Leben ohne Rezept
Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche.
Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden, Wissen könnt’ er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung.
Xenophanes
Als ich diese Sätze zum ersten Mal las, haben sie mich verblüfft wie kein anderer Satz eines abendländischen Denkers davor. Und danach. Ein seltenes Kleinod intellektueller Redlichkeit und Einsicht. Und wahrscheinlich gibt es heute – zweieinhalb Jahrtausende, nachdem diese Hexameter geschrieben wurden – keinen ernst zu nehmenden Naturwissenschafter, der ihnen nicht schlicht und einfach zustimmen würde.
Spätestens seit das imposante, elegante, scheinbar felsenfeste Gedankengebäude Newtons vor 100 Jahren von Einstein ins Wanken gebracht wurde, wissen die Physiker, dass sie mit Vermutungen, Annäherungen und Hypothesen arbeiten. Mit vielleicht sehr schönen, sehr brauchbaren Theorien, die aber jederzeit durch neue, bessere ersetzt werden können. Sie wissen es und versuchen sich durch Nachdenken, durch Ausprobieren der Wahrheit zu nähern. Sie wissen aber, dass es immer nur eine Annäherung geben wird. Einstein selbst hat seine Relativitätstheorie als Eintagsfliege bezeichnet, weil er wusste, wie kurzlebig Theorien sein können und wie rasch sie durch neue, bessere, verdrängt werden können, die ihrerseits natürlich auch nur eine begrenzte Lebensdauer haben.
Oder wie Xenophanes es ebenso bescheiden formulierte: »Nicht von Beginn an enthüllen die Götter den Sterblichen alles, aber im Laufe der Zeit finden wir, suchend, das Bess’re.«
Man mag sich gar nicht vorstellen, wie viel sinnloses Leid der Menschheit erspart hätte werden können, wenn diese Zeilen die Beachtung gefunden hätten, die sie verdienen.
Da ich im Gegensatz zu meiner Frau, die jahrelang am Grauen Kloster (klingt nur so, ist aber einfach ein humanistisches Gymnasium in Berlin) mit Latein und Altgriechisch vollgepumpt wurde, weder die eine noch die andere Sprache je gelernt habe (auch spätere Versuche, das Latinum während meiner paar Semester am Dolmetsch-Institut nachzuholen, verliefen im Sande), weiß ich nicht, wie diese Worte von Xenophanes im Original klingen. Aber im Grunde weiß das niemand. Höchstens wie sie geschrieben wurden. Aber wie sie klangen, können wir eben nur vermuten.
Eines wissen wir allerdings ziemlich sicher: Das größte Leid wurde immer dann den Menschen zugefügt – und wird es heute noch, Tag für Tag, mit unverminderter Grausamkeit –, wenn andere Menschen glauben, im Besitz einer gesicherten Wahrheit zu sein, und diese mit Zähnen und Klauen, und was immer sie sonst bei der Hand haben, verteidigen. Aber eine Wahrheit, die keine Fragen zulässt, keine Diskussion, keine Kritik, ist keine Wahrheit, sondern ein Dogma. Und Dogmen müssen immer, da ja Vernunft und Logik als Prüfinstrumente nicht zugelassen werden, mit Gewalt verteidigt werden. Egal, ob sie von Diktatoren, von politischen Parteien oder von Glaubensgemeinschaften aufgestellt wurden.
Wenn Diktatoren oder politische Parteien jede Form von Kritik gewaltsam unterdrücken, bedeutet das, dass sie vielleicht nicht so ganz von der Wahrheit ihres Systems überzeugt sind, aber gerne den Istzustand beibehalten wollen. Mit allen Mitteln. Das ist nicht sehr sympathisch, aber immerhin nachvollziehbar.
Aber was ist mit den Glaubensgemeinschaften? Die heißen doch offenbar so, weil sie etwas glauben. Warum tun sie dann aber so, als ob sie etwas wüssten? Und das sogar sicher? Dann würden sie doch Wissensgemeinschaften heißen, oder?
Ich schreibe diese Zeilen wenige Tage nach dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo. Viele Vertreter des Islams haben sich am Tag danach von diesem Anschlag distanziert und erklärt, das sei Terrorismus und habe nichts mit dem Islam zu tun. Genau in jenen Tagen wurde ein Mann in Saudi-Arabien zu zehn Jahren Gefängnis und 1000 Peitschenhieben verurteilt, der es gewagt hatte, im Internet regierungs- und religionskritische Fragen zu stellen. Und die infame Behauptung aufgestellt hatte, der Islam, das Juden- und das Christentum wären gleichwertige Religionen, eine Kurzfassung der Ringparabel des großen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing. Genau in jenen Tagen beschloss der Sultan von Brunei, die Scharia wiedereinzuführen, die unter anderem Homosexualität und Ehebruch mit Steinigung bestraft. Genau in jenen Tagen wurde in Afghanistan ein unverheiratetes Liebespaar von religiösen Fanatikern geköpft. Genau in jenen Tagen wurden unschätzbar kostbare, 3000 Jahre alte, also »vorislamische« Kunstwerke von den IS-Truppen als Götzenbilder zerstört. Hat das auch nichts mit dem Islam zu tun?
