Armin Nassehi
Die Atkins-Unschärferelation
Perspektiven als Intelligenzantrieb
Über die Frage der Intelligenz kann man viel am Beispiel von Daryl Atkins lernen.1 Atkins ist kein Psychologe, kein Intelligenzforscher oder Genetiker, sondern ein verurteilter Mörder aus dem US-Bundesstaat Virginia. Seine zunächst mangelnde, dann gestiegene Intelligenz hat ihm zunächst das Leben gerettet, ihn dann aber fast das Leben gekostet, gottlob nur fast. Atkins, geboren 1978, wurde 1998 wegen Mordes, Entführung und räuberischer Erpressung zum Tode verurteilt. Allerdings wurde bei ihm zum Zeitpunkt des Verfahrens ein Intelligenzquotient (IQ) von etwa 60 diagnostiziert. Das entsprach in seinem Alter etwa den geistigen Fähigkeiten eines neun- bis zwölfjährigen Kindes. In den USA liegt die untere Grenze dafür, einen Delinquenten hinzurichten, je nach Bundesstaat bei einem IQ von 70 bis 75, in Virginia beträgt der Wert 70. In einem berühmt gewordenen Prozess vor dem Obersten Gerichtshof bekam Atkins mit Hinweis auf den achten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung, der übertriebene Bestrafungen verbietet, Recht. Danach haben die Richter entschieden, dass ein geistig behinderter Mensch nicht hingerichtet werden darf, und legten die Grenze entsprechend den oben genannten Werten fest. Dies rettete Atkins tatsächlich zunächst das Leben. Zunächst.
Die Verteidigung des Verurteilten ging in Berufung und baute die neue Verteidigungsstrategie darauf auf, den niedrigen IQ als Beweis für die Unzurechnungsfähigkeit des Delinquenten anzuführen. Im Rahmen des Revisionsprozesses wurden erneut IQ-Tests an Atkins durchgeführt, die einen signifikant höheren IQ von bis zu 76 zutage brachten. Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin dafür plädiert, dass Atkins durchaus voll zurechnungsfähig sei und also keine Verschonung von der Todesstrafe verdient habe, was 2005 zu einer erneuten Verurteilung zum Tode führte. Der Hinrichtungstermin wurde auf den 2. Dezember 2002 festgelegt, die Hinrichtung jedoch ausgesetzt und das Urteil 2008 in eine lebenslange Haft umgewandelt, weil sich im Nachhinein eine Verfälschung einer Zeugenaussage gezeigt hat.
Fast hätte das Urteil des Obersten Gerichtshofes, das eindeutig festgelegt hatte, dass ein Mörder mit einem IQ unter 70 nicht hingerichtet werden darf, was ja zugleich bedeutet, dass es bei einem IQ über 70 durchaus gestattet sei, Atkins am Ende doch noch das Leben gekostet. Es soll hier nun nicht um die zumindest für Kontinentaleuropäer fremd anmutenden Formen des US-amerikanischen Strafrechts gehen, denn dort interessierte man sich offensichtlich nicht für die Zurechnungsfähigkeit und die geistige Potenz des Delinquenten während der Tat, sondern für seinen Zustand während der Hinrichtung. Das ist mindestens inkonsistent. Vielleicht sogar wenig intelligent – aber das ist nicht die Frage hier.
Vielmehr ist die Frage interessant, warum bei Atkins zum Zeitpunkt des ersten Prozesses ein viel niedrigerer IQ gemessen wurde als später. Psychologische Gutachten während der unterschiedlichen Prozessphasen haben das damit begründet, dass Atkins ganz offensichtlich während der Prozesse und während der Haft mit Eindrücken konfrontiert wurde, die seinen IQ haben steigen lassen. So habe der Häftling, der allein in seiner Zelle saß, einen Fernseher zur Verfügung gehabt, und er habe sich offensichtlich mit allerlei geistiger Nahrung versorgt. Besonders wichtig war für einen Gutachter die Tatsache, dass sich die geistigen Fähigkeiten von Atkins offensichtlich durch seinen Kontakt mit dem Gericht, mit den Verhandlungen, vor allem aber mit seinen Strafverteidigern besonders positiv entwickelt haben müsse. Dazu sei auch noch eine gewisse Routine im Umgang mit Intelligenztests gekommen. Nun geht es hier nicht um den Fall von Daryl Atkins, der bis heute in einem Gefängnis im Bundesstaat Virginia lebt.
Natur oder Kultur?
Diese Geschichte zeigt aber alle Facetten auf, die mit dem Konstrukt »Intelligenz« zu tun haben. Offensichtlich ist niemand zeitlebens gleich intelligent. Intelligenz scheint kein invariantes Merkmal einer Person zu sein, sondern ist von äußeren Einflüssen abhängig – so hilft schon Fernsehen oder der Kontakt zu einem komplexen Setting wie einem Strafverfahren dabei, intelligenter zu werden. Oder sollte ich sagen: Es hilft dabei, bei den Tests besser abzuschneiden? Schon wenn man die Tests trainieren kann, also bei Wiederholung eine gewisse Testroutine erhält und dann besser abschneidet, ist das ein Hinweis darauf, dass sie offensichtlich weniger eindeutig sind als Tests, die den Eiweißgehalt des Urins oder die Glukosekonzentration im Blut messen.
