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E-Book

Lebensfuge

Wie Bachs Musik mir half zu überleben

AutorZuzana Ruzickova
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783843720632
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Es war der Anfang einer Sarabande von Johann Sebastian Bach, notiert auf einem Zettel, der Zuzana Ruzickova in Auschwitz die Kraft zum Überleben schenkte. In den schlimmsten Stunden ihres Lebens gab Bachs Musik ihr neue Hoffnung. 'Die drei Tage, die wir im Viehwagen eingesperrt waren, da hab ich immer die Sarabande angeschaut, dieses Stück Papier, und hab mir alles im Kopf gespielt, was ich von Bach kannte.' Zuzana Ruzickova überlebte als Jugendliche vier Konzentrationslager. Mit zerschundenen Händen kehrte sie nach Prag zurück, wo ihr das scheinbar Unmögliche gelang: Sie wurde eine der bedeutendsten Interpretinnen der Cembalomusik Johann Sebastian Bachs. Noch unter den Repressionen des kommunistischen Regimes war Bachs Musik ihr Lebenselixier. Aus ihr schöpfte sie die Gewissheit, dass es 'etwas gibt, das über Dir ist, eine Ordnung.' Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde Zuzana Ruzickova zur weltweit gefeierten Künstlerin. Dieses Buch ist das Vermächtnis ihres Lebens.

Zuzana Ruzickova, geb. 1927 in Pilsen/Plze?, hat ihr Leben lang gegen größte Widerstände gekämpft. Nachdem sie die Konzentrationslager der Nationalsozialisten überlebt hatte, machten die kommunistischen Machthaber ihr und ihrem Mann, dem tschechischen Komponisten Viktor Kalabis, das Leben zur Hölle. In den neunziger Jahren erlangte Ruzickova internationale Berühmtheit. 2017 erschien ihr Gesamtwerk neu . Sie starb am 27. September 2017. Hans-Christian Oeser, geb. 1950, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. F. Scott Fitzgerald, D.H. Lawrence, Ian McEwan, Mark Twain, Oscar Wilde und Virginia Woolf übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

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Leseprobe

1
Hermannstadt, Siebenbürgen, 1960


»Willkommen, Genossin!« Die Begrüßung des Kulturdirektors im abgelegenen Hermannstadt in Siebenbürgen fiel wie immer herzlich aus. »Tausend Dank, dass Sie uns wieder besuchen. Wir können es kaum erwarten, Sie spielen zu hören.«

Es war im Winter 1960/61, und meine Reise von Kiew nach Hermannstadt hatte fast einen ganzen Tag gedauert. Ich hatte einen Flug nach Bukarest genommen und war dort in einen veralteten Dampfzug gestiegen, der sich unendlich langsam und behäbig durch die Landschaft geschlängelt hatte. Als ich endlich ankam, war ich müde und hungrig wie ein Wolf.

Meine letzte Konzerttournee – die zehnte in jenem Jahr – hatte mich in Fabriken, Werften, Schulen, Hochschulen und staatliche Einrichtungen in der Ukraine, der Sowjetunion und in Polen geführt und war wegen der dort herrschenden Eiseskälte ziemlich strapaziös gewesen. In Kiew war es zu einer besonders verzwickten Situation gekommen, als mir der dortige Direktor drohte, mich nicht zu bezahlen. Nach diesem vorletzten Konzert für die Obrigkeit wollte ich nur noch nach Hause zu meiner Familie in Prag.

Von früheren Besuchen im mittelalterlichen Hermannstadt wusste ich, dass meine Unterbringung und mein heiß ersehntes Abendessen sehr einfach ausfallen würden. Zum Glück hatte ich in meinem Koffer noch eine kleine Salami, eine Büchse Sardinen und einen Vorrat an russischen Zigaretten.

Von allen Ostblockländern, in denen ich unter den Sozialisten spielen musste, war Rumänien am stärksten von verheerender Armut und allumfassender Hoffnungslosigkeit gezeichnet. Die Menschen in dieser einst ungarischen Provinz hatten entsetzlich unter Präsident Gheorghiu-Dej und seinem Generalsekretär Nicolae Ceaușescu zu leiden und wurden von der Außenwelt noch konsequenter abgeschnitten als wir in der Tschechoslowakei. Ich kann mich an eine Reise nach Timișoara erinnern, wo das Hotelzimmer und besonders die Badewanne so unglaublich verdreckt waren, dass ich befürchtete, Bettwanzen im Zimmer zu haben. Als ich die Sachen, die meine liebe Mami so sorgfältig für mich eingepackt hatte, aus meinem Köfferchen nahm, brach ich in Tränen aus. Ich sagte mir: Wenn nur meine Mutter sehen könnte, wo ich hier gelandet bin.

