Führung und Change Management
Thilo Leipoldt, Markus Schwemmle
Prolog
Verkürzte Produktlebenszyklen, steigender Wettbewerbs- und Innovationsdruck, rasante Entwicklung technischer Innovationen, Internationalisierung, der Wandel zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft stehen stellvertretend für die zunehmenden Veränderungen, denen Unternehmen ausgesetzt sind. Die Verdichtung und Beschleunigung von Arbeitsprozessen bei einer gleichzeitigen Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen prägen die moderne Arbeitswelt. Daraus ergeben sich neue Anforderungen an Führung in Unternehmen. In vielen Unternehmen betrachten Führungskräfte Veränderungen noch nicht als zu ihrem Führungsalltag dazugehörige Selbstverständlichkeit.
Häufige Reaktionsmuster von Führungskräften in Veränderungsprojekten
Reaktionsmuster Regression: Der erste Schreck und die Ablehnung aus Mitarbeiterperspektive
Wenn Führungskräfte über Veränderungsabsichten informiert werden, reagieren viele im ersten Schritt ablehnend. „Das geht bei uns nicht.“, „Das haben wir noch nie so gemacht.“, „Das funktioniert bei uns eh nicht.“ sind typische Aussagen. Die ersten Reaktionen sind sehr emotional. Durch gerunzelte Stirn und geweitete Augen lässt sich der Schreck vom Gesicht ablesen. Mit den Fragen: „Was soll das jetzt noch?“ oder „Was sollen wir noch alles tun?“ drücken Führungskräfte ihr Unverständnis aus. Führungskräfte fühlen sich häufig den Veränderungen hilflos ausgeliefert und rutschen in eine Opferhaltung hinein. Sie nehmen die Sicht ihrer Mitarbeiter ein und erklären als vermeintlich verantwortungsvolle Führungskraft, dass die Veränderung den Mitarbeitern nicht zuzumuten ist.
Reaktionsmuster Opferhaltung: Ablehnung aus der eigenen Führungsperspektive
Im zweiten Schritt verharren Führungskräfte häufig in der Opferhaltung. Sie verlassen zwar die Mitarbeiterperspektive und besinnen sich auf ihre Führungsrolle. Aber sie befürchten, dass sie ihrer Führungsaufgabe nicht mehr gerecht werden können. Hierbei geht es um die Angst, dass im Rahmen der Auswirkungen der Veränderung, Mitarbeiter nicht mehr die erwartete Leistung erbringen oder sogar die guten Mitarbeiter nicht mehr zu halten sind. „Wie soll ich meine Ziele erreichen, wenn die Mitarbeiter frustriert sind oder resignieren?“ In dieser Phase wollen Führungskräfte die Verantwortung für die Gestaltung der Veränderung nicht übernehmen. Führungskräfte fürchten sich davor, von Mitarbeitern die Schuld für die Veränderung „in die Schuhe geschoben“ zu bekommen.
Reaktionsmuster Widerstand: Ein autopoietisches Phänomen
Die typischen Reaktionen von Führungskräften auf Veränderungen werden gerne als Widerstand bezeichnet. Auch wir als Berater sind mit diesem Phänomen konfrontiert. „Was machen Sie hier eigentlich?“, „Wozu brauchen wir sie?“ oder „Warum sollten wir das nicht alleine hinbekommen?“ sind die freundlichen Varianten, von Fragen, die wir zu hören bekommen. Lassen Sie uns diesen Widerstand einmal als autopoietisches Phänomen betrachten. Autopoiesis ist ein naturwissenschaftliches Konzept aus der Biologie nach dem sich bis auf Zellebene ein Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung beobachten lässt. Der Soziologe Niklas Luhmann beobachtete, dass Kommunikation in sozialen Systemen ähnlich abläuft wie die Selbstreproduktion und Selbsterhaltung lebender Organismen. Damit ist der verstärkende Faktor für Widerstand Selbstgefährdung oder anders gesagt, das erlebte Gefühl von Überforderung. Durch die Arbeitsverdichtung sehen sich viele Führungskräfte sowieso rastlos im Hamsterrad rennen. Veränderungen gestalten wird nicht als originäre Führungsaufgabe gesehen, sondern als etwas Zusätzliches. Schneller rennen hilft nicht mehr.
