2 Grundlegende Kennzeichen des »gestörten« Schlafs
Dieses Kapitel gibt nun einen Überblick über den »gestörten« Schlaf und was ihn kennzeichnet. Zudem befasst es sich mit den wichtigsten und gebräuchlichsten Klassifikationssystemen der Schlafforschung und Schlafmedizin, die zur Diagnosestellung für Schlafstörungen verwendet werden.
2.1 Begriffserklärung: Schlafstörung
»Der Schlaf hat ein Imageproblem. Unermüdlichkeit, Durchhaltevermögen und Schlafverzicht finden gesellschaftliche Anerkennung. Wer aber rasch ermüdet, schnell einnickt oder zeitig zu Bett geht, wird belächelt. Ausgiebig zu schlummern gilt in der Leistungsgesellschaft als verlorene Zeit, als Luxus, den man sich allenfalls am Wochenende oder im Urlaub erlauben darf« (Schäfer, 2009, S. 11). Gerade deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Anzahl der unter Schlafstörungen leidenden Menschen in der Bevölkerung stetig zunimmt. Die Ursachen hierfür sind vielfältig (Penzel, 2005). Hauptauslöser sind heute vor allem Hektik, Alltagsstress, Überbelastung, sozialer und beruflicher Druck sowie die damit zusammenhängenden nächtlichen Grübeleien über die Zukunft (Koella, 1988; Meier, 1997–2010; Riemann, 2007a). Störende Umwelteinflüsse wie Umgebungstemperatur oder Lärm, verhaltensbedingte Faktoren wie zum Beispiel Lesen und Fernsehen im Bett oder die Einnahme schlafbeeinträchtigender Substanzen wie Alkohol, Nikotin und Schlafmittel können den Nachtschlaf ebenso beeinträchtigen wie genetische Prädisposition und erworbene organische oder psychische Pathomechanismen (Meier, 1997–2010; Möller, Kapfhammer & Laux, 2008; Penzel, 2005; Riemann, 2007a). Die intensive Beschäftigung der Betroffenen mit den möglichen Konsequenzen ihrer Schlaflosigkeit führt zusätzlich zur Aufrechterhaltung des Krankheitsbildes (Riemann, 2007a). Vor allem ältere Menschen sehen den Grund ihrer Schlafprobleme in körperlichen Beschwerden, die häufig aus einem Mangel an Bewegung, fetter, kalorienhaltiger Ernährung und einem übermäßigen Schlafverhalten (ausgedehnter Tagesschlaf, zu frühes Zubettgehen, langwirkende Schlafmittel) resultieren (Meier, 1997–2010; Penzel, 2005). Herzkreislaufstörungen und organische Folgeerkrankungen wie Diabetes mellitus sind in diesem Zusammenhang keine Seltenheit. Grundsätzlich lassen sich in der Literatur Befunde dafür finden, dass Lebensstil und Schlafqualität miteinander korrelieren (Meier, 1997–2010).
Fast jeder Fünfte berichtet von Einschlafstörungen oder wiederholtem nächtlichen Erwachen (die folgenden Ausführungen nach Meier, 1997–2010). Insbesondere ein großer Anteil der Hausfrauen (30,1 %), die in der Gesellschaft eher ein geringes Ansehen haben, in finanzieller Abhängigkeit leben und zu Selbstzweifeln neigen, klagen über eine verminderte Schlafqualität. Tendenziell berichten Menschen mit niedrigem Bildungsgrad und geringem Verdienst signifikant häufiger von Schlafproblemen als hoch Gebildete und gut Verdienende. Demnach scheinen Faktoren wie Selbstwertsteigerung, finanzielle Handlungsspielräume und gutes Lebensgefühl, die durch die Berufstätigkeit bedingt sind, eine positive Wirkung auf den Schlaf zu haben. Den besten Schlaf scheinen Beamte zu haben.
Es stellt sich nun die Frage, wie ein gestörter Schlaf vom gesunden Schlaf abzugrenzen bzw. zu definieren ist.
Schlafstörungen sind zunächst einmal Beeinträchtigungen der normalen Schlaffunktion. Diese werden verursacht durch Ein- und Durchschlafprobleme, Störungen der Schlafdauer, der Schlafqualität oder des Schlafzeitpunkts (Dorsch, Häcker & Becker-Carus, 2004). Häufig sind sie ein oder das Symptom einer von zahlreichen somatischen oder psychischen Erkrankungen, sie können jedoch auch als selbstständiges Krankheitsbild bestehen (Bandelow, Falkai & Gruber, 2008). Da Schlaf ein subjektives Phänomen mit individuellem Schlafverhalten und Lebensumständen ist, werden in der Abgrenzung zum gestörten Schlaf Beschwerden jedes einzelnen Patienten berücksichtigt und analysiert (Hajak & Rüther, 1995). Alle während des Schlafs auftretenden Störungen müssen prinzipiell mit einigen zentralen Kriterien einhergehen, um als klinisch relevante Schlafstörung diagnostiziert werden zu können (Fröhlich, 2002). Dazu gehören: zeitliche Merkmale, ersichtlicher Leidensdruck und Beeinträchtigungen des sozialen und beruflichen Lebensalltags (Fröhlich, 2002). Ist dies nicht der Fall, handelt es sich bei der vorliegenden Schlafbeeinträchtigung um eine normale, temporär auftretende Abweichung des subjektiven Normschlafs (Fröhlich, 2002). Diese ist dann meist nur von kurzer Dauer und zieht keine weitreichenden Folgeschädigungen der Gesundheit nach sich.
