Teil 1
Psychische Krisen: Krankheit oder gesunde Reaktion?
Burnout und Depression zeigen sich in einer großen Vielfalt von Erscheinungsformen: von vorübergehenden Erschöpfungszuständen bis hin zur ausgereiften klinischen Depression, die die Betroffenen regelrecht »außer Gefecht« setzt. Wenn wir uns übermäßig erschöpft haben, werden wir müde und fühlen uns ausgelaugt. Jeder kennt den Mechanismus, dass unser System, sei es körperlich oder psychisch, uns darauf aufmerksam macht, was es braucht. Auf einer basalen Ebene wissen wir, dass wir uns auf unseren »Biocomputer« verlassen können und darauf, dass uns Grundbedürfnisse wie Hunger oder Schlaf angezeigt werden. Viele kennen von sich bestimmte »Schwachstellen«, die bei übermäßiger Anstrengung oder Stress zu Symptomen werden. Während der eine in solchen Zeiten mit einer hohen Infektanfälligkeit kämpft, wird der andere vom vertrauten Herpes, der Blasenentzündung, den Kopf- oder Rückenschmerzen heimgesucht. Man könnte also auch einen Schritt weitergehen und diese Symptome als Warnsystem verstehen, das seinen Sinn darin trägt, uns auf etwas aufmerksam zu machen. Auch Burnout und Depression lassen sich in diesem Sinne als komplex in Erscheinung tretende Symptome verstehen. Das Gefühl, den Aufgaben nicht mehr gewachsen zu sein, zunehmende Ängste vor neuen Herausforderungen, das Gefühl, völlig entkräftet zu sein und nichts mehr leisten zu können, sind ein paar dieser charakteristischen Symptome. Diese Gefühle sind eine »Notstandsmeldung« des Systems an uns selbst.
Mit der Vorstellung, dass das psychische System mit dem Symptom auf ein inneres Ungleichgewicht reagiert, geht die Idee einher, dass die Symptome, die sich zeigen, Hilferufe und Lösungsversuche unserer inneren Konflikte und Dissonanzen darstellen und somit etwas Wichtiges, im Verborgenen Liegendes aufzeigen. Wenn das Gleichgewicht zu kippen droht, bemühen Körper und Seele sich um eine Wiederherstellung der Balance. Die Entwicklung eines Symptoms ist oft ein solcher Hinweis, dass die Balance verloren gegangen ist und unser System bemüht ist, nach einer Lösung zu suchen. Dieser Impuls ist erst einmal Ausdruck einer gesunden Reaktion. Das Symptom übernimmt somit – oft allerdings mit der Wucht einer Naturgewalt, die auch entsprechende Schäden anrichtet – die Funktion, uns spüren zu lassen, dass die Dinge nicht bleiben können, wie sie waren. Wir sind dann gefordert, uns mit veränderten Bedingungen auseinanderzusetzen und einen Rahmen zu schaffen, sie ihrer Bedrohlichkeit zu entkräften und den individuellen Sinn, der sich vielleicht dahinter finden lässt, zu suchen.
Die Frage, ob Gefühle überhaupt »krank« sein können, ist berechtigt. Sie zielt darauf ab, emotionale Ausnahmesituationen nicht als pathologisch anzusehen. »Krankheit« hat etwas mit Dysfunktionalität zu tun und gerade in Bezug auf die Psyche, die unser Selbst repräsentiert, wirkt es für viele Menschen unpassend – zumindest bei leichter und mittlerer Symptomatik –, sie krank zu nennen. Dennoch ist die echte Depression ein sehr schwerer Krankheitszustand. Sie entfremdet Menschen von ihrem Selbstverständnis und von ihrer Fähigkeit, das Leben wie bisher zu gestalten.
In der psychotherapeutischen Praxis ist es tatsächlich so, dass die Übergänge von vorübergehenden psychischen Irritationen bis hin zu ausgereiften und schweren psychischen Störungen fließend sind und sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Leiden kommen, um Hilfe zu suchen.
In der fortgeschrittenen Depression ist der Mensch durch seine Erkrankung schwer beeinträchtigt und oft nicht mehr in der Lage, die Anforderungen des Lebens zu bewältigen. Es ist so, als würde die Welt mit ihren Farben und ihrer Lebendigkeit nicht mehr durchdringen können durch den Nebel, mit der die Depression einen Menschen ummantelt. Die Fähigkeit, sich am Leben zu freuen, ist nicht mehr spürbar und das, was früher Freude bereitet hat, berührt uns nicht mehr. »Deprimere« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet »niedergedrückt« – seelisch, geistig und körperlich.
Wie bei allen anderen Krankheiten auch liegt der Depression kein persönliches Unvermögen und kein eigenes Verschulden zugrunde. Sie tritt unangekündigt und unvorhersehbar auf und kann ein ganzes Leben aus den Angeln heben. Andererseits ist mit dieser »Etikettierung« alleine noch nichts gewonnen. Auch die Frage nach dem »Warum« ist weniger zielführend als die Frage nach dem »Wozu«. Wozu zwingt die Depression mich, was haben die Gefühle, die sie zu Tage fördert, mit mir und meinem Leben zu tun und soll sie mich möglicherweise auf etwas aufmerksam machen, was in meinem Leben zu wenig Beachtung gefunden hat? Es ist unsere Aufgabe, dem Auftreten psychischer Störungen, die zunächst nur signalisieren, dass etwas nicht mehr stimmig ist, in ein Verstehen einzubinden und damit auch Sinngebungen herzustellen. Deshalb denke ich, dass es kein Widerspruch ist, einerseits von einer schweren Erkrankung zu sprechen und andererseits den Versuch zu unternehmen, die Störung im Sinne einer inneren und individuellen Irritation, die uns auf etwas aufmerksam machen möchte, zu verstehen.
