Gerhard Waldherr
Deutschkunde
Prolog
»Willkommen in Deutschland! Das gilt den Flüchtlingen, die vor Krieg und Gewalt fliehen und nach Deutschland kommen, in ein offenherziges, aber für die meisten Neuankömmlinge auch fremdes Land mitten in der Europäischen Union. Doch wie leben die Deutschen? Welche Regeln gelten hier? An welchen Werten richten sie sich aus? Was ist ihnen wichtig? Welche Geschichte haben sie? Diese Fragen stellen sich auch viele Deutsche …«
Aus: Deutschland – Erste Informationen für Flüchtlinge, 2015
Im Reichstag, gleich hinter Plenarsaal und Besuchertribüne. Ein paar Glastüren weiter, dann rechts, Vortragssaal A2. Die Landseniorinnen und -senioren aus der Prignitz warten schon. Eingeladen hat sie die Abgeordnete Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. Die Prignitz gehört zu ihrem Wahlkreis in Brandenburg. Die Besuchergruppe blickt auf eine knallorange Wand und einen Tisch, daneben Kartons mit Stofftragetaschen, bedruckt mit einem weißen Bundesadler. Draußen vor dem Fenster zerfließt die Silhouette eines Baumes im Nebel.
Es ist der 20. Dezember 2016, elf Uhr vormittags. Am Abend zuvor war ein Lkw durch einen Teil des Weihnachtsmarkts am Berliner Breitscheidplatz gerast. Während Tackmann den Raum betritt, wird von zwölf Toten und 48 Verletzten gesprochen. Die Fotos, die im Internet und auf den Titelseiten der Tageszeitungen verbreitet werden, sind von bedrückender Symbolik. Neben dem Bombenstummel der Gedächtniskirche ein Bild der Verwüstung. Der Zweite Weltkrieg trifft auf den Terror des 21. Jahrhunderts. Paris, Brüssel, Nizza. Und nun Berlin. Zwischendurch hieß es, der Täter sei Afghane oder Pakistaner und als Flüchtling über Passau eingereist. Wie die Meldung entstanden ist, bleibt unklar.
Man kann sich an so einem Tag, an diesem Ort viele Botschaften zur Begrüßung vorstellen. Kirsten Tackmann wählt eine überraschende Variante. Sie spricht nicht von Zivilisationsfinsternis, einer entweihten Weihnacht oder Merkels Toten. Sie spricht nicht von islamischer Bedrohung, Flüchtlingsproblematik, Asylmissbrauch, wie es andere Politiker zu dieser Stunde bereits getan haben. Sie spricht auch nicht von erhöhter Polizeipräsenz, verschärften Grenzkontrollen oder gar Vergeltung. Keine Phrasen, keine Appelle, kein »Sei stark Berlin«. Kein Sprechzettel der Betroffenheit und auch nicht der Anklage.
»Das ist ein besonderer Tag«, sagt Tackmann mit ruhiger Stimme, »an dem wir zunächst der Opfer und ihrer Angehörigen gedenken sollten.« Es sei auch ein Tag, an dem man mit anderen Gedanken durch die Straßen gehe oder U-Bahn fahre. Ihrer Tochter, die in Berlin wohne, ginge es so. Und natürlich habe sie auch an ihren Sohn gedacht, der in Zürich promoviere, wo tags zuvor in einer Moschee drei Menschen angeschossen wurden. Tackmann erwähnt auch das Attentat auf den russischen Botschafter in Ankara. Aber: »Die Welt ist durch die gestrigen Ereignisse nicht anders geworden, sie war schon vorher gespalten, kaputt und gewalttätig, diese Ereignisse haben das nur deutlicher gemacht.« Die Lösung? »Die Welt in Gut und Böse einzuteilen, ist jedenfalls keine.«
Was für ein Jahr. Es war nicht vorherzusehen im Herbst 2015, als Angela Merkel ihren berühmten Satz spricht und ein ganzes Land erfasst wird von Mitgefühl und Solidarität. Deutschland setzt sich ein humanitäres Denkmal. Septembermärchen. Wir schaffen das. Doch dann kommt die Silvesternacht von Köln. Stundenlang werden rund um Dom und Hauptbahnhof Hunderte von Frauen bedroht, begrapscht, sexuell belästigt, verletzt, bestohlen. Vereinzelt kommt es zu Vergewaltigungen. 1054 Strafanzeigen, 1108 Opfer und Geschädigte. Als Täter verdächtigt werden überwiegend Marokkaner, Algerier, Iraker, Syrer, darunter auch Asylsuchende. Auch in anderen Städten kommt es zu ähnlichen Übergriffen.
