Urte Bejick
»Du, ich schreibe einen Beitrag für ein Buch.«
»Wow, klasse, toll! Was denn für ein Buch?«
»Es heißt ›Lebensraum Bett‹.«
»Oh là là!«
»Es geht um bettlägerige alte Menschen.«
»Oh.«
Genau hier hat Ethik ihren Ort – im Intervall zwischen »Oh là là« und »Oh«, im Stocken und Stolpern über den Abstand zwischen Erwartung und Wirklichkeit.
Das aus dem Griechischen stammende Wort éthos bedeutet zunächst einmal Haltung bzw. Lebensart. Ethik ist die Reflexion und Begründung dieser Haltungen und Entscheidungen. Bei der Kombination der Begriffe Ethik und Bettlägerigkeit denken wir vielleicht spontan an Themen wie PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie), freiheitseinschränkende Fixierungen oder lebensverlängernde Maßnahmen. Und hier sollte das erste Stolpern einsetzen: Diese Themen sind zwar wichtig aber eine Beschränkung ethischer Reflexion auf sie würde bedeuten, die betroffenen Menschen zu »Fällen« zu machen – wenn nicht zu sprachlich inkorrekten »Pflegefällen«, so doch zu Objekten von »ethischen Fallbesprechungen«.
Es geht aber nicht um Fälle, sondern um lebendige Menschen mit einer je reichen Lebensgeschichte und in unterschiedlichen Befindlichkeiten. Bettlägerigkeit betrifft bis zuletzt kreative, wache Menschen wie als prominente Beispiele Heinrich Heine und die Dichterin Rose Ausländer zeigen. Ausländer schrieb etwa ihre konzentriertesten Texte im Zimmer ihres jüdischen Altersheims. Von ihr stammt das Zitat in der Überschrift (Ausländer 1992): »Drei Mahlzeiten, das Bett, dann und wann eine Stimme.«
Bettlägerigkeit betrifft Menschen im Endstadium einer Demenz oder Menschen im Wachkoma, und sie betrifft sterbende Menschen. Viele »große« ethische Fragen werden eher aufgrund dieser Lebensumstände und Krankheitsbilder relevant statt aufgrund der Bettlägerigkeit an sich. Anders als im Krankenhaus, geht es in der Altenpflege nicht allein um Entscheidungen am Lebensende (Heinemann 2010), es geht um viele kleine Grenzverletzungen und Beschämungen oder umgekehrt um die Wahrung der menschlichen Würde im Alltag. Dort werden ständig Entscheidungen getroffen – oft gar nicht bewusst –, die einer ethischen Reflexion bedürften. Sie sind abhängig von der eigenen Lebenserfahrung, Haltung, Berufsauffassung, gesellschaftlichen Werten und Pragmatismus.
Da alltägliche Verhaltensweisen oft gar nicht mehr bewusst wahrgenommen werden, hilft manchmal eine verfremdete Darstellung der Situation:
»Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor Augen. ›Was ist mit mir geschehen?‹, dachte er.«
(KAFKA, 1975)
Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung«(1912/1915), in der Gregor Samsa eines Morgens erwacht und sich in einen Käfer verwandelt findet, ist immer noch eine der eindrücklichsten literarischen Schilderungen, wie ein Mensch mit bestem Willen und Bemühen letztlich aus der Welt gedrängt wird. In ihrer fantastischen Skurrilität kann sie als Beispiel dienen, um den »ganz normalen« Umgang mit bettlägerigen und pflegebedürftigen Menschen in seiner gelegentlichen Absurdität und ethischen Ambivalenz zu entlarven.
Gregor Samsa erwacht und stellt fest, dass sich sein Körper verändert hat. Sein Eingeschlossen sein in einen Panzer, seine mangelnde Mobilität, verloren gegangene Sprachfähigkeit und veränderte Essgewohnheiten weisen ihn hinfort als »Käfer« aus. Er wird nicht mehr als Bruder, Sohn, junger Mann oder Büroangestellter wahrgenommen, sondern als der Andere und Fremde. Alle seine in sich logischen Versuche, Nähe herzustellen oder seine Identität zu verteidigen, werden deshalb als unsinnig oder aggressiv interpretiert und mit Isolation bestraft.
