokko kann ihnen sehr leicht ihr ganzes Hab und Gut geklaut werden. Für Frauen ist die Reise besonders schlimm. Sie werden ständig belästigt und viele vergewaltigt. Am Ende bleibt der letzte große Schritt über das Mittelmeer, der ihnen das Leben kosten kann. Und haben sie alle Hürden genommen, was Jahre dauern kann, was blüht ihnen in Europa?

Das Erwachen wird bitter werden, denn die Träume, die die Flüchtlinge im Gepäck mitbringen, haben nichts mit der europäischen Realität gemein, in die sie hineingeworfen werden. Es folgen lange Monate in Internierungslagern oder Wohnheimen, in denen sie zur Untätigkeit verdammt sind. Danach werden sie vielleicht abgeschoben. Und selbst wenn sie bleiben dürfen, droht die Arbeitslosigkeit. Mit Glück können sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Vielleicht verkaufen sie auf der Straße Imitate von Markentaschen, Musik-CDs und Filme. Oder sie betteln wieder, wie sie es vorher in Tanger machten. Von schlechten Zukunftsperspektiven wollen die Flüchtlinge nichts wissen. Das sind nur Geschichten von »Losern«, von Verlierern, wie sie sagen. Jeder von ihnen glaubt, er mache es viel besser und habe mehr Glück als alle anderen. Es ist immer das Gleiche, das ich von Flüchtlingen seit über 15 Jahren höre. Und es ist trotzdem immer wieder verblüffend – weniger ihr Traum von Europa, viel mehr die Vehemenz, mit der sie die Realität ausblenden. Aber vielleicht muss das sein, um...

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