Maurice Summen
Pop Life
Über den Kulturimperialismus des Bequemen
Sucht man unter gläubigen Katholiken jemanden, der einem die Heilige Dreifaltigkeit erklären kann, wird man ewig recherchieren müssen. Halten wir unter Pop-Konsumenten nach jemandem Ausschau, der einem Pop erklären soll, stehen wir vor dem gleichen Problem.
Es geht im Pop nicht darum, etwas zu erklären, sondern darum, durch Konsum etwas zu erfahren, was man eben nicht verbalisieren kann. Da Pop fast gleichzeitig in der Kunst- und Musikwelt der 1950er-Jahre in Amerika und Europa entstand und in der Wirtschaft rasch einen cleveren Dritten im Bunde fand, wurde er in gewisser Weise zur Heiligen Dreifaltigkeit im Kapitalismus.
Wie man schon gleich zu Beginn meines Textausflugs sehen kann, lässt sich mithilfe des Begriffs Pop so ziemlich jeder Nonsens behaupten. Deshalb ist Pop auch ein stolzes Enkelkind von Dada, allerdings von Anfang an mit einem ausgeklügelten Businessplan.
Pop hat – da geht er Hand in Hand mit seinem Paten von der katholischen Kirche – keine Angst vor der Masse. Durch die Massenmedien, vom Buchdruck über die Vinylschallplatte bis hin zum Streaming, erobert Pop die Märkte. Allerdings steckt hier der Teufel im juristischen Detail: Während das Urheberecht der katholischen Kirche für immer und ewig sicher im Vatikan vor sich hin schlummert, liegen die Urheberrechte im Pop heute bei global agierenden und sich ständig neu fusionierenden Unterhaltungskonzernen wie Universal Music, Disney Music oder Sony Music Entertainment. Amen.
Pop hält über die Kunst eine Nähe zum akademischen Betrieb, der wiederum in seinen soziologischen und kulturpolitischen Exkursen immer wieder in Kontakt mit ihm tritt – dies ist für alle im Bunde von Vorteil. Der immer etwas träge erscheinende wissenschaftliche Apparat zeigt sich durch den Untersuchungsgegenstand Pop auf der Höhe der Zeit, und die Konsumartikel des Pop bekommen nie geahnte Bedeutungsebenen verpasst, die jeden Konsumenten gleich zum wissenschaftlichen Probanden machen. Wer Lust hat, ist jederzeit dazu eingeladen, sich selbst zu untersuchen.
Auch weist Pop eine Nähe zu Milieus auf, die auf die gesellschaftliche Mitte schon immer eine ungeheure Anziehungskraft ausübten, aber leider nur so halb auf der Liste des Erlaubten stehen: Bordelle, Opiumhöhlen, Spelunken, illegale Klubs, geheime Bars und Salons. Mit diesen Orten gehen Arbeitsverweigerung, exzessiver Drogenkonsum, freie Liebe, Glücksspiel und sonstige Freuden einher. Alles Dinge, die den Philosophiedozenten mit roten Wangen von seinen griechischen Lieblingsgöttern schwärmen lassen. Oder von Foucaults heterotopischen Räumen. Oder er zitiert gleich seinen Lieblingssong von den Doors.
Break on through to the – Powerpoint-Präsentation.
Pop-Konsum
Wen wundert es da, dass Pop seit vielen Jahren keinen ernst zu nehmenden Gegenspieler mehr hat. Während es in der Musikwelt noch bis in die 1990er-Jahre zumindest die Pseudorivalenpaarung Rock und Pop gab, wurde die Rockwelt inzwischen längst ohne spürbaren Widerstand eingemeindet. Dies gilt auch global für Hip-Hop-Künstler wie aktuell Kendrick Lamar oder in Deutschland für die Schlagersängerin Helene Fischer. Inzwischen halten selbst namhafte Pop-Kritiker hierzulande Helene Fischer ernsthaft für einen großen Pop-Star – und Millionen Menschen »Atemlos« für eines der größten Lieder aller Zeiten.
Pop ist immer eine Glaubensfrage. Kein erfolgreicher Künstler wehrt sich indes gegen das ewige Prinzip der Eingemeindung. Pop ist schließlich ein friedlicher Ort. Und alle wollen im Pop stattfinden.
Selbst eine Skandalnudel wie GG Allin, der sich einst live eine Bockwurst in den Hintern schob, um die Abscheu vor dem eigenen, männlichen Geschlecht zur Schau zu stellen, wäre heute – man ahnt es bereits – einfach nur noch ein Pop-Phänomen. Vermutlich ein randständiges.
Auch Lemmy Kilmister, Sänger und Bassist von der britischen Hardrockband Motörhead, tauchte in den letzten Jahren seines Lebens verstärkt in den Lieblingsgazetten von Leuten auf, die auch die vollständige Pet-Shop-Boys-Plattensammlung im Schrank stehen haben: »Being Boring«.
Pop liebt am Ende immer die Vielfalt und hat die neue Mitte, von der uns auch die Merkel-Raute immer wieder erzählt, maßgeblich mitgestaltet und portionsweise von den Rändern in sein Zentrum getragen. So hat Pop unsere Welt mit seinen Protagonisten ein Stück weit toleranter und attraktiver gemacht. Solange man nur nicht auf die Idee kommt, diese glitzernde Oberfläche, die regelmäßig einen erfrischenden Relaunch erfährt, kritisch zu hinterfragen. Denn Pop, der kein Gegenteil mehr kennt, kein Geschlecht hat und offenbar in der Lage ist, alles und jede(n) in sich aufzunehmen, lässt auf seinen Kreuzzügen des Glücks natürlich unfassbar viele Menschen auf der Strecke. Oder lässt sie erst gar nicht teilhaben. Pop kostet eine Stange Geld.
