Konrad Paul Liessmann
Die Bundesbildungsrepublik
Ein Streifzug durch (ver)blühende Landschaften
Es ist nun auch schon wieder zehn Jahre her, dass die Bundeskanzlerin die deutsche Bildungsrepublik ausgerufen hat. Dass Republiken von ganz oben ausgerufen werden, ist zwar eher selten, aber in Fragen der Bildung auf eine Initiative von unten zu warten, ist wahrscheinlich wirklich müßig. Bildung wird heute gewährt, nicht erkämpft. Seit ihrer Ausrufung hat sich diese Staatsform angeblich prächtig entwickelt, aus einer geistigen Wüste sollen blühende Landschaften geworden sein. Allmählich aber stellt sich die Frage, wer in dieser Republik nun eigentlich lebt. Versuchen wir eine Bestandsaufnahme der Wohnbevölkerung der Bildungsrepublik und beginnen wir, auch wenn dies wenig republikanisch anmuten mag, mit jenen lichten höheren Regionen, denen diese Republik ihre Existenz verdankt.
Die Bildungspolitiker
Setzen wir dort an, wo die Verantwortung für das gedeihliche Leben und Denken in der Bildungsrepublik übernommen wird, in der Politik. So leicht es ist, eine Bildungsrepublik auszurufen, so schwer ist es, diese dann mit Leben zu erfüllen. Minister und hohe Beamte stehen dabei vor keinen geringen Problemen. Von allen Seiten werden sie bedrängt, doch endlich das Richtige zu tun. Einmal ist es die Öffentlichkeit, dann sind es die Medien, einmal die Experten, dann die zahlreichen Stiftungen und Testkonsortien, einmal twitternde Gymnasiastinnen, dann wieder mächtige Verbände, die von der Politik die richtigen Reformen, die richtigen Initiativen, die richtigen Strukturen, die richtige Didaktik, die richtigen Universitäten, die richtigen Schulen, die richtige Ausbildung fordern – wobei sich »richtig« immer auf die eigenen, begrenzten und ideologisch gesättigten Interessen der Fordernden bezieht.
Vor allem kämpft die Bildungspolitik mit jenem Zeitgeist, den sie oft genug selbst beschworen hat und der ihren Handlungsspielraum nun empfindlich einengt. Dieser Zeitgeist artikuliert sich in den Phrasen, mit denen die Bildungspolitiker landauf, landab die Menschen versorgen: Dass Bildung die wichtigste Ressource für ein rohstoffarmes Land sei, dass Bildung niemanden ausschließen dürfe, dass Bildung zuständig für alle Formen der Integration und Inklusion sei, dass Bildung die sozialen Defizite der Gesellschaft ausgleichen könne, dass Bildung der Schlüssel für eine gedeihliche Zukunft sei, dass Bildung Wettbewerbsvorteile für alle verschaffe, dass Bildung gegen politische Vereinfacher und Verführer schütze und dass all dies gelingen könne, wenn sich die Bildung nur endlich modernisierte und auf Digitalisierung und Kompetenzen setzte. Dadurch werden die Bildungspolitiker zum Opfer ihrer eigenen Glaubenssätze. Sie versprechen einfach zu viel, was andere – die Lehrer und Schüler, die Professoren und Studenten – dann halten sollen. Das geht in der Regel nicht gut und verschärft den Druck.
Die Qualität eines Bildungspolitikers wird an den institutionellen Reformen gemessen, die er initiiert und durchführt oder wenigstens begleitend beforschen lässt. Um der in Deutschland ja immer drohenden Bildungskatastrophe zu entgehen, setzt der Bildungspolitiker Bildung mit ihrer Reform gleich. Jede pädagogische Mode artikuliert sich deshalb gleich als Reformvorhaben, das der Bildungspolitik zur Realisierung überantwortet wird. Und da kein Bildungspolitiker als Reformverweigerer – dies wäre ein politisches Todesurteil – erscheinen möchte, jagt eine Reform die andere, werden Lehr- und Studienpläne ständig verändert, adaptiert, neu gefasst und neu geschrieben, Unterrichtsmethoden werden einerseits dem pädagogischen Innovationsfuror, andererseits dem technischen Fortschritt gnadenlos angepasst, Schulformen und Studienrichtungen werden in großer Zahl neu produziert, Unterrichtsfächer neu definiert, wild zusammengewürfelt, abgeschafft oder infrage gestellt, Lehrer werden nicht mehr für die Vermittlung von Fachwissen und Kulturtechniken, sondern für soziale Kompetenzen welcher Art auch immer ausgebildet, und alle Beteiligten werden einem ständigen Verunsicherungsprozess unterworfen. Das macht das Regieren leicht, den Erwerb von Bildung aber schwer. Dass dieser dennoch immer wieder gelingt, hat weniger mit den Erfolgen der Bildungspolitiker zu tun, sondern wohl eher damit, dass sich viele Beteiligte und Betroffene den Vorgaben der Politik ohne große Worte stillschweigend widersetzen und das tun, was sie für richtig halten und immer getan haben.
