Maxim Biller
Max in Palästina
Eine Erzählung
Als morgens um acht am Horizont die kleinen weißen Häuser von Tel Aviv auftauchten und daneben die Umrisse des Leuchtturms von Jaffo, der sich zwischen den halb verfallenen, grauen Mauern und Dächern der dreitausend Jahre alten Hafenstadt wie eine erkaltete, riesige Fackel versteckte, war Max wahrscheinlich der einzige Passagier der Bessarabia, der nicht, gefährlich nach vorn gebeugt, an der Reling lehnte und ungeduldig die sich langsam nähernde Küste von Palästina beobachtete.
Er lag in der Kabine im Bett, allein, krank, ohne Elsa, die wie alle anderen seit dem Morgengrauen draußen auf dem Deck stand und jetzt bestimmt mit großem Ernst in die Ferne blickte, gedankenverloren am ewig kalten, viel zu süßen Tee aus der Schiffsküche nippte und sich auf ihr endlich beginnendes, neues Leben freute. Oder vielleicht war sie auch einfach nur erleichtert, dass sie Nein gesagt hatte, als er ihr vor einigen Wochen vorgeschlagen hatte, noch ein paar Tage länger in Prag zu bleiben, um einen allerletzten Kampf gegen die scheinbar unbesiegbaren tschechischen Bürokraten zu führen. Hätten sie nämlich gemacht, was er wollte, wären sie also nicht am 14. März nachts um elf am Wilson-Bahnhof ohne ihr altes dänisches Silberbesteck und ihre halbe Bibliothek in den Zug eingestiegen, der sie über Polen nach Rumänien brachte, wo die Bessarabia schon auf sie wartete, wäre er selbst gleich am nächsten Morgen von den Deutschen verhaftet worden, die sich genau in dieser Nacht den Rest der Tschechoslowakei genommen hatten. Bestimmt hätten sie ihn irgendwann nur noch als Toten aus einem ihrer Gefängnisse entlassen, keine Frage, und das hätte Elsa dann auch nicht überlebt.
Ja, kann schon sein, dachte Max und drehte sich wieder auf die andere Seite, so wie er sich schon seit zwei Stunden alle paar Minuten herumwälzte, aber wäre das wirklich so schlimm gewesen? Er wusste genau, was sie in Palästina erwartete, Franz hatte es in seiner Geschichte vom unersättlichen Seifensieder sehr deutlich und auch ziemlich schaurig beschrieben, und dass Max das Manuskript kurz vor der Abreise aus Prag vernichtet hatte, als einziges von Franz’ Papieren, änderte auch nichts mehr daran, dass er die Geschichte kannte, dass er sie gelesen hatte, dass er darum wusste, wie wenig Sinn es für ihn und für Elsa hatte, an diesem frischen, kalten Märztag so zu tun, als wären sie noch zwanzig und hätten alles vor sich.
Seltsam, dachte er plötzlich, die linke Seite war etwas besser als die rechte. Normalerweise war es doch umgekehrt, denn das Eisenkorsett, das er als Kind wegen seines schiefen Rückgrats tragen musste, hatte zwar seinen wachsenden Oberkörper gestreckt, aber zugleich noch schiefer gemacht, und darum schlief er meist auf der rechten Seite, zu Hause, in Prag, in der Ufergasse, mit dem Gesicht zum Fenster. So konnte er wenigstens gleich morgens beim Aufwachen sehen, wie der Tag werden würde, hell oder dunkel, schön oder schwer, doch hier auf dem Schiff lag er seit der Abfahrt in Constanța immer lieber mit dem Gesicht zur Wand, auf der leicht wunden, schmerzenden linken Hüfte, und stellte sich vor, dass draußen nichts war, absolut gar nichts.
Trübe, überflüssige Gedanken! Als er damals, im Sommer 1906 oder 1907, in der großen, modernen Villa von Hugos Schwiegereltern in Podbaba das auffallend schlechte Herzl-Bild über dem schweren Buffet im Wohnzimmer entdeckt hatte, konnte er nicht ahnen, wie das alles ausgehen würde, wie ernst es eines Tages werden würde, für ihn und für alle andern, die sich von diesem schwermütigen, herrischen Mann mit dem kohlschwarzen Vollbart eines assyrischen Königs ihren zukünftigen Weg vorhersagen und zugleich bestimmen ließen. Und dass das am Ende sowieso völlig egal sein würde.
Eigentlich wollten Hugo und er an diesem erstaunlich wolkenlosen Sommertag auf der Terrasse Zitronenlimonade trinken, Butterbrote essen und über Hugos unausrottbare Nietzsche- und Schopenhauer-Skepsis sprechen. Aber nachdem Max gleich beim Hereinkommen ein paar Sekunden zu lang das Herzl-Bild angeschaut hatte, fragte er Hugo, wer dieser Mann sei, und fügte hinterher mit einem von ihm selbst als merkwürdig empfundenen Lächeln hinzu: »Hoffentlich kein Verwandter.« So erfuhr er das erste Mal wirklich etwas über den Zionismus, der bis dahin für ihn nur ein Wort war, und als er ein paar Stunden später mit der Tram in die Innenstadt zurückfuhr, hatte er Hugos Exemplar des Altneuland-Romans dabei, in dem er sich sofort festgelesen hatte. An der wie immer lauten, vollen Ferdinandstraße stieg er aus, immer noch in die Geschichte des arbeitslosen Juristen und professionellen Reisebegleiters Friedrich Löwenberg und der »Neuen Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina« vertieft, und er wusste bis heute, wie erstaunt er für einen Moment darüber war, dass es in der Stadt viel wärmer, drückender war als draußen in Podbaba, im schattigen, zugigen Scharka-Tal – und wie er sich danach gefragt hatte, ob es in Erzisrael, in dem der unglückliche Friedrich Löwenberg erst viel zu spät als erwachsener Mann endgültig ankam, auch immer so heiß war.
