Die Mittelschicht ist bis heute ein soziologisch weitgehend unerforschtes Terrain. Mittelschichtkundler finden sich vor allem unter den Literaten, die sich für die Brüche und Abgründe hinter den glänzenden Fassaden interessieren, weniger unter den Sozialforschern. Diese empfinden die saturierte Mitte oft als wenig aufregend. Die Mitte gilt als unbestimmt, wenn nicht gar undefinierbar. Auch die ideologischen Überhöhungen der Mitte stimmen viele Soziologen skeptisch. In der öffentlichen Debatte wird die Mittelschicht nämlich oft verhätschelt: Ihre Belange sollen im Zentrum politischer Bemühungen stehen, sie wird vor Wahlen umgarnt, Marktwirtschaftler sorgen sich um allerlei Lasten, die sie zu tragen hat, Familienpolitiker bemühen sich immer stärker um ihre »Qualitätskinder«, und Moralwächter beschwören ihre vermeintlichen Tugenden. Dabei ist die Mitte Objekt vieler Interessen und Zuschreibungen: Leistungsträger, besserverdienend, ausgleichendes Zentrum und Ruhepol, Stabilitätsanker und Wohlstandszone, Steuerzahler, Max und Erika Mustermann, gute Gesellschaft, Hort der bürgerlichen Werte, mediokre Masse, Träger des Gemeinwesens, Quell wirtschaftlicher Prosperität, Otto Normalverbraucher.
In der Soziologie ist das Thema »Mitte« erst mit neuen Gefährdungen derselben aktuell geworden. Nachrichten zur sozialen und mentalen Lage der Mitte gelten dabei oft als wichtige Wasserstandsmeldungen für die Lage der Gesellschaft insgesamt. Die Bundesrepublik verstand sich lange Zeit als mittelschichtfreundliches Wohlstandsland, geprägt von hohem Lebensstandard und einem dicht geknüpften Sicherheitsnetz. Aus dem Rückspiegel betrachtet, war sie, so könnte man sagen, trotz Massenarbeitslosigkeit ein soziales Idyll. Unter materiellem Mangel, Abstiegserfahrungen und sozialer Exklusion schienen nur wenige zu leiden, die Mittelschicht jedenfalls nicht. Die Mehrheit konnte sich in der Gewissheit wiegen, dass sie ihren Teil des Kuchens abbekommen würde. Zugang zu Lebenschancen, kollektiver Aufstieg und Wohlstand waren fester Bestandteil des Projekts eines gelingenden Lebens und nordeten bei vielen den inneren Kompass ein.
Schien die Mitte bislang gegen größere Erschütterungen abgeschirmt, ja immunisiert zu sein, häufen sich seit einigen Jahren die Indizien dafür, dass der Wind sich gedreht haben könnte. Wohlstandswachstum und Aufstiegsgarantie können immer weniger als Standardprogramm der Mittelschichtexistenz gelten. Zwar ist die Lage der Mitte auch von konjunkturellen Zyklen abhängig, es gibt jedoch eine Reihe langfristiger Trends der gesellschaftlichen Restrukturierung, welche die Mitte als weniger stabil und gesichert erscheinen lassen als bisher. Das gilt für die Bundesrepublik, stellt sich aber noch dramatischer dar, wenn man in die USA, nach Südeuropa oder in einige Länder Westeuropas schaut. In vielen Staaten mit Marktwirtschaft und demokratischer Verfassung kann man durchaus von einer Krise der Mitte sprechen, und auch hierzulande sieht sich die Mittelschicht zunehmend in einer Lage, die von Prekarisierungsrisiken und Aufstiegsblockaden gekennzeichnet ist. Nicht alle diese Veränderungen sind dramatisch (einige schon!), aber für eine sicherheitsverwöhnte und statusorientierte Mitte halten sie grundlegende Irritationen bereit. Die Selbstgewissheit der Mittelklassen nimmt ab, die Wohlstandsfrage kehrt zurück und mit ihr das Thema der Verteilungsgerechtigkeit. Diese Verschiebungen innerhalb der sozialen Ordnung betreffen nicht allein die Mitte, sie scheint allerdings besonders nervös darauf zu reagieren.
All diese Veränderungen vollziehen sich langsam und oft kaum spürbar. Es ist nicht so, dass eine große Welle auf den Strand zuläuft und die Sandburgen der Mittelschicht überflutet. Wir haben es vielmehr mit einer schleichenden Erosion zu tun. Die fast schon zu Mantras verkommenen Großtrends Globalisierung, Individualisierung, Liberalisierung und Privatisierung tragen ebenso zur Verunsicherung der Mitte bei wie das Bröckeln des sozialdemokratischen Grundkonsenses, der Westdeutschland lange Zeit prägte. Mit dem Aufstieg des neoliberalen Projekts, das auch von Teilen der Mittelschicht begrüßt wurde, gerieten zugleich Werte wie Solidarität und die Verpflichtung auf das Gemeinwohl ins Wanken. Die Einkommensschere öffnete sich, die Vermarktlichung sozialer Lagen nahm Fahrt auf, die Gesellschaft verwandelte sich immer mehr in eine Wettbewerbsgesellschaft. Die Mittelschicht war an der Verbreitung marktbasierter und individualisierter Formen des Sozialen nicht ganz unbeteiligt, geriet aber angesichts flexibilisierter Betriebsamkeit und kalter ökonomischer Leidenschaften zunehmend unter Druck. Statuspanik und Anpassungsstress haben zugenommen, dasselbe gilt für die Notwendigkeit, sich im gesellschaftlichen Positionsgefüge zu behaupten. Viele Menschen treibt die Sorge um, durch neue Gefährdungen in Nachteilslagen zu geraten, den gewohnten Wohlstand nicht halten oder den eigenen Kindern keinen Aufstieg ermöglichen zu können.