Bettlägerige Menschen würde niemand als Insekten bezeichnen, aber wie Samsa, der nach wie vor seine Gefühle, seine Liebe zur Musik, seine Ängste behält, werden sie oft nicht mehr primär als individuelle Personen mit ihren Eigenarten wahrgenommen. Vielmehr definiert man sie über ihre mangelnde Mobilität und körperliche Verfasstheit – als »bettlägerig« eben. Sie sind die anderen, die liegen, die aufschauen müssen, während die ihnen begegnenden Menschen stehen, sich bewegen, auf sie herunterschauen oder sich zu ihnen bücken und setzen. Je nach Krankheit sind sie die »Dementen« oder »Komatösen«. Ihr Schicksal dient etwa Autoren als Illustration einer säkularisierten Vorhölle: »Parkbänke, auf denen nur Alte sitzen, nebeneinander, ohne Kontakt, und vor sich hin stieren, Rollstühle mit zusammengefallenen Alten, Krankenhausbetten, in denen sieche Alte gefüttert und gewaschen werden, demente Alte« (Schenk 2005).
»Der vegetiert ja nur noch« ist umgangssprachlich oft zu hören. Menschen, die sich nicht mehr viel bewegen, werden hier in Pflanzennähe gerückt. Mag der Vergleich zum Knollengewächs beim Ausspruch »Couch Potatoe« noch amüsieren, so wird bereits mit dieser scheinbar lustigen Bezeichnung ausgedrückt, dass diese Leute dem Leitbild eines agilen, mobilen, aktiven Menschen widersprechen. Sie gelten eben nicht als beneidenswerte Lebenskünstler, sondern verlassen sprachlich bereits den menschlichen Bereich und verschmelzen mit ihrem Sofa. Der Weg zur Entpersonalisierung von Menschen ist dann schnell beschritten – »Die Pflegestufe – Nuller sind eigentlich viel aufwändiger als die Dreier, die liegen ja im Bett.«(Reitinger in Krobath 2001).
Noch viel weniger gilt eine positive oder neutrale Deutung ihrer Situation für bettlägerige Menschen. Sie widersprechen dem Bild des bis zuletzt aktiven, »selbstbestimmten« und halbwegs mobilen alten Menschen.
Sprache schafft Wirklichkeit. Und so stellt sich die erste ethische Frage: Wie werden bettlägerige Menschen gesehen und wie wird von ihnen gesprochen? Erfolgt der Blick beiläufig, ängstlich, von oben – oder kann er auf derselben Ebene stattfinden, ohne dass wortlos und umso energischer das Bett nach oben katapultiert wird? Und: Wie wird von/mit diese/n Personen geredet? Werden sie primär über ihren Zustand, ihre Krankheit wahrgenommen und definiert? Nach den Regeln der deutschen Grammatik »hat« niemand »Bettlägerigkeit«, sondern er oder sie ist bettlägerig – ist dies aber ein alles dominierender Seinszustand? Und wird primär nicht mit ihnen, sondern über sie geredet, wenn nicht direkt am Bett, so doch vor der Tür ihres Zimmers?
»Einsam werde ich, wenn die Menschen eher über mich sprechen als mit mir; wenn sie sich über meine Krankheit unterhalten und besorgt sind.«
(STEFFENSKY, 2005)
»Trotzdem sich Gregor immer wieder sagte, dass ja nichts Außergewöhnliches geschehe, sondern nur ein paar Möbel umgestellt würden, wirkte doch, wie er sich eingestehen musste, dieses Hin- und Hergehen der Frauen … wie ein großer, von allen Seiten genährter Trubel auf ihn, und er musste sich … unweigerlich sagen, dass er das Ganze nicht lange aushalten werde. Sie räumten ihm sein Zimmer aus; nahmen ihm alles, was ihm lieb war; den Kasten, in dem die Laubsäge und andere Werkzeuge lagen, hatten sie schon hinaus getragen; lockerten jetzt den schon im Boden fest eingegrabenen Schreibtisch, an dem er als Handelsakademiker, als Bürgerschüler, ja sogar schon als Volksschüler seine Aufgaben geschrieben hatte … Also, was nehmen wir jetzt? fragte Grete und blickte sich um«.
(KAFKA, 1975)
Was Gregor Samsa erlebt, widerfährt Menschen genauso, die in ein Pflegeheim ziehen – oft ungeplant nach spontaner Erkrankung: Sie müssen ihre gewohnte Häuslichkeit verlassen und damit auch die Dinge, die jetzt »unnötig« geworden sind. Natürlich brauchen weder Gregor sein Werkzeug und Schreibtisch noch die pflegebedürftigen Menschen ihre alten Küchenbuffets und den Inhalt zahlreicher Kramschubladen. Damit wird jedoch ein Teil ihrer Geschichte entsorgt und auf den Müll geworfen, oft ohne dass ein bewusster Abschied genommen wurde. Mit den »unnötigen« Gegenständen geht auch ein Stück Identität...