Burnout ist vielleicht noch die gesunde Erschöpfungsreaktion des überlasteten Systems, eine Depression ist dann schon eine ausgereifte und behandlungsbedürftige Erkrankung. Werden die noch gesunden Erschöpfungssignale in der Phase des Burnouts zu lange überhört und verdrängt, kann sich daraus schleichend eine depressive Erkrankung entwickeln.
Die ausgereifte akute Depression ist ein schwerer und zutiefst bedrohlicher Zustand. Auch wenn sie zahlenmäßig stark zunimmt, ist sie nichts, was jeder kennt, auch wenn man von Menschen, die einem Mut machen möchten, relativ oft hört: Ach, das kenne ich auch, man hat keine Lust, irgendetwas zu tun, ist nicht gut drauf und möchte sich am liebsten einigeln. Depression ist etwas anderes als ein vorübergehender Zustand von Schwermut, Trauer oder Melancholie, die jeder Mensch kennt und die zum natürlichen Spektrum unserer Gefühlswelt gehören. Depressionen verändern das Selbstbild, lassen uns pathologisch das Negative sehen, nichts scheint je wieder gut werden zu können und die Angst vor der Zukunft und davor, das Leben nicht mehr bestehen zu können, bestimmen die Gedanken und Gefühle. Auch neurophysiologisch zeigt sich, dass das Gehirn während einer Depression tatsächlich »entgleist«. Vielleicht so ähnlich wie bei Diabetes, bei der der Körper einfach keine Insulinreserven mehr hat, entweder weil dies einer Veranlagung entspricht oder weil das Potential übermäßig beansprucht und aufgebraucht wurde. Dann kommt es nach einem oft unbemerkten Vorlauf zu einem Kippen des Gleichgewichts und zu einem schwerwiegenden gesundheitlichen Problem.
So können seelische Erschöpfungszustände einerseits eine gesunde Reaktion unseres Systems sein, andererseits aber auch zu äußerst bedrohlichen Krankheitszuständen führen.
Ist jeder seines Glückes Schmied?
Die Tatsache, dass wir leben, bringt an sich bereits das Risiko zu erkranken mit sich: Das gilt für körperliche wie für psychische Erkrankungen. Jeder Mensch trägt – zumindest theoretisch – das Risiko, an einer Depression zu erkranken, in sich, allein deshalb, weil es ihn gibt. Psychische Erschütterungen gehören zum menschlichen Leben dazu. Ein Leben ohne die Erfahrung von Trennung, Einsamkeit, Misserfolg und Trauer ist kaum vorstellbar. Bei welchem Menschen die Erschütterung zur Erkrankung führt, ist nicht vorhersehbar. Differenzierter ausgedrückt: Nicht jeder Mensch trägt unter den gleichen Voraussetzungen das gleiche Risiko für eine Depression in sich, aber wir wissen nicht – und können es auch nicht wissen –, wen die Depression trifft. Erst wenn sie aufgetreten ist, wissen wir, dass wir offenbar mit einer gewissen Grundveranlagung auf die Welt gekommen sind.
Viele Menschen erleben Schicksalsschläge, Traumatisierungen und Überlastung und werden nicht krank. Andere erkranken dagegen ohne erkennbare Risikofaktoren oder Auslöser. Insofern haben psychische und körperliche Erkrankungen, was ihre Zufälligkeit, Unvorhersehbarkeit und Schicksalhaftigkeit angeht, viel gemeinsam. Die Forschung hat immer wieder versucht, die Faktoren zu erfassen, die depressive Erkrankungen begünstigen. Diese gibt es, aber sie repräsentieren nur Wahrscheinlichkeiten innerhalb eines komplexen und nicht vorhersehbaren Zusammenspiels aus einer biopsychosozialen Verletzlichkeit in Verbindung mit individuellen Stressschwellen, die zum Auslöser für die Erkrankung werden können. Weil niemand davor gefeit ist, psychisch zu erkranken, ist es der Wissenschaft bisher nicht gelungen, vorherzusehen, wer erkrankt und wer nicht. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab es psychische Störungen. Menschen mit Depression kommen aus allen Teilen unserer Gesellschaft, aus allen sozialen Milieus und aus allen Berufsgruppen. Psychische Erkrankungen machen nicht Halt vor außerordentlichen Begabungen, Hochschulabschlüssen und durchtrainierten Körpern. Dabei ist die Depression kein einheitliches Krankheitsbild und so wäre es auch verkehrt, von »der« Depression zu sprechen. Ursachen, Symptome und Verlauf sind sehr unterschiedlich, was das Erkennen der Depression nicht immer einfach macht. Dennoch gehört die Depression zu den häufigsten Erkrankungen. Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken, liegt je nach Untersuchung zwischen 12 bis 20 Prozent. Depressionen können – anders als andere Erkrankungen wie Psychosen oder Essstörungen, die deutlicher im Jugend- und frühen Erwachsenenalter vorkommen – in jedem Lebensalter auftreten. Es...