Natürlich hat es. Aber, Vorsicht, nicht nur mit dem Islam! Der fällt zwar zurzeit besonders unangenehm auf, es hat auch über sein Verbreitungsgebiet nie auch nur der leiseste Hauch von Aufklärung geweht, aber im Grunde zeigen seine gewaltbereiten Fundamentalisten nur das wahre Gesicht aller Religionen.
Religionen haben immer, wenn sie die Macht dazu hatten, Gewalt, Zerstörung und Grausamkeit für durchaus probate Mittel zu ihrer Behauptung und Verbreitung angesehen. Und es können schon morgen in Nordirland Bomben hochgehen und zwischen Katholiken und Protestanten die Fetzen fliegen.
Ich glaube, es war Jassir Arafat, der gesagt hat: »Die meisten Kriege finden statt, um herauszufinden, wer den stärkeren unsichtbaren Freund hat.« Es würde doch dem hartnäckigsten Atheisten kaum einfallen, den Vatikan, den Mailänder Dom oder Notre Dame, als Götzenbilder zu zerstören. Für solche Aktionen bedarf es wirklich der Religion. Egal welcher.
Die Christen und die Moslems haben sich zwar besonders ausgezeichnet, aber auch das Alte Testament strotzt von Grausamkeiten aller Art. Den Gehorsam eines Mannes zu prüfen, indem man von ihm verlangt, seinen eigenen Sohn zu schlachten, ist doch eine Perversion, zu der nur ein Gott fähig ist. Aber der Gott des Alten Testamentes ist ja ein grausamer, eifersüchtiger, kleinlicher und rachedürstender. Es wurde auch bei den Juden gerne gesteinigt. Dabei fällt mir einer meiner Lieblingswitze ein:
In Galiläa, Kanaan oder Nazareth, also irgendwo im Heiligen Land, soll eine Ehebrecherin gesteinigt werden. Alle stehen im Kreis um sie herum, jeder hat einen Stein in der Hand – bereit, zu werfen.
Da tritt Jesus unter sie und sagt: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!«
Verlegene Pause.
Einer nach dem anderen legt seinen Stein auf den Boden, einer nach dem anderen verdrückt sich murrend.
Da kommt eine Frau, hebt einen Stein auf und wirft ihn nach der Sünderin.
Jesus dreht sich verblüfft um, schaut betreten zu Boden und sagt kopfschüttelnd, mit leisem Vorwurf in der Stimme: »Mama!«
Bei den Christen wurde ja nur deshalb nicht gesteinigt, weil es in den von ihnen dominierten Ländern weniger Steine gab, dafür mehr Bäume. Genug Holz, um Scheiterhaufen zu errichten – also wurde nicht gesteinigt, sondern verbrannt. Geschmackssache. Aber wenn es um Grausamkeit ging, haben sich die Christen nie lumpen lassen. Kreuzzüge, Pogrome, Inquisition und der Dreißigjährige Krieg haben in der Geschichte des Abendlandes tiefe Narben hinterlassen.
Papst Nikolaus V. hat in einer speziellen Bulle dem portugiesischen König für seine Amerika-Raubzüge genaue Anweisungen gegeben. Sein Rezept war: »… die Länder zu erobern, ihre Bewohner zu vertreiben, zu unterjochen und in die ewige Knechtschaft zu treiben.« Das war ein Aufruf zum Sklavenhandel.
Jedes bessere Kloster hatte auch bald Sklaven – für die Landwirtschaft und zur persönlichen Bedienung. Martin Luther hat jedem Mann, der gegen die aufständischen Bauern kämpfte, einen Bauern umbrachte und dabei selbst ums Leben kam, einen Platz im Himmel versprochen. Zwar nicht auch noch 72 Jungfrauen, aber die Ähnlichkeit mit dem Dschihad ist doch verblüffend.
Mastro Titta, der legendäre Henker des Kirchenstaates, hat unter sechs Päpsten gedient und über 500 Todesurteile vollstreckt. Mit der Axt, der Keule, dem Strang und der Guillotine. Das letzte Todesurteil im Kirchenstaat wurde 1870 vollzogen, also ungefähr 100 Jahre, nachdem Leopold II. die Todesstrafe in der Toscana abgeschafft hatte, unter dem letzten »Papstkönig«, Pius IX., der im Ersten Vatikanischen Konzil nicht nur die »Unfehlbarkeit des Papstes« zum Dogma gemacht hat, sondern der auch 1874 allen Menschen, die sich aktiv oder passiv an den Wahlen beteiligen sollten, mit Exkommunikation drohte. Und der nebenbei auch die Schriften des kritischen Theologen Johannes Günther verbot, der ein enger, langjähriger Freund meines Ur-Urgroßonkels Emanuel Veith...