Sein Herzl-Buch sah Hugo nicht mehr wieder. Denn nachdem Max es zu Ende gelesen hatte, wollte Franz es auch haben, aber der hatte es eines Tages einfach auf einer Parkbank im Wallensteingarten liegen lassen. »Weil es so unglaublich schlecht war, Max, weißt du«, hatte Franz zu seiner Entschuldigung gesagt, und Max war zuerst nicht sicher gewesen, ob er das wirklich ernst meinte, oder ob das nur eine typische Franz-Ausrede war. Im vielsagenden Schweigen und dem Fallenlassen doppeldeutiger Bemerkungen war er schon immer sehr geschickt gewesen, doch weil Franz ab diesem Tag wochen- und monatelang von nichts anderem mehr sprach als von Palästina, war Max irgendwann klar, dass Franz das Buch im Park wirklich vergessen hatte.
In das neue Exemplar von Altneuland, das Max und Franz gleich am nächsten Tag für Hugo bei Taubeles auf dem Obstmarkt kauften, schrieben sie ihm – nach einem Vorschlag von Franz – dann zusammen eine kleine Widmung: »Wären es nicht zufällig Pferde, müsste ich mit Säuen fahren. Für Hugo, bis bald, Max und Franz«. Aus der Seifensieder-Geschichte stammte der Satz natürlich nicht, das wäre Max später sofort aufgefallen, allein deshalb, weil er zu ihr nicht gepasst hätte, und dass er in einer ganz anderen Geschichte vorkam, die Franz bald schreiben sollte, übersah Max fast absichtlich. Als Hugo ein paar Jahre darauf über London nach Jerusalem ausreiste, sagte er zu ihnen bei seinem Abschiedsabend im Café Louvre gut gelaunt: »Ich werde die Säue nehmen, meine lieben zionistischen Freunde, aber ihr könnt, wenn ihr wollt, schon bald auf den Pferden nachkommen.«
Und was war die Bessarabia? Ein mächtiger, lauter, früher einmal bestimmt strahlend weißer Passagierdampfer, der im Krieg nach dem Angriff eines deutschen U-Boots fast im Golf von Genua untergegangen wäre, und auf dem Max, kaum waren sie vor einer Woche in Constanța an Bord gegangen, sofort krank geworden war. Heute ging es ihm auch wieder schlecht, vielleicht sogar noch schlechter als in den vergangenen Tagen. Er hatte immer noch diese mörderische Übelkeit, er zitterte und hatte auf den Armen und auf dem Bauch einen hellroten Ausschlag, und in seinem Kopf wohnte eine ganze Indianerfamilie, die den ganzen Tag und die ganze Nacht im hinteren Teil des Gehirns Kriegstänze aufführte. Trotzdem musste er jetzt bald aufstehen. Er musste sich wenigstens das Gesicht waschen und die Zähne putzen, er musste den Anzug, das frische Hemd und die dicke braune Strick-Krawatte anziehen, die ihm Elsa auf ihrer Seite des Betts bereitgelegt hatte – und er musste gleich vor der vornehmen Empfangsdelegation, die sich angeblich schon seinetwegen auf dem Kai in Jaffo aufgebaut hatte, so tun, als wäre er unendlich glücklich und erleichtert über die Heimkehr in sein neues, fremdes Zuhause, das er bislang doch nur von Fotografien und aus Büchern kannte.
Max richtete sich langsam und vorsichtig auf, um seine Kräfte zu prüfen, und weil er keine Lust mehr hatte, weiter die Wand mit der gestreiften französischen Vlies-Tapete anzustarren, so wie meistens in den vergangenen sieben Tagen und Nächten, sah er jetzt herüber zum weit aufgeklappten, runden Schiffsfenster. Der durchsichtige Vorhang davor erzitterte ab und zu leicht im Wind, es roch plötzlich ganz anders als auf offener See, viel salziger, strenger, aber auch nach Essen, das er nicht kannte, nach Abfall und toten Krabben und Tintenfischen, und seltsamerweise war plötzlich derselbe verbrannte, harzige Geruch da wie früher, wenn seine Großmutter in Gablonz am Freitagabend die Kerzen anzündete und dabei leise den Segen sagte. Unmöglich, dachte Max, das kann doch gar nicht sein! Er schüttelte ungläubig den schmerzenden Kopf und versuchte kurz durch die wehende Gardine die Farbe des Himmels zu erkennen – tiefblau und bis an die Schmerzgrenze grell, was sonst, dachte er entsetzt –, und dann stand er, immer noch sehr langsam und sehr vorsichtig, auf und ging ins Badezimmer. Dabei hörte er, wie draußen ein paar Möwen oder was auch immer es war mit ihren harten Vogelkrallen auf dem Blechvorsprung vor dem Fenster landeten und sofort anfingen, dort laut klappernd und schreiend auf und ab zu spazieren.
Obwohl Max sich im Bad am liebsten gleich wieder übergeben hätte, ließ er es einfach sein, denn davon würde ihm auch nicht besser werden, das wusste er schon. Die Säure seines Magens würde dann bloß...