Otto gibt nicht ab
Der Platz ist staubig. Regeln gibt es hier nicht. Wer den Ball hat, rennt, wer ihn nicht hat, versucht ihn irgendwie zu bekommen. Und alle brüllen.
Passanten gehen kopfschüttelnd vorüber. Was ist denn das nun wieder?
Im Moment hat ein Blonder die Kugel. Er heißt Otto, ist knapp 15, einen halben Kopf größer als die anderen. Er ist kräftiger, und er kann lauter brüllen.
»Otto, du Affe, gib doch ab«, fordert Fritz Albrecht, Fritze genannt, der links steht. Fritze winkt, doch den Ball bekommt er so wenig wie der kleine Wehmann.
Ottos Beine wirbeln über den Platz. Steinchen spritzen, Grashalme fliegen, Glasscherben knirschen. Er zieht eine Staubwolke hinter sich her, läuft schneller mit dem Ball als die anderen ohne. Wenn ihm einer von der gegnerischen Mannschaft in die Quere kommt, schiebt er ihn weg. Der Otto ist robust und hat lange Arme.
Otto gibt nicht ab, gibt nie ab. Otto rennt bis zum gegnerischen Tor und hämmert dann den Ball hinein. Das macht ihm am meisten Spaß. Das Tor, auf das er gerade zurennt, besteht aus zwei Jacken, die im Gras liegen.
Normalerweise exerziert das Militär hier. Ein guter Platz. Heute ist überhaupt ein guter Tag: Der Ball ist klein, innen mit Seegras gestopft, aber ausnahmsweise aus Leder – schrumpliges Leder, rissig und voller Narben.
Fühlt sich trotzdem gut an, der Ball, denkt Otto. Wenn der Lederball kaputt ist, wird mit einem aus Gummi weitergespielt. Im Notfall auch mit ineinandergewickelten Lumpen, die von Schnüren zusammengehalten werden.
Hauptsache, Ball. Der aus Leder ist der beste. Gehört dem Hans, der als Ballbesitzer in Ottos Mannschaft spielen darf. Wenn Hans’ Mannschaft gewinnt, bringt er morgen den Lederball vielleicht wieder mit. Zwar gehört der Ball dem Hans, aber jetzt hat ihn erst mal Otto.
»Otto, hier rüber«, brüllt Fritze. Otto kann schon die Jacken sehen und den Torwart, der in die Hocke geht. Otto macht noch ein paar Schritte und holt aus.
Fritze, Wehmann, Otto und die anderen bilden eine richtige Mannschaft, den FC Friedrichsplatz. Alle Jungs kommen aus bürgerlichen Braunschweiger Stadtvierteln. Es gibt einen Vorsitzenden, einen Kassierer und einen Ballwart. Der Ballwart hat die Pflicht, das Spielgerät mit Stiefelwichse auf Hochglanz zu polieren. Ist der Ball kaputt, und eigentlich ist er das immer, muss der Ballwart flicken, ausbessern, nähen, kleben, bis die Kugel wieder lebt.
Fünf Pfennig Mitgliedsbeitrag pro Monat werden erhoben und nicht gestundet. Viel Geld, wenn man einen Sport betreibt, von dem die Eltern besser nichts erfahren. Von den gesammelten Mitgliedsbeiträgen will Fritze einen Ball kaufen, der dann allen gehört.
Bälle sind sündhaft teuer. Die besten kommen aus England, der Rest des Spiels auch. Seit ein paar Jahren werden auch hierzulande Bälle hergestellt, aber die sind nicht das Richtige.
Trikot, Hose, Strümpfe und Stollenstiefel kosten zusammen 25 Mark. Ein Facharbeiter verdient 30 bis 40 Mark in der Woche. Dieser Sport ist nichts für Söhne von Facharbeitern, »Association« können sich nur die Sprösslinge Braunschweiger Bürger leisten.
Trotzdem hat keiner von ihnen Stollenstiefel. Auch Otto nicht. Dabei hat sein Vater genügend Geld. Doch der alte Harder ist gegen Fußball. Deshalb hat sich Otto alte Stiefel besorgt, Querleisten drunter genagelt und an den Leisten so was wie Stollen befestigt. Die anderen haben gestaunt, als er damit ankam.
Das Klackern seiner Schuhe hört sich gut an, findet Otto. Wenn er dieses Geräusch hört, weiß Otto, er ist da. Er ist mehr da als ohne Klackern. Das Klackern sagt: Obacht! Hier komm Otto Harder, der Mittelstürmer. Er hört da einen Rhythmus, das ist wie Musik. Er hat das Gefühl, dass er mit seinen Stollen auf der Oberfläche der Welt steht. Genau hier, auf dem Friedrichsplatz.
Alle in der Mannschaft haben ein Vorbild. Alle wollen so sein wie Richard Queck, der bei Eintracht Braunschweig halblinks spielt. Er ist auch Ottos Vorbild, obwohl Otto ganz vorne spielt. Er ist ein Centre Forward – ein Mittelstürmer – und ein Striker, weil er nur Tore schießen im Kopf hat.
Jeder will Richard Queck sein. Es gibt immer Streitereien, wer an welchem Tag Richard Quecks Namen tragen darf. Wer nicht Richard Queck sein darf, will wenigstens Priemchen Muß sein – auch ein bekannter Braunschweiger Spieler. Otto ist heute Priemchen Muß.
Zwei Herren stehen am Rande des Spielsfelds und schauen den Jungs zu. Die Herren sind Mitglieder des HC Hohenzollern Braunschweig. Beim HC wird meistens Hockey gespielt, aber manchmal pflegen sie dieses neue, etwas exotische Spiel, das aus England herübergekommen ist und für das es seit Ende Januar 1900, also seit nunmehr sieben Jahren, hierzulande einen Verband gibt, den Deutschen Fußball-Bund (DFB). Englische Geschäftsleute, Matrosen und Studenten, Deutsche, die in England gelebt, etwa in einem College studiert haben, brachten das Spiel mit.