In Hermannstadt fand ich ähnliche Bedingungen vor, doch der Musikdirektor, der den Besuch eines jeden Künstlers im Rahmen des staatlichen Kulturprogramms mit Begeisterung begrüßte, schaffte es jedes Mal, mich wieder aufzumuntern. Er war so dankbar, dass ich mich erneut dazu bereit erklärt hatte, in seiner Stadt aufzutreten.

»In Ihrer Unterkunft steht alles für Sie bereit«, versicherte er mir. Bei meinem ersten Besuch ein paar Jahre zuvor hatten seine Worte mein Herz höherschlagen lassen – bis ich mein ungeheiztes Zimmer gesehen hatte. Ich stellte mich darauf ein, in meinem Wintermantel schlafen zu müssen, da für die Nacht in jenem bitterkalten November ein Schneesturm vorhergesagt war.

Am folgenden Abend sollte mein Vortrag Alter Musik in der Halle eines Gebäudes stattfinden, das auch als Kino diente. Die Hermannstädter Musiker würden mich mit Feuereifer begleiten, und obwohl ich kein unvergessliches Konzert erwartete, wusste ich, dass der Applaus am Ende von Herzen kommen würde.

Bevor ich das grüne Ballkleid anzog, das meine Mutter von ihrer Schneiderin für mich hatte nähen lassen, wurde ich wie immer durch die Stadt eskortiert, um mich mit den Funktionären der Kommunistischen Partei in deren Verwaltungszentrale ablichten zu lassen und um Arbeitsstätten und Schulen zu besuchen. Das größte Interesse brachten mir die Schüler entgegen, besonders jene, die selbst musikalische Ambitionen hatten. Für sie war ich eine Art Berühmtheit.

An jenem Tag sprach ich vor Schülern, die mit ihren zwölf Jahren so alt waren wie ich damals, als Hitler in die Tschechoslowakei einmarschierte. Ich erzählte ihnen von meiner Begeisterung für die Musik und von meiner tiefen Verbindung zu Johann Sebastian Bach. »Ich war erst acht Jahre alt, als ich mich Hals über Kopf in die Musik Bachs verliebte. Es war Liebe auf das erste Hören«, erzählte ich den Kindern. Sie stellten mir viele Fragen, und ich erklärte ihnen nicht nur, warum ich beschloss, mein Leben der Musik zu widmen, sondern auch, warum ich vom Klavier zum Cembalo wechselte. »Manche Leute halten das Cembalo für ein veraltetes Instrument, ein hölzernes Artefakt aus dem sechzehnten Jahrhundert, das ins Museum gehört. Aber für mich ist es immer noch voller Leben«, erklärte ich ihnen. »Bach komponierte seine frühen Stücke für Tasteninstrumente für Orgel und Cembalo. Bach gab häufig an, auf welchem Instrument seine Stücke zu spielen seien, und ein Drittel seines gewaltigen Werkes ist dem Cembalo gewidmet. Ich wollte Bachs Intention treu bleiben und sie möglichst authentisch umsetzen, daher spiele ich Cembalo.«

Eine Hand schoss nach oben, und ein neugieriger Teenager fragte: »Aber was ist so besonders an Bach? Warum beispielsweise nicht Beethoven?«

Ich lächelte. »Beethoven droht dem Schicksal mit erhobener Faust«, meinte ich und ballte demonstrativ meine Hand zu einer Faust. »In der Musik Bachs finden wir die pure Freude am Leben, aber auch tiefe Verzweiflung. Man fühlt stets, was es wirklich bedeutet, ein menschliches Wesen zu sein.«

Zurück auf meinem Zimmer, wollte ich mich für die Abendvorstellung fertig machen und zündete mir gerade eine Zigarette an, als es an der Tür klopfte. Die Rezeptionistin, die den Auftrag hatte, mich zu bespitzeln und verdächtiges Verhalten umgehend zu melden, teilte mir mit, dass man am Telefon nach mir verlangte.

