Kapitel 1
Wer kann ich sein, wer will ich sein? Lebensmöglichkeiten entdecken
Dieses Buch illustriert eine psychotherapeutische Methode, die für die Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien oder Teams geeignet ist. Ich verwende sie in allen Bereichen der Therapie: bei Klienten mit traumatischen, depressiven oder auch psychotischen Symptomen, in der Arbeit mit Tinnitus oder Allergien, zur Schmerzreduktion sowie zur Rauchentwöhnung. Sie dient der Verbesserung der seelischen und körperlichen Gesundheit im weiten Sinne und erweist sich ebenso als hilfreich bei Fragen der Selbstentwicklung.
Das Therapeutische Modellieren hat eine einfache und klare Grundstruktur. Es lässt sich gut erlernen, vielfältig variieren und individuell und situativ anpassen. Es verknüpft einen hohen Grad an Standardisierung (also Lehr- und Lernbarkeit) mit einer hohen Individualisierung (also Anpassungsfähigkeit) der Therapie. Die Verbindung von »Handwerk« und »Kunst« und die große Flexibilität des Vorgehens führten mich zu dem Begriff »Therapeutisches Modellieren«. »Modelliert« wird das Erleben des Klienten, der nach Veränderung sucht. »Töpfer« ist nicht der Therapeut, sondern das Unbewusste des Klienten, das bessere Lebensmöglichkeiten entdeckt und dabei das, was sich bewährt hat, behält. Der Therapeut ist ein kundiger Anleiter, der dem »Töpfer« Impulse gibt, um das Leben des Klienten so weiterzuentwickeln, wie er es sich wünscht, und manchmal besser, als dieser zu wünschen wagte.
Unterschieden werden zwei Gruppen personifizierter Lebensmöglichkeiten, beschrieben als »Leute«, die der Klient in seiner Fantasie oder in seiner erlebten Realität sein kann. Aus dem Klienten herausprojiziert und auf andere Stühle gesetzt werden Leute, die mit der belastenden Ausgangssituation und mit dem Problemerleben des Klienten assoziiert sind.
Belastende, gefährdende oder die Entwicklung hemmende Leute werden aus dem Klienten herausprojiziert: Der, der Schmerzen hat, kommt auf einen Stuhl, der Traumatisierte auf einen anderen, woandershin der Skeptiker und so weiter. Die daraus folgende Entlastung wird beschrieben, verstärkt und gefestigt.
Auch der umgekehrte Weg wird eingeschlagen: Leute, die zu den Zielen des Klienten passen, werden in den Raum und dann auch ins real und physisch erlebte Sein des Klienten hereingeholt, Leute, die er sein könnte, denen es besser geht.
So wird derjenige, der den Wunschzustand erreicht hat, auf einen Stuhl gesetzt und beschrieben: Wie atmet er, wie sitzt er, wie schaut er . . .? Dann setzt sich der Klient auf den beschriebenen Ressourcenstuhl und erlebt, wie es ist, als der, dem es so geht, zu leben. Das Erleben wird wieder beschrieben und gefestigt. Dann werden auf neuen Stühlen weitere Ziele verfolgt und erreicht.
Neben dem Heraussetzen oder Hereinholen von Leuten, als die der Klient sich erleben kann, gibt es noch einen dritten Weg:
Belastende Gestalten, ohne deren Agieren der Klient besser lebt, werden in leidensfreie Leute verwandelt und reintegriert, oder der Klient schickt sie mit dem Hinweis, dass er sie ruft, falls sie gebraucht werden, in den Dauerurlaub.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen also das Ausblenden leidvoller und ungewünschter Aspekte des Erlebens, das Einblenden hilfreicher Möglichkeiten und die Identifikation mit ihnen sowie die imaginative Transformation von leidvollen Optionen des Erlebens in hilfreiche Möglichkeiten.
Ich habe dieses Verfahren bisher nur ansatzweise beschrieben1. Wissenschaftliche Studien zu seiner Wirksamkeit gibt es dementsprechend noch nicht. Immer wieder habe ich auf Kongressen und in Seminaren Sitzungen durchgeführt. Die Rückmeldungen waren überaus positiv, und die Beobachtungen der Probanden und der Zuschauer decken sich weitgehend mit den meinen. Einige dieser Sitzungen sind filmisch dokumentiert2. Daneben gibt es Videoaufnahmen von einer kompletten Therapie3 sowie einer neuntägigen und einer zwölftägigen Ausbildungsreihe, jeweils mit zahlreichen Demonstrationen des Vorgehens4.
1.1 Nutzung realer und imaginärer Räume
Für das Therapeutische Modellieren verwende ich unterschiedliche Stühle, auf die ich im Verlauf der Sitzung personifizierte Lebensmöglichkeiten platziere. Mit Stichworten und Symbolen notiere ich, welche der unsichtbaren Personen wo im Raum sitzt.
