Vers 38 - Wer das LEBEN hochhält, ...
Wer das LEBEN hochhält, weiß nichts vom LEBEN; darum hat er LEBEN.
Wer das LEBEN nicht hochhält, sucht das LEBEN nicht zu verlieren; Darum hat er kein LEBEN.
Wer das LEBEN hochhält, handelt nicht und hat keine Absichten.
Wer das LEBEN nicht hochhält, handelt und hat Absichten.
Wer die Liebe hochhält, handelt, aber hat keine Absichten. Wer die Gerechtigkeit hochhält, handelt und hat Absichten.
Wer die Sitte hochhält, handelt, und wenn ihm jemand nicht erwidert, so fuchtelt er mit den Armen und holt ihn heran. Darum: Ist der SINN verloren, dann das LEBEN.
Ist das LEBEN verloren, dann die Liebe. Ist die Liebe verloren, dann die Gerechtigkeit. Ist die Gerechtigkeit verloren, dann die Sitte.
Die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit und der Verwirrung Anfang.
Vorherwissen ist des SINNes Schein und der Torheit Beginn.
Darum bleibt der rechte Mann beim Völligen und nicht beim Dürftigen.
Er wohnt im Sein und nicht im Schein. Er tut das andere ab und hält sich an dieses.
Wer DE hochhält,
weiß nichts vom DE;
darum hat er DE.
Wer von der Tugend (DE) spricht, wer sie proklamiert, sie „hochhält“, handelt nicht aus seiner Natürlichkeit, sondern künstlich. Wer aber nicht um die Tugend weiß, sondern aus reinem Herzen in Unschuld gut ist, der hat wahre Tugend. Denn wahre Selbstlosigkeit weiß nichts von sich selbst. „Hochhalten“ tut also die Tugend in Wirklichkeit derjenige, der „nichts von ihr weiß“, der nicht wegen eines „Du sollst“ oder wegen einer Norm so ist, sondern weil er gar nicht anders kann, da er ansonsten gegen sein Herz und damit gegen seine Natur handeln würde.
Auch kann „Tugend hochhalten“ (shang4 de2) als Eigenbegriff, ‚höchste Tugend‘, bedeuten. Der daoistische Großmeister und Abt des Louguantai-Tempels [Der Louguantai ist der legendäre Grenzpass, an dem Laozi sein Daodejing hinterlassen haben soll. Er befindet sich im Zhongnan Gebirge in der Nähe von Xian] und als höchster Daoist lebendiger Staatsschatz der VR China, Daozhang Ren Farong, zieht daher und aufgrund obiger Bedeutung den Begriff ‘Shangde’ mit ins Wuji hinein, in das reine Nichts. Somit erhält ‚Shangde‘ die Qualität ursprünglichster Reinheit und kann nur in Absichts- und Selbstlosigkeit, also im ‚Nicht-Handeln‘ (Wuwei) gelebt und erfahren werden.