Aber auf den ersten Blick ist Pop natürlich free & easy und gibt sich so emanzipatorisch wie nichts anderes auf dieser Welt. Mal ist Pop ein kuscheliger Teddybär (Elvis Presley), hegt rebellische Sympathien für den Leibhaftigen (The Rolling Stones), spielt mit der Unschuld einer Jungfrau (Madonna) – und ist im Jahr darauf vielleicht schon wieder so gefühlskalt wie eine Schaufensterpuppe. Oder ein Topmodel. Je nachdem welche der Platten der deutschen Elektropioniere Kraftwerk gerade die Lieblingsplatte ist. Pop kann links wie rechts, ist ideologisch immer stereo, und seine Fadenzieher im Hintergrund sind so neoliberal wie Dieter Bohlens diabolisches Grinsen.
Pop is Modern Talking!
Pop schiebt die Ränder in den Mainstream und mit Strategien von Camp bis Retro auch schon mal wieder alte Mainstream-Phänomene zurück an die Ränder, von wo aus sie wieder neu erstarkt zu noch größeren Mainstream-Phänomenen werden können. Man denke nur an Tarantino-Filme, die Guardians of the Galaxy oder an Revivals wie Swing oder Easy Listening.
Aber in erster Linie lädt Pop immer wieder zur kreativen Neuerfindung ein. Oder gibt sich zumindest den Schein eines Novums – im Auftrag ewiger Jugend und Glückseligkeit für die frisch auf dem Markt stets willkommen geheißenen Teenager. Alle Protagonisten auf der Oberfläche eint im Zentrum eine immer wiederkehrende zentrale Botschaft: Konsumier mich!
Das Entwerfen von Kunstfiguren mithilfe neuester Technologien aus der Bilder- und Soundwelt, mit historischen Verweisen auf in Vergessenheit geratene Vorbilder, am liebsten noch durch eine aufgepeppte Coverversion – Pop funktioniert wie durch Instagram-Filter gejagte alte Familienfotos.
Lässt sich eine amerikanische Künstlerin wie Lady Gaga ein Rilke-Zitat auf den Arm tätowieren und ist zudem noch bekennender Fan von Madonna genauso wie von hippen jungen Electro- und R&B-Produzenten, und lässt sie sich ihr Album-Cover zu Artpop auch noch von Jeff Koons (Fan von Lady Gaga!) gestalten, dann sind erst einmal alle, vom Kunstbetrieb über die Pop-Kritik bis zum Betriebswirt, im Unterhaltungskonzern hochzufrieden. Und Lyrik-Tattoos werden über Nacht zum In-Style.
So wie es in der Maklersprache insgesamt nur drei Faktoren gibt, die für den Wert eines Objekts sprechen, nämlich »Lage«, »Lage« und »Lage«, sprechen die Umstände im Pop eine ganz ähnliche Sprache, was den Marktwert seiner Künstler betrifft. Es gibt auch hier nur drei entscheidende Faktoren: »Hits«, »Hits« und »Hits«.
Ein Kind wird sich jedenfalls vor seinen Eltern nicht lange rechtfertigen müssen, sein Taschengeld für ein neues Lady-Gaga-Album auszugeben. Es konsumiert ein erfolgreiches Produkt mit Nähe zu Kunst, Literatur und Schnullibulli. »My Artpop could mean anything«, singt die Künstlerin selbst über ihren hybriden Pop-Entwurf. Sicher lässt sich sein Geld sinnvoller ausgeben als für ein Lady-Gaga-Album, aber das ist ja nun mal eine der Grundvoraussetzungen im Pop: sein Geld zu verjubeln!
Denn erst durch den Konsum findet die den Pop erhaltende unbedingte Bejahung statt, und Künstler müssen von ihren Fans nun mal rund um die Uhr konsumiert werden, um oben im Charthimmel zu bleiben. Der Fan wird somit zum Herrscher über die Hitparade: Wer unter den Künstlern aus der Konsumentenliste fliegt, fällt schneller wieder vom Himmel als sie oder er – und alle Geschlechter dazwischen – einst aufgestiegen ist, und landet betrunken in der »bar called Heaven«.
Wer Pop konsumiert, der glaubt allein durch die Kraft der Konsumption, das Rad der Geschichte weiterzudrehen. Pop transformiert entfremdete Arbeit in ästhetische Prozesse und verlängert dabei sein Narrativ ständig. Während es in den 1980er- und 1990er-Jahren vor allem noch Musikalben oder Kinofilme waren, die zwischen 40 und 90 Minuten dauerten, liefert er seinen Konsumenten heute nicht enden wollende Serienformate: von Cliffhanger zu Cliffhanger! Womit wir jetzt fast unbemerkt von der Pop-Musik direkt ins Filmgeschäft gesprungen sind. Und das, obwohl wir bis hierher von einer diffusen Dreifaltigkeit des Pop ausgegangen sind.
Nun, ich befürchte, wir werden diese Position an dieser Stelle wieder aufgeben müssen, denn ohne das Bewegtbild und seine Medien, von Kino, TV bis YouTube und Netflix, wäre Pop von Anfang an nicht denkbar gewesen. Und wir sprachen ja schon drüber: Pop ist in der Lage, alles und jeden in sich aufzunehmen. Und sich an seiner Oberfläche ständig zu verändern.
Ohne Filmaufnahmen wäre es jedenfalls weder Elvis Presley noch den Beatles noch Madonna oder heute Rihanna oder Ed Sheeran jemals gelungen, die Massen...