Beunruhigt eilte ich in ihr Zimmer und griff vorsichtig nach dem Hörer. Als ich die Stimme meines Mannes hörte, wäre er mir vor Schreck beinahe aus der Hand gerutscht. Warum rief mich Viktor an und von wo? Wir besaßen kein Telefon. In Prag hatten nur wenige eines. War meiner Mutter etwas zugestoßen?

»Es ist alles in Ordnung, Zuzana«, beruhigte Viktor mich, da er wusste, dass ich in Panik ausbrechen würde. »Ich rufe an, weil deine Mutter und ich möchten, dass du deine Reisepläne änderst. Es wird sehr schlechtes Wetter vorhergesagt, und wir wollen nicht, dass du mitten in einem Schneesturm nach Hause fliegst. Kannst du stattdessen den Zug nehmen?«

Ich spähte aus dem Fenster und sah im Licht der Straßenlaterne die Schneeflocken wild durcheinanderwirbeln. Doch schien das Wetter sich seit meiner Ankunft nicht verschlechtert zu haben. Gerade als ich anfangen wollte, mit Viktor zu diskutieren, hörte ich, wie meine Mutter Viktor dazu drängte, mich zu überreden. Ich konnte mir denken, welche Mühen die beiden in Kauf genommen hatten, um diesen Anruf zu tätigen.

»Na gut«, antwortete ich ein wenig widerwillig, da meine Rückreise dadurch doppelt so lange dauern würde und ich gleich nach meiner Rückkehr eine neue Aufnahme einspielen sollte. »Ich frage die Konzertagentur, ob das machbar ist.«

Mithilfe des Kulturdirektors ließ sich ein Angestellter der Agentur dazu überreden, meinen Reiseplan zu ändern. Ich musste noch ein Konzert in Arad, einer Stadt an der Grenze zu Ungarn, geben und hoffte, von dort aus nach Hause fahren zu dürfen. Die Obrigkeit war einverstanden. »Sie können sich den ganzen Weg zurück nach Bukarest sparen«, erklärte mir der Angestellte. »Stattdessen nehmen Sie den Mitternachtszug bis zur ungarischen Grenze und steigen dort in den Zug um, der über Wien und Ostrava nach Prag geht.« Er kritzelte irgendetwas auf das Ticket, das ich schon hatte, stempelte es ab und entließ mich wieder.

Als ich an jenem Abend an meinem Cembalo Platz nahm, um wie immer kurz in mich zu gehen, erkannte ich in der ersten Reihe einige der Kinder wieder, zu denen ich gesprochen hatte, ihre Blicke erwartungsfroh auf mich gerichtet. Dann begann ich, Bachs Italienisches Konzert zu spielen, und merkte, wie sie gebannt jedem einzelnen Ton lauschten, den ich dem gut gestimmten Instrument entlockte.

Schon bald hatte ich mich ganz in der Musik verloren und befand mich wie immer in diesem tranceartigen Zustand, sobald meine Finger die Tasten berührten. So war es stets, wenn ich Bach spielte. Der Struktur seiner Musik wohnt eine solche Schönheit inne. Ich habe kein fotografisches Gedächtnis, sondern vielmehr ein architektonisches. Sobald sich die Melodien aufbauen, stelle ich mir ein Gebäude vor. Ich weiß, wo die Höhen und Tiefen sind. Bachs Modulationen sind für mich wie Korridore, in denen ich mich entlangbewege. Ich weiß ganz genau, wann ich um die Ecke gehen muss. Ich weiß instinktiv, wie dieses Bauwerk aufgebaut ist. Ich verstehe seine Architektur und weiß, wo es langgeht – Korridore führen zu Zimmern, Treppen in höher liegende Stockwerke, bis irgendwann die Schlussmelodie das Gebäude vollendet.

Nachdem ich den letzten Ton gespielt habe, brauche ich immer eine ganze Weile, bis ich wieder zu mir komme – und den Applaus wahrnehme.

Wie immer bekam ich einen Blumenstrauß überreicht. Hinter der Bühne drückte mir der Kulturdirektor einen Umschlag mit meinem Honorar in rumänischen Leu in die Hände. Aufmachen durfte ich das...

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