Wie alles begann
Im Herbst 1962 besuchte Fräulein Heide Grenz, gerade zweiundzwanzig Jahre alt geworden, im Hamburger Amerika-Haus, dieser damals noch existierenden fabelhaften Institution in der Nähe des Dammtorbahnhofs, eine Podiumsdiskussion, an der auch Theo Sommer von der Wochenzeitung Die Zeit teilnahm. Es ging um die deutsch-amerikanischen Beziehungen unter dem Anfang 1961 ins Amt gekommenen demokratischen US-Präsidenten John F. Kennedy und dessen Verhältnis zur NATO und zu dem störrischen Bundeskanzler Konrad Adenauer, der dann ein Jahr später, fünf Wochen vor Kennedys Ermordung, als Kanzler zurücktrat. Ich rufe mir das hier selber in Erinnerung, denn in der Rückschau verliert man die zeitlichen Dimensionen doch leicht aus den Augen. So steht bei mir Adenauer für das »alte« Westdeutschland in grauer Vorzeit, Kennedy hingegen als Inbegriff für meine, unsere Zeit, und das eigentlich bis heute. Seine so kurze, nur gut zweieinhalb Jahre währende Amtszeit hat mich begeistert und geprägt und ist mir immer noch sehr lebendig, als sei es gestern gewesen.
Aber es ging auch um die Beziehungen des Westens zum sogenannten Ostblock, den Kalten Krieg und die Situation Westberlins. Immerhin war am 13. August 1961, also nur ein Jahr zuvor, die Berliner Mauer gebaut worden, die Situation war noch neu und schockierend. Noch heute habe ich die näselnde Eunuchenstimme von Walter Ulbricht und seinen sächsischen Dialekt im Ohr, wie er am 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz die Frage einer Journalistin von der Frankfurter Rundschau mit den Worten beantwortete: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Und acht Wochen später geschah es dann doch. Da war also viel Aufklärungs- und Diskussionsbedarf, aber an dem Abend im Amerika-Haus ging es nicht nur um die Ereignisse hier bei uns, sondern auch um den Krieg der Amerikaner in Vietnam.
Theo Sommer faszinierte und beeindruckte mich auf Anhieb, und ich fing an, seine Zeitung zu lesen. Und fasste den Entschluss: Da will ich arbeiten! Man muss vielleicht wissen oder sich in Erinnerung rufen, wie die Situation damals in Westdeutschland war: Vollbeschäftigung, Arbeitskräftemangel, Gastarbeiter. Stellenanzeigen noch und noch in den regionalen und überregionalen Tageszeitungen. Allein der Stellenmarkt einer Samstagsausgabe des Hamburger Abendblatts war doppelt so dick wie die ganze Zeitung heutzutage. Und es wurden tatsächlich Stenotypistinnen und Sekretärinnen gesucht, nicht etwa studierte Assistentinnen mit EU-Zertifikat und auch nicht männliche Sekretäre oder Assistenten der Geschäftsleitung. So gesehen war es das »Zeitalter der Frauen«, aber in einem anderen Sinn, als wir es heute gerne sähen. Es war die Zeit vor ’68 und vor Alice Schwarzer. Ohne weibliches Personal in den Vorzimmern der Büros und Vorstandsetagen, ohne die dienstbeflissenen, fleißigen Arbeitsbienen lief gar nichts, und noch in den Siebzigern sang Konstantin Wecker in einem Song, der mir sehr ans Herz ging: »Was tat man den Mädchen, die wie Schirme und Nelken/liegen gelassen in Vorzimmern welken?« Ja, so war es, viele von uns gingen ganz in ihrer Arbeit auf, liebten womöglich ihren verheirateten Chef, wie es mir dann ja auch geschah, und vergaßen, dass sie auch ein eigenes Leben hätten haben können, ja sollen.
Nun, ich hatte nicht vor zu verwelken, sondern versprach und erhoffte mir ein interessantes, anregendes Leben, erfüllt von der Arbeit, die ich mir nun bei der Zeit suchen wollte. Auf fünf Bewerbungen kamen damals sechs Zusagen – und das sofort. Auch Initiativbewerbungen lagen hoch im Kurs und hatten Erfolg, und – es ist unschwer zu ahnen – das war meine Strategie.
Geschnatzt und wieder aufgesatzt wie die Grimm’sche Gänsemagd, allerdings mit kurzen Haaren, marschierte ich im Februar 1963 mit meinen noch spärlichen Zeugnissen zum Hamburger Pressehaus am Speersort, stieg in den Paternoster und landete im fünften Stock beim weiblich bewohnten Glaskasten. Die junge Dame – es war die unglaublich dicke, aber wahnsinnig nette, sanguinische, höchst appetitliche Sonja mit dem tollen schwarzen Lidstrich, deren bloße Gegenwart wie Seelenbalsam wirkte – machte einen Anruf und schickte mich direkt weiter zur Personalabteilung, wo ich sofort bei Frau von Rechenberg vorgelassen wurde. Nach kurzem Studium meiner Unterlagen und einem ad hoc arrangierten Gespräch mit Marion Gräfin Dönhoff, damals Leiterin der politischen Redaktion und stellvertretende Chefredakteurin, bekam ich, schwupps, allerdings nicht ohne eindringliche gräfliche Ermahnung, dass es pünktlichen Feierabend wohl kaum geben würde, die Anstellung als Sekretärin in der politischen Redaktion. So einfach war das damals im boomenden Westdeutschland. Ich war genau dort, wo ich hinwollte, und ab sofort zuständig für vier Redakteure und einen noch zu erwartenden Volontär. Dieser war Kai Hermann, später berühmt geworden mit seiner Stern-Reportage »Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«. Die Redakteure waren Theo Sommer (Außenpolitik, NATO und transatlantische Beziehungen), Hans Gresmann dito, mit glanzvoller Stilistik, Dietrich Strothmann mit Schwerpunkt Israel und Rolf Zundel (Innenpolitik).