Gleich im ersten Vers des Abschnittes DE des Daodejing erklärt uns Laozi also bereits genauestens seine Deutung des Begriffes DE (genau wie bereits im ersten Vers des Abschnittes DAO über das DAO), der im Deutschen mit den Begriffen Tugend, Leben oder Wirkkraft beschrieben werden kann. Vom Schriftzeichen her sehen wir ursprünglich auf der linken Seite zwei Füße oder auch zwei Menschen, die einen Weg beschreiten, bzw. es wird der Teil eines Weges dargestellt. Daneben ein Kreuz mit geraden Strichen, darunter ein Auge und ein Herz. Es bedeutet somit: „der Weg, aus reinem Herzen geradeaus zu schauen“. Dass wir in dem Radikal links auch zwei Menschen erkennen, gibt uns eine sehr schöne Metapher, dass es sich hier nicht bloß um allein und still gelebte Weisheit, sondern um ein aktives Miteinander handelt. Vergleichen wir dies mit unseren ersten zwei Zeilen oben, wird sofort klar, dass Laozis Tugend nicht mit dem Begriff von Moral gleichgesetzt werden möchte. Im Gegenteil. Siedelt er Moral als ganz unten auf der ethischen Treppe an (siehe weiter unten), so steht (Shang-)DE doch gleich unter dem DAO. Es ist die Wirkkraft, durch die das DAO erschafft; das DAO wirkt durch DE – so auch der Mensch, der vom DAO beseelt ist, nur durch DE, also tugendhaft, handeln kann. Es ist sein natürliches Bestreben, keine aufgesetzte Moral. Denn sein Handeln kommt aus der Wahrnehmung der Quelle, des letztendlich und vor allem Guten, aus dem alles geworden ist – dem DAO. Aber tugendhaft ist nur ein Begriff für das äußere Verhalten eines solchen Menschen. Denn das DAO wirkt durch ihn, und somit ist er direkt der kosmischen Wirkkraft (DE) des Ganzen angeschlossen, ist Teil dieser Kraft und wirkt in dieser Kraft. Das macht ihn zum Berufenen, zum Heiligen.
Dieser Vers ist sinnvoll auch so zu übersetzen:
„shang4 de2 bu4 de2 shi4 yi3 you3 de2“ – ‚Höchstes DE ist nicht De, daher hat es DE.‘ (‚Höchste Tugend ist keine Tugend, daher hat sie Tugend.‘)
Denn das höchste DE weiß nichts von sich selbst und seinem ‚De‘ [Zu den unterschiedlichen Schreibweisen von DAO/Dao und DE/De siehe die Einleitung], und ist daher das höchste DE. Oder: Wer Tugend hochhält, hat keine Tugend. Aber wer keine Tugend hat (sondern auf natürliche Weise gut ist), der hat Tugend. Bzw. die höchste Wirkkraft ist sich seiner Tugend nicht bewusst, aber ausschließlich (und gerade dadurch) vollständige Tugend.
Der Grund also (shi4 yi3), warum etwas durch DE geführt wird, bzw. De hat oder nicht, liegt in der Selbstverständlichkeit bzw. Natürlichkeit seiner Ausübung.[Vgl. hierzu den Begriff ,zi4 ran2 - von selbst, Natürlichkeit‘, der in den Versen 17, 23, 51, 64 und am bekanntesten in Vers 25 vorkommt und den späteren Daoismus sehr geprägt hat.]
Wer DE nicht hochhält,
sucht das DE nicht zu verlieren;
darum hat er kein DE.
Wer bemüht ist, unbedingt tugendhaft sein zu wollen, der wird künstlich und entfernt sich somit vom DAO. Es ist einfach: Je mehr ich die Erfahrung des DAO mache, um so mehr beginnt DE in mir zu wirken. Mache ich diese
Erfahrung aber nicht und will ich mir De, als Wirkung von DE, durch bloße Verstandeskraft aneignen, bleibt es immer aufgesetzt. Es kann daher in schwierigen Situationen so nicht aufrecht erhalten werden, da es nicht meiner Natur entspricht, nicht mein Eigen ist, sondern nur etwas, was ich quasi mit mir herumführe und sinnbildlich vor Schreck fallen lassen kann. Die Wirkkraft DE wirkt zwar durch alle Menschen. Aber in seiner Reinheit und Führungskraft entfaltet es sich erst durch unsere Einung mit dem DAO, das ja gleichsam das DE ist. Ansonsten ist es nur wie das Spiegelbild des Mondes im Wasser, aber nicht der Mond selber.
Wörtlich:
„xia4 de2 bu4 shi1 de2 shi4 yi3 wu2 de2“ - ‚Niederes De (will) DE/De nicht verlieren, daher ist es ohne DE/De‘.
Kurz: Wer ständig tugendhaft sein will, hat keine (innewohnende) Tugend. Sie kommt nicht aus dem Herzen. Die Tugend, die aus dem Herzen kommt, ist keine Tugend, da sie ein natürlicher Zustand ist. Und gerade daher ist letztere die wahre Tugend!