»Association« heißt es, nach der Football Association, dem Verband, der in England zur Förderung des Spiels gegründet wurde.
In Deutschland hat sich der Lehrer Konrad Koch aus Braunschweig um Association verdient gemacht. Die Wiege des deutschen Fußballs steht in Braunschweig. Koch war Schüler des Vereinigten Pro- und Obergymnasiums in Braunschweig, das seit 1866 den Namen Martino-Katharineum trägt. Später unterrichtet er an dieser Schule Geschichte und alte Sprachen. Der Sportunterricht besteht aus Turnübungen, die auf Pädagogen wie Johann Christoph Friedrich GutsMuths und Friedrich Ludwig Jahn zurückgehen. Mit seinem Kollegen Hermann Corvinus führt Koch Sportarten am Martino-Katharineum ein, die den Gemeinsinn und die Leistungsfähigkeit der Schüler stärken sollen. Als eine solche Sportart gilt Association.
Doch das Spiel kommt aus England, und das ist in der Epoche des erwachenden deutschen Nationalismus ein Makel. Fußball hat im deutschen Kaiserreich viele Feinde. Trotzdem gründet Koch im Jahr 1874 eine Schüler-Fußballmannschaft, die erste dieser Art. Koch kann dies, weil es August Hermann, dem Turnlehrer des Martino-Katharineums, gelungen ist, einen geeigneten Ball aus England zu bekommen. Wahrscheinlich war es ein Rugby-Ei.
Koch sieht Association als Spiel für den Winter. Durch Fußball versucht er dem immer mehr um sich greifenden Unwesen geheimer Schülerverbindungen etwas entgegenzusetzen. In diesen Verbindungen wird, dem studentischen Vorbild folgend, exzessiv geraucht, getrunken und dummes Zeug geredet, alles mit mittelalterlichem Mumpitz verbrämt.
Einige Elemente der Schülerverbindungen finden ihren Weg auch in den Fußball. Die Spieler tragen während des Spiels Mützen, und in den Namen der ersten Schüler-Vereine tauchen die bei Studentenverbindungen üblichen lateinischen Bezeichnungen deutscher Regionen wie Borussia und Alemannia auf.
Im Jahr 1875 gibt Koch ein erstes Regelwerk des Fußballspiels heraus, das den Feldspielern den Gebrauch der Hände erlaubt. Was Koch da lehrt, ist eine Mischung aus Rugby und Fußball.
Der erste deutsche Fußball-Club wird vier Jahre später gegründet: Es ist der Deutsche Fußball-Verein von Hannover 1878.
Die Zahl der Spieler wächst langsam, aber stetig. Die der Gegner schrumpft, dementsprechend wird ihr Widerstand erbitterter. Wie sich das für Deutschland gehört, werden Bücher gegen Association und Football geschrieben, die angesichts des Tritts gegen den Ball den Untergang des christlichen Abendlandes an die Wand malen. Das zieht in Deutschland, wo sich ein unpolitisches Bürgertum der Bewahrung kultureller Werte verpflichtet fühlt.
Das, was auf dem Friedrichsplatz stattfindet, hat mit Association nicht viel zu tun, bemerken die Herren vom HC Hohenzollern Braunschweig.
Was die Jungs treiben, ist doch ziemlich wild. Da wird dem Gegner in die Beine gefahren. Das gelingt bei Otto selten, weil den kaum einer erwischt. »Schieß doch! Hinein, hinein, Priemchen«, feuert Fritz den Otto an. Gerade als der abfeuern will, kommt der Heini von der Seite angerauscht und dann sieht man nur noch Staub und wirbelnde Gliedmaßen und hört Flüche.
Diesen Blonden, den sie Otto oder Priemchen rufen, der einen Kopf größer ist als die anderen in seinem Alter, den sollte man mal fragen, in ein oder zwei Jahren, ob er es nicht richtig lernen will: Association. Denken die Herren vom HC Hohenzollern Braunschweig, zwirbeln ihre gewichsten Schnurrbärte und gehen weiter ihres Weges.
Ottos Hose hat den von Heini verursachten Sturz nicht schadlos überstanden. Das rechte Knie auch nicht. Schmutz und Blut auf und ein Loch im Beinkleid. Die Stiefel sehen auch nicht gut aus. Immerhin: Die Mütze ist auf dem Kopf geblieben.
Heini reicht dem am Boden liegenden Otto die Hand und zieht ihn hoch. »Dich hat’s erwischt, tut mir leid«, sagt Heini.
»Nicht der Rede wert«, brummt Otto.
Das Knie und die Hose sind ihm einerlei. Was ihn zu Hause erwartet, nicht. Dresche – und das nicht zu knapp.
Eine halbe Stunde später machen sich alle auf den Weg. Ottos Mannschaft hat gewonnen, er selbst hat, trotz zerfetzter Stiefel, kaputter Hose und blutendem Knie, noch zwei Tore geschossen.
»Adjüs«, sagt Fritz zu Otto. »Adjüs«, legt der den Finger an die Mütze, »bis morgen.«
Als Otto die Türe des Harderschen Hauses aufschließt, um sich nach oben in sein Zimmer zu schleichen, ruft ihn der Vater, der alles weiß, alles sieht und alles hört, ins Wohnzimmer. Der alte Harder blickt ihn streng an, sieht die Hose, die Stiefel und das Knie, zieht die Augenbraue hoch, und sagt: »Mein lieber Schlot.« Und dann ist wieder mal »Schicht«. Der Vater steht auf und holt wortlos den...