Die Bildungsforscher
Kaum ein Wissenschaftszweig erlebte in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung wie die empirische Bildungsforschung. Zum einen verdankt sich dieser einer einfachen Umbenennung: Aus Pädagogen und Erziehungswissenschaftlern wurden Bildungsforscher. Keine Frage, das klingt wesentlich besser. Während auch für denjenigen, der die Etymologie von Pädagogik nicht genau kennt, in dieser noch der Knabe, das Kind mitschwingt, das auf den rechten Weg geführt werden soll, hat Erziehung seit den 1960er-Jahren ohnehin einen schalen Beigeschmack. Nur als antiautoritäre konnte sie reüssieren, und junge Menschen heute noch erziehen zu wollen, verträgt sich weder mit dem Glauben an die kindlichen Talente und Begabungen, die nur ihrer Entfaltung harren, noch mit der Autonomie der kleinen Subjekte, die keine pädagogischen Vorgaben mehr verträgt. All diese zweideutigen und missliebigen Konnotationen hat der Bildungsforscher abgeworfen, die Bildung zu erforschen, oder noch besser: zu beforschen, ist doch ganz etwas anderes, als sich zu fragen, wie eine junge Generation belehrt oder erzogen werden soll. Zum anderen gründet die Karriere der Bildungsforscher in einer ebenso einfachen wie bestechenden Überlegung: Man muss nicht wissen, was Bildung ist, es genügt, sie zu messen. Also wird tagaus, tagein gemessen, was irgendwie in den Verdacht gerät, dass es dabei um Bildung gehen könnte.
Messen kann man das, was ohnehin geschieht, oder das, was man in einem eigens konstruierten Testverfahren zur Messung arrangiert. Alles dient der Erhebung von Daten, die wieder der Bildungspolitik als Entscheidungshilfe offeriert werden. Und deshalb wird seit geraumer Zeit getestet und evaluiert, verglichen und erhoben, korreliert und prognostiziert, dass es nur so eine Freude ist. Die Lernleistungen der Dreijährigen werden ebenso flächendeckend getestet wie die Schlüsselkompetenzen der 15-Jährigen, die Teamkompetenzen der deutschen Jugend sind ebenso Gegenstand internationaler Vergleichsstudien wie die mathematischen Fähigkeiten von Studienanfängern, die finanziellen Aufwendungen pro Schüler werden ebenso erhoben wie die Lebensarbeitszeiten von Lehrern mit und ohne Pausen, die Abiturnoten vor und nach der Zentralisierung von Reifeprüfungen müssen genauesten erfasst werden, ebenso die Studienzeiten vor und nach der Einführung Bologna-konformer Studienpläne.
Das Ergebnis all dieser aufwendigen und angestrengten Bildungsforschung kann sich dann auch sehen lassen. Noch nie, so können wir zusammenfassend lesen, war eine Generation – zählt man die tertiären Abschlüsse – so gebildet wie heute, noch nie war aber auch die Rate der funktionalen Analphabeten so hoch, die Abiturnoten werden immer besser, die Studierfähigkeit nimmt aber ab. Auch in der Bildungsrepublik kommt es – und für dieses Wissen sei den Bildungsforschern gedankt – zu messbaren Unterschieden zwischen den Menschen, und irgendwie bewegt sich Deutschland bildungsmäßig immer im Mittelfeld. Aber wenn nichts geschieht, wird es untergehen. Reformbedarf ist angesagt.
Die Bildungsexperten
In der Bildungsrepublik wimmelt es von Bildungsexperten. Noch nie verstanden so viele Menschen so viel von Bildung wie heute. Überall treiben sich die Bildungsexperten herum, in den Redaktionsstuben und bei Elternabenden, in den Vorzimmern der Macht und in den Feuilletons, in den Talkshows und auf dem Campus. In früheren Leben waren sie Psychologen oder Hirnforscher, Philosophen oder Unternehmer, Physiker oder Esoteriker, nun wissen sie, wie Bildung endlich gelingt. Es gibt, bei allen herkunftsbedingten Unterschieden, einige markante Grundüberzeugungen, die die Bildungsexperten teilen. Fast alle sind gute Rousseauisten, das heißt, sie sind überzeugt davon, dass Neugeborene, Babys und Kleinkinder wunderbare, umfassend kompetente, mehrfach begabte, hoch talentierte und kreative Wesen sind, die allein durch ein antiquiertes Bildungssystem korrumpiert, gebrochen und zerstört werden. Die Welt des Bildungsexperten ist eine, in der alle Menschen nur mehr in ihrer Besonderheit gleich sind. Alle sind hochbegabt, aber jeder auf seine Weise. Unter solchen Prämissen wundert es nicht, dass der pädagogische Zeitgeist, flankiert von Genetik und Hirnforschung, nichts so sehr fürchtet wie den Durchschnitt und das Mittelmaß. Normalität ist das neue Schreckgespenst einer Zeit, in der Besonderheit zur Norm geworden ist: Nur nicht in die Durchschnittsfalle tappen, nur nicht gewöhnlich sein, nur nicht Mittelmaß, da wir doch im globalen Wettbewerb nur noch mit dem Außergewöhnlichen punkten können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Talente zu verschenken – so das Credo, das schon besser den eigentlichen Hintersinn dieser Kinderfreundlichkeit erkennen lässt.
Gemeinsam ist den Bildungsexperten eine grundsätzliche Kritik an den rezenten Bildungseinrichtungen: Diese seien antiquiert, dem Geist der Kasernenschulen des 19. Jahrhunderts verhaftet, es dominiere dort noch immer der Frontalunterricht, die einzelnen Schüler würden in ihrer Besonderheit und Individualität weder...