Überforderung geht stets mit starken negativen Gefühlen, wie Angst, Furcht und Inkompetenz einher. Wer seine eigene Veränderungsfähigkeit stärken will, muss einen konstruktiven Umgang mit Überforderungssituationen und die Beeinflussung seiner Gefühle (Emotionsmanagement) lernen. Ziel ist stets, möglichst schnell aus der Haltung des sich hilflos ausgeliefert Fühlens wieder in eine Gestalterrolle zu kommen. Dabei hilft eine entsprechende Art der Selbststeuerung. Damit gehört zu Führung im Kontext von Change Management im ersten Schritt immer die Selbst-Führung: Eigene Emotionen managen, in Veränderungen auch Chancen sehen und sich selbst in eine Gestalterrolle bringen. Hilfreiche Gedanken dabei sind: „Es ist völlig normal für mich, Veränderungen im Alltag umzusetzen. In jeder Veränderung steckt etwas Neues und Besonderes. Und gerade dieses Besondere macht die Gestaltung der Veränderung für mich zu einer spannenden und interessanten Aufgabe.“
Integration der Unternehmensperspektive
Erst wenn Führungskräfte bereit sind, das Veränderungsvorhaben auch aus Unternehmensperspektive zu erkennen, beginnen Führungskräfte wieder in eine Gestalterrolle zu kommen. Mit Abstand aus einer Art Metaperspektive integrieren sie die unterschiedlichen Sichtweisen, die der Mitarbeiter, des Unternehmens und ihre eigene. Jetzt ist für Führungskräfte ein Gesamtbild auf Chancen und Risiken möglich. Das ist die Voraussetzung, dass Führungskräfte den Veränderungsprozess mit gestalten.
Zwei Seiten einer Medaille!
Führung und Change Management werden häufig als zwei unterschiedliche Themen gesehen. Das eine ist Führung: das operative Alltagsgeschäft mit stabilen Prozessen, die es am Laufen zu halten gilt. Und dabei wird jede Veränderung als Störung erlebt. Das andere ist Veränderungsmanagement. Und die Veränderungsprojekte werden von den meisten Führungskräften als zusätzliche Arbeit zur ihrer „normalen“ Führungstätigkeit verstanden. Es scheint sich dabei um weithin verbreitete Glaubenssätze zu handeln.
Woher kommt diese Überzeugung, dass Führung und Change Management zwei verschiedene Themen sind? Ist es der Glaube an ein vergangenes Märchen? „Streng dich an, damit aus dir was wird.“ Und dann in eine Führungsposition aufgestiegen, „habe ich es geschafft und hier bleibe ich jetzt.“ Führungskräfte, die so ihre Zeit aushalten lernen, stellen sich innerlich restriktiv auf. Selbststeuerung und Selbstorganisation, die auf diese Art und Weise gelebt werden, tragen dazu bei, dass Menschen nach dem autopoietischen Prinzip Neues in Frage stellen und Bestehendes bewahren. Stark ausgeprägt benennen die Business-Querdenker Förster und Kreuz diese Menschen „Requisiten mit Herzschlag“.
Seit Jahren wird im Rahmen der Führungskräfteentwicklung gepredigt, dass die Anzahl, die Geschwindigkeit und die Komplexität von Veränderungen stetig steigt. Diese Dynamik setzt sich fort und trotzdem scheint diese Botschaft im Leben von Führungskräften nicht angekommen zu sein. Anscheinend lässt sich die Bereitschaft für Veränderung nicht diktieren und die innere Einstellung „Jetzt bin ich Führungskraft, jetzt habe ich es geschafft.“ ist zu stark im Gen Pool unserer Kultur verankert.
Nach dem traditionellen Führungsverständnis funktioniert Führung nach dem Motto: „Der eine sagt es. Der andere macht es.“ Spätestens im Change Prozess erleben Verantwortliche, dass dieses lineare Wirkungsmodell, bei dem eine klare Ansage für ein gewünschtes Verhalten sorgt, nicht funktioniert.
Einen weiteren Grund, Führung und Change Management als zwei getrennte Themen zu betrachten, sehen wir darin, dass Menschen im Rahmen ihrer Sozialisation darauf gedrillt werden, Erwartungen anderer zu erfüllen. Das geschieht meist schon im Elternhaus, spätestens jedoch in der Schule, in der Ausbildung oder im Studium und im Berufsleben. Schließlich kommen Menschen irgendwann an die Grenze, nur Erwartungen anderer erfüllen zu wollen. An dieser Stelle ist nicht die Frage des Könnens gemeint, im Sinne von Fähigkeit, sondern des Wollens, im Sinne von „Was will ich?“ und „Was ist mir wichtig?“. Die Bereitschaft für Veränderungen kommt aus der inneren Bereitschaft und Motivation zur eigenen Entwicklung. Veränderungen auf Grund von Entwicklungsprozessen sind etwas ganz natürliches. Erinnern Sie sich an Ihren Weg von Ihrer Geburt bis heute, wie viele Anpassungsprozesse, Sie schon erfolgreich bewältigt haben. Sie kamen als zwei Hände voll Mensch auf diese Welt und konnten lediglich schreien, saugen und schlafen. Heute können Sie weit mehr. Zum Beispiel auch diese Zeilen lesen. Auf einiges sind Sie stolz und anderes hat beim Lernen womöglich auch noch Spaß gemacht. Veränderung gehört zum Leben, wie Ihr Atmen und Ihr Herzschlag.
In diesem Verständnis liegt die große Chance für...