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Die Diagnosestellung
Seit einiger Zeit ist bekannt, dass es sich beim Autismus um ein Phänomen handelt, das mit spezifischen Besonderheiten in der Hirnentwicklung einhergeht (z. B. Bauman, Kemper, 1994). Dessen ungeachtet wird er bisher nur auf der Grundlage der Beurteilung des Verhaltens einer Person diagnostiziert. Das bedeutet, dass der Kinder- und Jugendpsychiater ein Kind beobachtet und seine engsten Bezugspersonen befragt, um die Diagnose stellen zu können. Bei Erwachsenen erfolgt die Diagnose ebenfalls durch einen Psychiater.
Die Diagnosestellung erfordert viel Erfahrung. In der Zwischenzeit gibt es zwar Verfahren, die einem Untersucher helfen sollen, geeignete Untersuchungssituationen zu schaffen, seine Beobachtungen auf bestimmte Verhaltensbereiche zu lenken und auch das Interview mit den Eltern zu führen. Dennoch bleibt ein Interpretationsspielraum. Deshalb haben viele Kinder im Laufe ihrer Entwicklung eine Reihe unterschiedlicher Diagnosen erhalten.
Als auffällig bei einem Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum gelten insbesondere:
eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion,
eine qualitative Beeinträchtigung der Kommunikationsfähigkeit und
beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten.
Zu jedem dieser Bereiche existiert eine Palette möglicher Symptome, von denen eine genau definierte Anzahl zutreffen muss, damit die Diagnose gerechtfertigt ist. Es handelt sich also stets um eine Summationsdiagnose: das gemeinsame Auftreten verschiedener Symptome ist entscheidend.
2.1 Die Symptome
Ein einzelnes Symptom, wie der auffällige Blickkontakt, ist für eine Autismus-Spektrum-Störung so unspezifisch wie Fieber für eine Erkältung. Fieber ist dabei oft, aber nicht zwangsläufig zu beobachten und kann auch bei anderen Erkrankungen auftreten.
So ist es auch mit jedem Symptom, das zu einer Autismus-Spektrum-Störung gehören kann: es kann auch typisch für eine bestimmte Entwicklungsphase sein. Dies trifft z. B. auf die Echolalie zu. Hierbei handelt es sich um das Wiederholen von Worten oder Sätzen. Eine Echolalie kann spontan auftreten, wenn man das Kind z. B. fragt: »Möchtest du etwas trinken?« und es antwortet: »Möchtest du etwas trinken?« Sie kann aber auch verzögert sein. Dann wiederholt das Kind vielleicht den ganzen Tag einen Werbejingle, den es am Morgen während der Fahrt in die Schule im Auto gehört hat. Einige Kinder ohne Entwicklungssauffälligkeiten echolalieren in einer frühen Phase ihres Spracherwerbs ebenfalls.
Andere Symptome, die im Rahmen einer Autismus-Spektrum-Störung auftreten können, existieren auch im Zusammenhang mit anderen Störungen und Behinderungen, wie die Stereotypien. Stereotypien sind funktionslos erscheinende Bewegungsabläufe, wie das Wedeln mit den Händen, das Schaukeln mit dem Oberkörper, das Drehen von Objekten oder das Rieseln mit Sand. Kinder, die in einem extrem anregungsarmen Umfeld aufgewachsen sind, zeigen ebenfalls stereotypes Verhalten.
Kein einziges Symptom tritt einzig und allein nur in Zusammenhang mit einer Autismus-Spektrum-Störung auf. Darüber hinaus können die Symptome auch unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Grenze zu dem, was man als »normal« bezeichnet ist unscharf. Menschen aus dem autistischen Spektrum sind sehr unterschiedlich. Schließlich handelt es sich ja auch jeweils um eine eigene Persönlichkeit mit einer individuellen Symptomkombination in ihrer spezifischen Ausprägung.
Doch selbstverständlich durchdringen die drei oben genannten Bereiche der Persönlichkeitsentwicklung sich gegenseitig. Die Sprache begleitet das soziale Verhalten eines Menschen und ist selbst ein wichtiger Teil von ihr. Schwierigkeiten in der Kommunikation sind zugleich Schwierigkeiten im Sozial- und Kontaktverhalten. Dass fehlende Kommunikationsmöglichkeiten u. a. zu problematischem Sozialverhalten führen können, ist naheliegend.
Im Bereich der sozialen Interaktion reichen die Besonderheiten von der Unfähigkeit, auf den eigenen Namen erwartungsgemäß zu reagieren, bis hin zu Problemen, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen.