In meinem Praxisraum befinden sich ein Sofa und sechs Sessel. Wirklich benötigt werden so viele Plätze aber nicht: Oft nehme ich Stehplätze oder sage dem Klienten: »Stellen Sie sich vor, die Wände öffnen sich, wir haben beliebig viel Platz, und da versammeln sich Ihre Vorfahren der letzten zwölf Generationen.«
Ein Kollege in einer psychiatrischen Ambulanz verwendet seinen Zeigefinger, um Patienten mit Panikattacken zur Ruhe zu verhelfen: »Ich sehe, wie schlimm es Ihnen geht. Jetzt stellen Sie mal die Frau mit der Angst da rüber, die, die so schnell atmet, dahin und die Verkrampfte dorthin, Sie sind hier und atmen ruhig – so ist es gut, genau . . .« Wie er berichtet, kann er damit auch Patienten, die hysterisch um sich schlagen und sich nicht vom Fleck bewegen, schnell zur Ruhe und ins Gespräch bringen.
Ein anderer Kollege legt Teppichstücke auf den Boden. Seine Klienten fragt er etwa: »Auf welches Stück soll sich die Frau stellen, die Angst vor der Zukunft hat, auf das rote oder das blaue?«
Die Positionierung der Plätze zueinander ist für mich meist ohne besondere Bedeutung, außer in der Paar- und Familientherapie, wo Klienten oft von sich aus Nähe und Distanz durch die Position der Plätze ausdrücken.
Bei Paartherapien verwende ich oft Stuhlpaare, auf die sich beispielsweise das »Paar, das sich streitet«, oder »das Paar, dem es besser geht, als Sie es bisher für möglich hielten«, setzt. Für spezifische Themen jeweils eines Partners (etwa Traumata, die sich auf die Beziehung auswirken) werden weitere Plätze benötigt.
Gelegentlich bitte ich wenig hilfreiche Leute, den Therapieraum zu verlassen, etwa um spazieren zu gehen oder um Urlaub zu machen. Dabei lege ich Wert darauf, dass dies in Wertschätzung geschieht und keine Form der Diskriminierung darstellt.
Da die unsichtbaren Personen als Lebensoptionen und nicht als Anteile des Klienten betrachtet werden, können sie am Ende der Stunde auch als »Geister aus der Flasche« erlöst in das Reich der Möglichkeiten zurückkehren, dem sie entstammten, und die sich in Luft auflösen, unter der Vereinbarung, dass der Klient sie wieder rufen kann, sollte er sie benötigen.
In ähnlicher Weise können Menschen auf einer Zeitreise hundert Jahre später im Himmel sein, dort tausend Jahre etwas lernen, verändert zurückkehren, um dem Klienten nun in wohltuend neuer Weise zu begegnen.
Der Klient kann am Ende der Stunde einen identischen Zwilling oder Klon (eine personale Kopie) von sich, dem es so gut geht wie ihm, in Zukunftsräume schicken, damit dieser die Person, die der Klient dann sein wird, bei den ersten Vorzeichen davon, dass dies nötig wäre, mit seinem Wohlergehen von jetzt füllt.
Ebenso kann er einen solchen Klon in seine Vergangenheit schicken, um sein Wohlbefinden von jetzt in die bewussten und unbewussten Erinnerungsräume zu bringen, in denen es hilfreich und wohltuend sein kann, etwa in Zeiten von Einsamkeit, Konflikten oder akuter Traumatisierung.
Gelegentlich führe ich Sitzungen via Skype oder Telefon durch. Prinzipiell ist es zwar hilfreich, die räumlichen Gegebenheiten am Ort des Klienten zu kennen, aber im Grunde braucht der Therapeut nicht zu wissen, wo die Personen sitzen, solange der Klient das weiß. Der Therapeut kann dem Klienten etwa mitteilen: »Hier sitzt also die, die Angst hat. Ich nenne diesen Platz ›Platz vier‹«, und sich selbst eine entsprechende Notiz machen. An die Stelle der Beobachtung von Körperreaktionen tritt bei der Arbeit am Telefon eine umso genauere Wahrnehmung der Stimme, des Atems und der Sprechweise des Klienten.
1.2 Der therapeutische Hintergrund
»Wie heißt das, was Sie da machen? Wo haben Sie das gelernt?«, werde ich oft gefragt. »Ich nenne es ›Therapeutisches Modellieren‹«, sage ich dann, »und ich habe es von meinen Klienten gelernt.«
Eine therapeutische Methode entsteht natürlich nicht aus dem Nichts. In der Ausbildung zur Systemischen Therapie habe ich an Familienaufstellungen teilgenommen, in der Ausbildung zur...