Schlafstörungen gehören neben Kopfschmerzen zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden in der Bevölkerung (Koella, 1988; Penzel, 2005). Einer Umfrage des Statistischen Bundesamts zufolge leiden rund 25 % der Erwachsenen Bevölkerung an Schlafstörungen, über 10 % der Befragten erfahren ihren Schlaf als nicht erholsam (Penzel, 2005). Frauen leiden generell häufiger unter Schlaflosigkeit als Männer (Meier, 1997–2010; Penzel, 2005). Gegebenfalls hat dies einen evolutionären Ursprung, da Frauen früher zur Sicherheit des Nachwuchses ihre nächtliche Umgebung stärker überwachten als Männer (Meier, 1997–2010). Bei diesen wiederum lassen sich eher Schlafstörungen mit Tagesschläfrigkeit finden (Penzel, 2005; Rodenbeck & Hajak, 2006). Der Befund geschlechtsabhängiger Prävalenz von Schlafstörungen wird in der Forschungsliteratur, beispielsweise durch die bundesweit repräsentative Gesundheitsumfrage des Robert-Koch-Instituts (RKI) von 1998, vielfach gestützt (vgl. Penzel, 2005). Wie in Abbildung 6 ersichtlich ist, steigt die Prävalenz starker Schlaflosigkeit mit zunehmendem Alter an, dies geschieht geschlechtsunabhängig. So steigt die Schlaflosigkeit in der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen von 2,5 % bei Frauen und 0,7 % bei Männern auf 13,2 % bei Frauen und 5,7 % bei Männern im Alter von 70 bis 79 Jahren an. Die Spitze der Krankheitsrate findet sich beim weiblichen Geschlecht bei den 50- bis 69-Jährigen, beim männlichen Geschlecht in der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen.
Abb. 6: Altersverteilung der Schlaflosigkeit bei Frauen und Männern. Quelle: Bundesgesundheitssurvey 1998, RKI (eigene Darstellung in Anlehnung an Penzel, 2005).
Die Konsequenzen der Schlafstörungen sind sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Gesellschaft vielfältig (Hajak & Rüther, 1995). Chronische Schlafstörungen, schlafmedizinische Erkrankungen sowie ein über längere Zeit andauerndes Schlafdefizit können aufgrund der geschmälerten oder gar ganz ausbleibenden Erholungsfunktion für Körper und Geist weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen (Penzel, 2005). Die häufigsten Folgen sind Befindlichkeitsstörungen, einhergehend mit Reizbarkeit und Tagesschläfrigkeit, Müdigkeit, Konzentrationsproblemen, Leistungseinschränkungen wie zum Beispiel verlängerte Reaktionszeiten sowie vermehrte Fehlreaktionen und Unfälle im Straßenverkehr oder am Arbeitsplatz (Penzel, 2005). Zudem können Veränderungen der relativen Schlafstadienanteile, die Gesamtschlafdauer sowie die Kontinuität der Schlafzyklen massive Modifikationen der an die Schlafstadien gebundenen körperlichen Funktionen wie zum Beispiel Muskeltonus, Blutdruck, Stoffwechsel usw. bedingen (Penzel, 2005). Ebenso kann die mangelhafte Schlafqualität medizinische Folgeerkrankungen nach sich ziehen, wie zum Beispiel Übergewicht und Diabetes begünstigen und das Immunsystem schwächen (Penzel, 2005; Pollmächer, 2009). Ein sehr anschauliches Beispiel für die Beeinträchtigungen, die aus einem langfristigen Schlafentzug resultieren, ist der offizielle Schlafrekord, der Mitte der 1960er Jahre von einem 17-Jährigen Studenten aus San Diego, Randy Gardner, aufgestellt wurde (Schäfer, 2009). Dieser schaffte es 264 Stunden und 12 Minuten, das sind insgesamt etwa 11 Tage, nicht zu schlafen (Schäfer, 2009). Gardner berichtet, bis zum 5. Tag seines Rekordes sehr euphorische Gefühle erlebt zu haben, mit fortschreitender Schlaflosigkeit sei er jedoch zunehmend aggressiv oder reizbar geworden und habe unter Gedächtnis- und Wahrnehmungsstörungen gelitten (Schäfer, 2009). Gegen Ende habe er dem unwiderstehlichen Schlafzwang nachgegeben, um nach 14 Stunden und 40 Minuten Schlaf wieder vollständig erholt zu erwachen (Schäfer, 2009). Die Folgen des Schlafentzugs im Rahmen des Schlafrekords sind enorm und zeigen, welche Ausmaße ein dauerhaft defizitärer Schlaf annehmen...