Es gibt Kinder, die scheinen jeden sozialen Kontakt abzulehnen und am zufriedensten zu sein, wenn man sie allein lässt. Dann gibt es solche, die soziale Annäherung zulassen, aber nicht von sich aus initiieren. Und schließlich existiert eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum, die zwar aktiv Kontakte aufnehmen wollen, aber dies in ungeeigneter Art und Weise versuchen (Dodd, 2007, S. 98).
Die Besonderheiten in der Kommunikationsfähigkeit reichen vom Ausbleiben der verbalen Sprachentwicklung über die sogenannte Echolalie bis hin zu Schwierigkeiten, »zwischen den Zeilen zu lesen« und übertragene Bedeutungen und Körpersprache zu verstehen.
Die beschränkten, repetitiven und stereotypen Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten können sich darin zeigen, dass diese Menschen Stereotypien oder Spezialinteressen haben, mit denen sie sich sehr intensiv beschäftigen. Für Aktivitäten aus anderen Lebensbereichen hingegen sind sie kaum zu interessieren. Oft beharren sie darauf, dass bestimmte Aspekte ihrer Umwelt unverändert bleiben, so z. B. zeitliche Abläufe, die Anordnung von Spielzeug im Zimmer oder welche Wege zum Einkaufen gegangen werden.
2.2 Was die Diagnose erschwert
Das Diagnosealter für eine Autismus-Spektrum-Störung ist in der Bundesrepublik noch immer viel zu hoch (Keenan, Kerr, Dillenburger, 2015, S. 24). Es liegt beim Frühkindlichen Autismus bei sechs Jahren, beim Asperger-Syndrom erfolgt die Diagnosestellung noch später. Dabei werden Mädchen oft später diagnostiziert als Jungen (Fröhlich et al., 2014, S. 3).
Die Gründe dafür sind vielfältig: Einige Eltern wissen zu wenig über frühkindliche Entwicklungsschritte und sehen keinen Grund zur Besorgnis. Dies könnte mit den soziologischen Entwicklungen zu tun haben. Man braucht zwar zum Autofahren einen Führerschein, das Kindererziehen lernt man aber nicht. Wo Familien nicht mehr im Verbund zusammenleben, sieht man nicht mehr regelmäßig Kinder aufwachsen, und gibt es keine Alten, die mit ihren reichen Erfahrungen die jungen Mütter und ihre kleinen Kinder begleiten können.
Charis H., eine Mutter, die in einem Interview zu Wort kommt, fand ihren erstgeborenen und später mit frühkindlichem Autismus diagnostizierten Sohn im Vergleich zu anderen Kindern sogar »viel lieber«, weil er sich in ihren Augen so ausdauernd allein beschäftigen konnte. Nachvollziehbarer Weise sah sie keinen Grund, deshalb einen Facharzt aufzusuchen.
Andere Eltern können zum Schutz der eigenen Psyche die abweichend verlaufende Entwicklung ihres Kindes nicht wahrhaben. Vor allem aber sind viele Kinderärzte, die für besorgte Eltern die ersten professionellen Ansprechpartner sind, nicht ausreichend informiert. Einige können frühe Hinweiszeichen nicht deuten, andere fürchten, Eltern unnötig zu beunruhigen oder ein Kind zu stigmatisieren. Schließlich variiert die Entwicklungsgeschwindigkeit von Kindern auch. Viele haben keine Kenntnis von Anlaufstellen für weiterführende Diagnostik und Beratung für die Eltern, wie regional existierende Therapiezentren. Auf diese Weise geht wertvolle Zeit für Frühförderung verloren.
So kommt es für einige Familien zu einer langen und belastenden Zeit der Suche nach Erklärungen für das Verhalten des Kindes. Da viele Kinder im Autismus-Spektrum nicht auf Ansprache reagieren, wird bei ihnen zunächst vermutet, sie seien hörbehindert. So war es auch bei den Söhnen von Anne L. und Sabine H., die für dieses Buch interviewt wurden. Anne L.s Sohn erhielt nach Ausschluss einer Hörbeeinträchtigung zunächst die Diagnose Entwicklungsverzögerung, vor allem Sprachentwicklungsverzögerung, später wurde ein Problem mit der Wahrnehmungsverarbeitung vermutet, bevor endlich ein frühkindlicher Autismus festgestellt wurde.
Auf die Diagnose reagieren Eltern unterschiedlich. Für Anne L. und den Vater ihres Kindes war sie ein Schock, wie auch für Horst E., für den zunächst »eine Welt zusammengebrochen« ist. Für Sabine H. hingegen war sie eine Erleichterung, weil sie ihr endlich Klarheit darüber gab, wieso sich ihr Sohn so ungewöhnlich entwickelte. Auch Charis H. hat die Diagnosestellung als hilfreich erlebt, weil sie glaubte, ihrem Kind nun endlich helfen zu können.
In keinem Fall wurden die Eltern nach der Diagnosestellung professionell...