Es ist eine offenbar konzertierte Aktion der Schande. Sie wird zum Wendepunkt der Flüchtlingsdebatte. Die Willkommenskultur mündet in eine Verurteilungs- und Abschiebungsdebatte, auch weil die Kölner Polizei, einzelne Politiker und Medien, etwa das ZDF, den Vorfall zunächst bagatellisieren. Es folgen schlimme Schlagzeilen. Die sächsischen Orte Freiberg, Freital, Clausnitz oder Bautzen werden zum Synonym für Anschläge auf Flüchtlinge. Aufmärsche von Pegida und Parolen der AfD bestimmen zunehmend die Nachrichten. Aufgeregte Diskussionen beginnen. Obergrenze. Burka-Verbot. Parallelgesellschaften. Thilo Sarrazin stellt fest: »Wir schaffen das nicht.« Dann die Anschläge von Ansbach und Würzburg. Der Ton wird schärfer. Nicht nur im Osten heißt es: »Merkel muss weg!«
Insbesondere die CSU, die Partei, die das schöne Bayern erfunden hat, bringt sich gegen die Kanzlerin und ihre Politik in Stellung. Der Parteivorsitzende Seehofer sucht die offene Konfrontation. Generalsekretär Scheuer sagt: »Das Schlimmste ist ein Fußball spielender, ministrierender Senegalese. Der ist drei Jahre hier – als Wirtschaftsflüchtling –, den wirst du nie wieder abschieben.« Die Obergrenze wird zur Bedingung für eine weitere Zusammenarbeit mit der Schwesterpartei CDU. Die Kanzlerin bittet ihre Parteigenossen hinsichtlich der Bundestagswahl 2017: »Ihr müsst mir helfen!« Und dann Berlin. »Die Kerze der Zuversicht«, schreibt das Handelsblatt in seinem Morning Briefing am 20. Dezember, »hat zu flackern begonnen.«
Nachrichten sind der Fluch der modernen Welt. Allgegenwärtig, allumfassend, begleitet von Zahlen, Statistiken, Bildern. Das alles ist häufig aufgebauscht, manipulativ, unausgewogen. So funktionieren Medien heute. Und so werden aus Randereignissen nationale Debatten. Ein Selfie mit einem Syrer oder ein weinendes Flüchtlingskind neben der Kanzlerin reicht. Erst recht eine Frau im Nikab in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow. An Ereignissen wie dem brutalen Sexualmord von Freiburg, mutmaßlich verübt von einem afghanischen Flüchtling, kommt sowieso keiner vorbei. Zumal wenn er verstrickt wird mit ähnlich gelagerten Vergewaltigungen in Bochum. Und weil alles mit allem zusammenhängt, wandert alles in einen Topf. Aleppo, Islamischer Staat, Globalisierung, internationaler Terrorismus, Russland, die Türkei, Brexit, Wutwähler, Trump, Weltuntergang. Fortgesetzt, kommentiert und verfälscht in den sozialen Netzwerken.
Was hinter dieser Endlosschleife der Berieselung verschwindet, ist das wirkliche Leben. Das, was man ist. Single oder Partner. Kind oder Eltern. Student oder Künstler, Manager oder Arbeitsloser. Macher, Mitmacher oder Systemverweigerer. Links, rechts, neoliberal oder irgendwas dazwischen. Dabei ist es doch die Summe dieser wirklichen Leben, die definiert, was ein Land ist. Kirsten Tackmann sagt, als sie ihrer Besuchergruppe von ihrer Arbeit als Abgeordnete erzählt, sie sollten bei all dem Wahnsinn der Welt nicht vergessen, worum es auch ginge: »Es ist wichtig, dass wir auf uns achten, unser Leben betrachten, das Bewusstsein für uns und unser Land nicht verlieren.«
Sie ist ausgebildete Chemielaborantin, hat Veterinärmedizin studiert, war Mitarbeiterin am Institut für Epizootiologie und Tierseuchenforschung in Wusterhausen. Als Personalrätin kämpfte sie nach der Wende um dessen Erhalt. So kam sie in die Politik und zu ihrem Credo: »Ich will als Politikerin das leisten, was ich als Bürgerin damals von Politikern erwartete.« Vielleicht hat sie deshalb bei der Begrüßung der Besuchergruppe das Pathos weggelassen, die staatstragenden Sprüche. Ihre Themen sind näher am Menschen. Ihr Spezialgebiet ist die Landwirtschaft.
Tackmann lebt in einem kleinen Dorf bei Kyritz an der Knatter. Sie weiß, wie es ihren Nachbarn geht, die bis nach Bayern zur Arbeit pendeln oder im Gesundheitssystem viel arbeiten und wenig verdienen. Sie ist stolz auf ihr Dorf, das einem alleinstehenden Mann den 60. Geburtstag ausrichtet. Einmal im Monat hält sie in den fünf Kreisstädten ihres Wahlkreises Bürgersprechstunden ab. Jahrein, jahraus, bei Wind, Regen, Hitze. »Man muss miteinander reden«, sagt sie, »dann relativieren sich viele Debatten.« Und: »Ich nehme jeden ernst, mit dem ich rede.«
Wenn es nach der Abgeordneten Tackmann geht, dann hat das Land viele Probleme. Zunehmende Verarmung von Kindern und Senioren, Lücken im Bildungs- und Gesundheitssystem, fehlende Steuer- und Verteilungsgerechtigkeit. »Deshalb müssen wir die Machtfrage stellen, die Eigentumsfrage, die Systemfrage, wir brauchen im Parlament neue Mehrheiten, wir können nicht so weitermachen.« Viele Kritikpunkte. Und doch, so Tackmann, »verfügen wir immer noch über ein funktionierendes System, sind wir ein Land mit viel Potenzial. Es lohnt, sich das genauer anzusehen, gerade in diesen Zeiten.«
Ich kam im Frühjahr 2006 nach Berlin. Zuvor hatte ich acht Jahre in New York gelebt. Danach war ich fast zwei Jahre als Reporter auf allen Kontinenten unterwegs, überwiegend in Asien. Es war keine einfache Heimkehr. Was früher vertraut war, kam mir nun fremd vor. Deutschland und...