Anmerkung: Wie kann ich, wenn sie mir nicht von Geburt an gegeben ist, zu solch einer natürlichen Tugendhaftigkeit kommen, wenn ich sie doch nicht absichtlich ansteuern kann? Wie komme ich zur Reinigung meines Herzen (vgl. u.a. die Verse 3, 49, 67), sodass alles andere von selbst kommt (vgl. die Verse 23, 32, 51, 57 und 73)? Durch vertiefte und korrekte Praxis des Wuwei, des Nicht-Handelns, sodass Körper und Geist zur Ruhe kommen und ihr eigentlicher Grundzustand (vgl. Vers 6) wieder hervortreten kann. Der Sinn (Dao) für Tugend (De) entsteht durch die Absichtslosigkeit. Ein reines Herz, ein reiner Verstand und ein geläuterter Körper sind die besten Voraussetzungen für wirkliche und echte Tugend, sprich die Erfahrung von DAO und DE. Andersherum: Wo weder Herz noch Verstand gereinigt sind und wo der Körper immer noch mehr will, als er braucht - wie könnte da Tugend etwas anderes sein, als Mittel zum (Selbst-)Zweck?
Aber natürlich soll dies nicht heißen, dass, solange DE nicht erfahren wird, es nicht sinnvoll und lobenswert ist, sich beabsichtigt tugendhaft zu verhalten. Im Gegenteil. Durch stets tugendhaftes Bemühen wird sich wahre Tugend mit der Zeit einstellen - wenn dieses Verhalten aus dem ehrlichen Wunsch nach Mitgefühl und selbstloser Liebe entspringt und nicht dem Erhaschen von Anerkennung. Daher zieht Daozhang Ren Farong eben auch diese ‚niedere Tugend‘ (xia4 de2) als Eigenbegriff (Xiade) in den Bereich des Taiji im Sinn des gewordenen Seins (You/Wanwu) als bewusstes menschliches Handeln hinein, wenn auch hier nur in seinen Beschränkungen (vgl. Vers 1).
So wie also aus Wuji Taiji entsteht, sollte sich die ‚höchste Tugend‘, die reine Wirkkraft (DE), als ‚niedere Tugend‘ (De) im menschlichen Handeln widerspiegeln. Anfänglich vielleicht aus bewusstem Handeln und Streben nach dem über allem stehenden ‚Guten‘ (also über der Dualität von Gut und Schlecht), letztlich aber aus der Selbstvergessenheit reiner Urkraft.
Wenn wir uns auf den von Wilhelm so schön benutzten Begriff „LEBEN“ beziehen (siehe seine Übersetzung zu diesem Vers am Anfang dieses Kapitels), kann man verkürzt anmerken, dass, wer um sein Leben nicht zu große Sorge trägt, wer im Hier und Jetzt lebt, „LEBEN“ hat, sprich ‚lebt‘! Wir wollen auch hier noch die mystische Seite bedenken: „LEBEN“, ewiges, wahrhaftiges Leben, hat der, der absichtslos in Zeit und Raum selbstvergessen einfach im Hier und Jetzt lebt. Er währt beständig außerhalb des Dualismus, wirkt aber zeitlich in ihm. Wie kann Tod geschehen, wenn die Person aus der eigenen Wurzel, dem Nichts heraus, in Zeit und Raum agiert? Wo Absichtslosigkeit herrscht, da ist kein Wollen. Wo kein Wollen ist, ist im Innersten kein Ereignis. Wo kein Ereignis ist, ist weder Zeit noch Raum. Wo weder Zeit noch Raum ist, kann nicht gestorben werden. Die agierende Person stirbt. Nicht aber ihre ursprüngliche Natur, das absichtslose Sein selbst, das tief im Nicht-Sein wurzelt. Ganz so, wie DE...