All das weist auf den Anteil genetischer, also invarianter oder wenigstens invariant vorgestellter Faktoren hin, über den in der Fachwelt wenig Einigkeit herrscht. Einer der einflussreichsten Intelligenzforscher, nämlich der Psychologe Hans Jürgen Eysenck, beziffert den Anteil der Genetik an der Intelligenz auf 70 bis 80 Prozent und schließt aus Messungen, die Schwarzen im Durchschnitt 15 IQ-Punkte weniger als Weißen bescheinigen, auf eine biologische, in diesem Sinne rassische Minderbemitteltheit von Schwarzen. Die Frage, ob es nicht eher die sozialen Stimuli, etwa in Form von Bildungsangeboten oder Varianzen von Lebensformen sind, also schlicht soziale Ungleichheiten, die die gemessenen Ungleichheiten mindestens genauso triggern, bleibt dabei ausgespart.2 Die Auseinandersetzung um den Hobbygenetiker Thilo Sarrazin im Hinblick auf die biologische Begründung der geringeren Potenz von vor allem arabischstämmigen Einwanderern geht in dieselbe Richtung. Das Atkins-Beispiel führt also auch in die große Debatte um die biologischen und kulturellen Anteile von Intelligenz.
Dieser Punkt ist eine der öffentlich vielleicht am stärksten diskutierten Fragen bezüglich der Intelligenz – und der Fall Atkins ist insofern von einer besonderen Drastik, als der Verurteilte nicht nur aus unterprivilegierten Zusammenhängen kommt, sondern auch ein Schwarzer ist. Auf diese Diskussion ist man in Deutschland tatsächlich öffentlich erst mit Sarrazin gestoßen. Sarrazins These lautete, dass durch die höheren Geburtenraten unter Migranten und damit durch die Reproduktion von minderer Intelligenz die Gesamtintelligenz der Gesellschaft abnehme. Die Blaupause für dieses Argument ist eine öffentliche Debatte in den USA der 1990er-Jahre über ein Buch von Charles Murray und Richard Herrnstein mit dem Titel The Bell Curve.3 Gemeint ist die Glockenkurve nach dem Modell der Gauss’schen Normalverteilung, nach dem der IQ gebildet wird.
Die beiden Wissenschaftler haben die oben schon erwähnte IQ-Differenz von 15 Punkten zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung der USA als einen Beweis dafür angeführt, dass es zwischen Weißen und Schwarzen eine tatsächlich biologisch begründbare Differenz gebe, weswegen man die schwarze Geburtenrate durch Streichung von Transferleistungen senken solle. Abgesehen davon, dass die Streichung von Transferleistungen und damit die Erhöhung sozialer Ungleichheitsraten womöglich eher zum gegenteiligen Effekt führen könnte, ist das Argument von Murray und Herrnstein schon aus methodischen Gründen völlig indiskutabel. Es kann letztlich nur Ressentiments bedienen, denn den Anteil der statistischen Varianz von »Intelligenz« in unterschiedlichen Gruppen kann man nur messen, wenn man Populationen mit gleichen Umweltbedingungen miteinander vergleicht. Aber gerade das gilt für den Fall der schwarzen im Vergleich zur weißen Bevölkerung in den USA nicht. Die Argumente der »Bell Curve« wurden denn auch heftig kritisiert, und zwar sowohl sozialwissenschaftlich im Hinblick auf die unterschiedlichen Umweltbedingungen der unterschiedlichen Gruppen, aber auch biologisch im Hinblick auf epigenetische und evolutionsbiologische Fragen. Die wichtigsten Autoren dieser Debatte waren Richard Lewontin, Steven Rose, Leon J. Kamin und Stephen J. Gould.4
Die Hauptkonfliktlinie ist also diejenige zwischen der Frage erworbener und zugeschriebener Merkmale im Hinblick auf Intelligenz. Ganz sicher wird es in Gruppen mit gleichen Umweltmerkmalen eine große Varianz hinsichtlich der Intelligenz geben, aber diese Varianz lässt sich nur dann als gruppenspezifisch deklarieren, wenn man alle anderen Einflüsse statistisch kontrollieren kann. Und hier fängt das Intelligenzthema erst an, interessant zu werden – und auch hier ist das Beispiel von Atkins ein sehr lehrreiches Beispiel. Innerhalb dieser tragischen Geschichte verändert sich der Topos Intelligenz von einem geradezu substanziell vorgestellten Merkmal einer Person zu einem Ergebnis von Praktiken, von Erfahrungen, von akzidentellen Merkmalen, die auch anders hätten ausfallen können. Es ist gewissermaßen der Unterschied zwischen natürlicher Substanz und kultureller Veränderbarkeit – wenn man Natur als eine Chiffre für alles verwendet, was in ein Reich der Notwendigkeit, der Eindeutigkeit und Unveränderbarkeit gehört, und Kultur als Chiffre für Freiheit, historische und systematische Varianz und damit auch Veränderbarkeit.
Dass die Unterscheidung eines Reiches der Notwendigkeit und eines Reiches der Freiheit so längst nicht mehr funktioniert, ist heute unbestritten. Denkt man an Forschungen über Epigenetik, geht man inzwischen davon aus, dass die Aktivierung von Genen während eines Lebensverlaufs von äußeren Faktoren abhängig ist und epigenetische Veränderungen während eines Lebenszyklus zu beobachten sind, die nicht auf Variation und Selektion beruhen und sogar weitervererbt werden können. Es geht also letztlich um eine...