Aber als ich dann Mitte Februar erwartungsvoll meinen Dienst antrat, war Theo Sommer gar nicht da. Er absolvierte gerade für drei Monate eine Hospitanz bei der Londoner Sonntagszeitung The Observer, mit der die Zeit eine Art Kooperation vereinbart hatte. Gräfin Dönhoff, die ihrerseits weltweite Verbindungen zu den bedeutendsten Journalisten und Politikern pflegte, hatte ihn dort hingeschickt. Man wollte den Anschluss an internationale Standards des Zeitungmachens nicht verpassen, und Sommer sollte sich umsehen und etwas Flair und Know-how von den Londoner Zeitungsmachern mit nach Hamburg bringen. Ich konnte es kaum erwarten, ihn persönlich kennenzulernen. Telefoniert hatten wir schon, und auch meine Taillenweite hatte ich ihm bereits durchgegeben, denn wie den anderen Damen auf der Redaktion machte er auch seiner neuen, von der Gräfin eingestellten und ihm noch unbekannten Sekretärin das Angebot, einen echten schottischen Kilt und das dazu passende Cashmere-Twinset von Pringle aus London mitzubringen, und zwar zu einem sehr viel günstigeren Preis als auf dem Kontinent. Solche Kleidungsstücke gab es in Hamburg nur für teures Geld bei Ladage & Oelke, dem Traditionsgeschäft am Neuen Wall, wo man auch die unverwüstlichen hauseigenen Dufflecoats mit den Knebelknöpfen aus Leder kaufte, die ein Leben lang hielten und von Schülern, Studenten, 68er-Revolutionären, radfahrenden Lehrern und Professoren bis ins hohe Alter getragen wurden.
Das Angebot, mir auch einen Kilt mitzubringen, und zwar einen echten Männerkilt – das war ja das Besondere – mit dieser enormen Weite, in die sieben bis acht Meter feinster, in dichte Falten gelegter Wollstoff verarbeitet werden, konnte ich nicht ablehnen. Keine Ahnung, wie Sommer die Stücke damals durch den Flughafenzoll bekommen hat, ich müsste ihn mal fragen … Die Größe von Kilt und Twinset bemaß er nach dem übermittelten Taillenumfang, und so stellte er sich seine neue Sekretärin als zierliches, schmächtiges Mädchen vor. Schlank war ich wohl, aber doch auch hochgewachsen, und das hat ihn, neben einigen anderen »Features«, umgehauen, als wir uns dann endlich sahen.
Theo Sommer war damals zweiunddreißig Jahre alt. Er war einer der ersten jungen Deutschen gewesen, die nach Krieg und raschem Abitur zum gesponserten Studium ins Ausland gehen konnten: ein Jahr Schweden, ein Jahr Chicago, wo zwei amerikanische Lehrerinnen ihn förderten und für ihn bürgten. Nach Erfahrungen als Redakteur bei der Rems-Zeitung in Schwäbisch Gmünd hatte die Gräfin ihn 1958 zur Zeit geholt. Er war verheiratet mit einer fast zehn Jahre älteren, sehr schmalen, zerbrechlich wirkenden Griechin, die er in Chicago an der Uni kennengelernt hatte, und Vater von zwei Söhnen, der ältere neun, der zweite gerade mal ein Jahr alt. Seine Frau war während des Zweiten Weltkriegs in Griechenland Partisanin gewesen. Sie bekam, als ihr Pass ablief, in den USA kein neues Visum mehr und hätte ausreisen müssen. Sommer war fasziniert von ihrem levantinischen Wesen und ihrem exotischen Aussehen, heiratete sie und rettete ihr so das Leben, denn mit einem deutschen Pass konnte ihr nichts mehr geschehen, während sie mit ihrem abgelaufenen griechischen Pass nirgendwo mehr hin konnte und in ihrem Heimatland bei der Einreise sofort verhaftet und vermutlich umgebracht worden wäre.
Schon sehr jung, mit dreiundzwanzig, war Sommer zum ersten Mal Vater geworden. In den ersten Jahren in Deutschland, in Schwäbisch Gmünd, verdiente die studierte Biochemikerin das Geld für die Familie, während Sommer zwar schon journalistisch tätig war, aber doch sein Studium bis zur Promotion bei Hans Rothfels in Tübingen noch zu Ende bringen wollte. Den ersten Sohn, den heute sechsundsechzigjährigen Journalisten Jerry Sommer, nahmen sie oft mit nach Griechenland, wo sie jedes Jahr mehrere Wochen in Athen die Familie besuchten und anderswo Ferien machten. Sie hatten einen VW-Käfer ohne Schiebedach und fuhren damit die fast dreitausend Kilometer lange Strecke durch Österreich, dann über den nach dem pechschwarzen Dieselabgas stinkenden und mit Schafherden, Rindern und Hühnern bevölkerten einspurigen Autoput durch Jugoslawien und schließlich über die kurvenreichen Staub- und Schotterstraßen Griechenlands, die einen schwindelig machten vor Hitzeflimmern, gefährlichen Biegungen und steilen Abgründen. Unter Anleitung seiner Frau entwickelte...