Die Politik steht in dieser Situation vor einem Trilemma: Erstens muss sie sparen, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren und dem Diktat der globalen Finanzmärkte zu entsprechen; zweitens scheut sie höhere Belastungen für die mobilen Wohlhabenden; und drittens sieht sie sich immer häufiger mit unzufriedenen Angehörigen der Mittelschicht konfrontiert, die ihre Bedürfnisse nach Sicherheit und gerechter Beteiligung am Wohlstand artikulieren.
Wirksame Therapieansätze, um der wachsenden Verunsicherung zu begegnen, gibt es bislang kaum. Staatlich verordnete Gleichheit hat als Reformperspektive längst ausgedient. Die Antwort auf die Verunsicherung der Mittelschicht kann aber auch nicht darin bestehen, klientelistische Belohnungspolitiken aufzulegen. Wohltaten und Vollkaskoschutz für die Mitte – das wäre ein falsch verstandener Befriedungs- und Beruhigungsansatz, eine schlechte Medizin. Gegenüber sozialtherapeutischen Ansätzen, die Menschen auffordern, ihre »gelernte Hilflosigkeit« (Assar Lindbeck) zu überwinden, ist ebenfalls Skepsis geboten. Durch Appelle allein lässt sich die Freude am Risiko sicher nicht steigern. In dieser Gemengelage wird die Chancenverteilung zum wichtigsten Fixpunkt der Politik und der öffentlichen Debatte. Die entscheidenden Fragen lauten: Wie kann eine Gesellschaft, die immer mehr von Ungleichheit und Wettbewerb geprägt ist, dem individuellen Anspruch auf Lebenschancen noch gerecht werden? Und wie kann man die breite Mittelschicht für ein solches Unterfangen gewinnen?
Den Begriff der Lebenschancen hat Ralf Dahrendorf 1979 in seinem gleichnamigen Buch genauer definiert und ausgearbeitet. Während Dahrendorf mithilfe dieses Konzeptes geschichtsphilosophische Überlegungen mit Fragen nach dem Fortschritt von Gesellschaften verband, nutze ich ihn in zeitdiagnostischer Absicht. Ich frage, wie es um den Zugang zu Lebenschancen bestellt ist und wie er verbessert werden kann. Lebenschancen als Modell der individuellen Entfaltung und Entwicklung verstehe ich als ein Angebot für alle gesellschaftlichen Gruppen – die Mittelschicht, die an den Rand Gedrängten und die oberen Schichten. Wir brauchen Instrumente, um der Tatsache zu begegnen, dass Chancen zunehmend ungleich verteilt sind, und zudem Angebote für die Benachteiligten, Ausgebremsten und Gestrauchelten. Wer in Kontexten sozialer Benachteiligung aufwächst, soll in seinen Entfaltungsmöglichkeiten nicht über die Maßen beschnitten werden; wer abrutscht, braucht alle Unterstützung, um wieder aufzustehen.
Das politische Leitprinzip einer Maximierung von Lebenschancen kann für die Mittelschicht durchaus attraktiv sein. Es passt recht gut zu ihrem Leistungsethos, zur weitverbreiteten Wertschätzung für Anstrengung, Bildung und Qualifikation. Erst wenn Chancengerechtigkeit gewährleistet ist, ergibt es überhaupt einen Sinn, Leistung zum Maßstab vieler (natürlich nicht aller!) Dinge zu machen. Chancengerechtigkeit ist überdies Grundvoraussetzung für individuelle Motivation und Aufstiegswillen, für den Ehrgeiz, aus Talenten und Anlagen das Beste zu machen. Doch weil die Grundlagen für den sozialen Wettbewerb und das individuelle Vorankommen nun mal in Institutionen (Schulen, Arbeitsmärkten, sozialen Sicherungssystemen) gelegt werden, müssen diese so gestaltet sein, dass alle Menschen möglichst die gleichen Startbedingungen haben, dass soziale Härten kompensiert und dauerhafte Benachteiligungen ausgeschlossen werden. Wenn es gelingt, Mobilitätskanäle (wieder) zu öffnen und die politischen Angebote zu verbessern, lässt sich vielleicht auch die beunruhigte Mittelschicht mitnehmen. Solche Offerten schaffen schließlich Spielraum nach oben und sie schließen jene Deprivationsfallen, welche den Menschen drohen, die aus der Mitte herausfallen.
Dieses Buch bedient sich nicht der Form einer strengen wissenschaftlichen Monografie, ich will vielmehr versuchen, Befunde und Überlegungen zur Transformation der Mitte und zur Verbreitung neuer Unsicherheiten pointiert zu bündeln und zuzuspitzen. Es geht mir um einen empirisch informierten und kontrollierten Blick auf die soziale und mentale Lage der Mittelschicht. Wenn man nach gängigen soziologischen Kriterien selbst zur Mittelschicht gehört, ist die Distanz zum Gegenstand nicht immer gegeben. Es gibt da diesen Hang zur Nabelschau, der mich auch beim Schreiben dieses Buches hin und wieder beschäftigt hat. Insgesamt, so hoffe ich, mache ich mich aber weder zum Advokaten der Mittelschicht noch zum soziologischen Kritiker. Vielmehr möchte ich die Veränderungen, die sich in dieser gesellschaftlichen Zwischenschicht abspielen, mit wissenschaftlicher Neugier...