1926 bin ich in Limburg/Lahn geboren. Ich war der dritte von vier Brüdern. Ich erlebte Freiheit und zunehmende Selbstbestimmung durch Verantwortung, die sich am Gewissen orientierte. Bei unseren Eltern erlebten wir Füreinander-da-Sein. Wir konnten über Leben und Zukunft weitgehend selbst entscheiden und wurden nicht uniformiert und dressiert. So prägten Elternhaus und Freundeskreis sehr stark mein Leben. Bei Eltern, Freunden und meiner Freundin konnte ich mich auf Worte und Taten verlassen. Für uns war das gelebter christlicher Glaube.
1935 musste ich in die Hitlerjugend (HJ) gehen und kam in eine mir fremde Welt. Die Werte Wahrheit, Verantwortung und Freiheit waren durch das Elternhaus in mir als innere Orientierung grundgelegt. Bei der HJ aber wurden wir schon mit 9 Jahren auf Führer-Befehle eingeschworen, die im blinden Gehorsam und im Gleichschritt auszuführen waren ohne jede Rücksicht auf die Folgen. Wir wurden auf Krieg und Töten dressiert. Zunächst war ich begeistert vom Schießen und Kämpfen und wollte Offizier werden. Meine Mutter verhinderte, dass ich zur SS (Schutz-Staffel) ging. So begann ich nach meinem Einsatz als Luftwaffenhelfer Ende 1943 in Aachen die militärische Ausbildung als einfacher Grenadier bei der Wehrmacht. Mit den Aktionen der Hitlerjugend wurden Freiheit und Selbstbestimmung in Frage gestellt. Dies galt auch für meinen Glauben an Gott. Mein Gewissen zeigte immer stärker auf Widerstand gegen Lügen und blinden Gehorsam, die von den neuen Herren gefordert wurden. Mir fiel die zunehmende Isolierung von meinen Kameraden schwer. Als Hitlerjunge und in der Kriegszeit belasteten Feindbilder meine Sicht auf andere Menschen. Ich war oft bis zum Zerreißen angespannt.
Ab Herbst 1944 wurden wir am Dukla-Pass / Karpaten bei einer der blutigsten Abwehrschlachten an der Ostfront eingesetzt. Schon nach kurzer Zeit brodelte es in mir und in einigen Kameraden: Wer befiehlt das Töten, zu dem wir an der Front gezwungen waren? Wir wollten mit unseren 18 Jahren leben und suchten Glück wie unsere jungen Gegner. Keiner wollte sterben oder als Krüppel zurückkehren.
Wer hinderte uns, dem Feind die Hand zu reichen? Die Urheber des Krieges bekamen Gesichter: Hitler auf deutscher Seite sowie Stalin auf der andern Seite. Um Frieden zu schaffen, mussten wir bei uns selbst beginnen und die Dressur zum Töten überwinden.
Anstoß für mein Handeln für Menschenwürde und Frieden
Im Frühjahr 1945 verweigerte ich als Fahnenjunker an der Wehrmachts-Akademie in Prag vor vielen Offizieren Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht den unbedingten Gehorsam. Danach kam zu einem Gespräch mit dem Kommandeur der Akademie:
Er: „Fahnenjunker, sind Sie verrückt, in aller Öffentlichkeit den Gehorsam zu verweigern? In wenigen Wochen ist der Krieg zu Ende. Wir brauchen jetzt keine Märtyrer, sondern Menschen, die Frieden schaffen. Warum verweigern Sie jetzt noch den Gehorsam?“
Ich: „Wehrlose Menschen will ich nicht töten, aber an der Front kämpfe ich noch. Ich bin kein Feigling und Verräter!“
Er entgegnete langsam: „Ich bin bereit für Sie zu bürgen, dass Sie bei ihrer Aussage noch traumatisiert gewesen wären durch Fronterlebnisse. Meine Aussage reicht für Ihre Begnadigung – im schlimmsten Fall Strafkompanie.“
Mir stand die „Nazi-Sippenhaft“ vor Augen: Ich selbst wäre kein Fall mehr für den Henker, aber meine Eltern, Brüder, Freunde und meine Freundin.
Ich: „Nein, ich nehme meine Verweigerung nicht zurück!“
Er: „Warum wollten Sie eigentlich Offizier werden?“
Ich: „Um die Heimat zu schützen.“
Er: „Ihre Verweigerung war öffentlich vor Ihren Kameraden und den Zuhörern: Sie müssen sofort hier weg!“
Am nächsten Tag kam er: „Mir liegt ein Befehl vor für ein Sonderkommando, mutige und todesbereite Soldaten zu rekrutieren mit dem Auftrag, Sabotage hinter der amerikanischen Frontlinie zu verüben. Das ist ein „Himmelfahrtskommando“; Chancen zur Rückkehr gleich Null.“
Ich unterbrach ihn: „Ja, sofort!“
Er streckte mir seine verstümmelten Arme entgegen, zerfetzt bei der Vernichtung russischer Panzer im Nahkampf. Wir hatten uns verstanden: Auch er wollte in Frieden leben. So ergriff ich beide Armstümpfe und erkannte meine Lebensaufgabe: Engagement für Frieden und Menschenwürde. Er offenbarte mir unter Lebensgefahr sein Herzensanliegen und ich band mich innerlich an die Aufgabe. Ich ahnte, dass diese Entscheidung mein ganzes Leben bestimmen würde.
In der Nacht verließ unser Kommando die Akademie in Prag nach Potsdam zum Lehrgang für Nahkampf- und Panzervernichtung. Nach wenigen Tagen ging es hinter die amerikanische Frontlinie. Ich war außerhalb der deutschen Militärhoheit, in einem Fronteinsatz, wie ich es mir wünschte, als ich mich freiwillig zur Offizierslaufbahn gemeldet hatte.
Nach erfolgreicher Sabotage kehrten wir hinter die deutsche Frontlinie zurück und wurden beim Endkampf um Berlin eingesetzt. Wir waren nur noch eine Handvoll Überlebende zum Kampf gegen erdrückende russische Panzerkräfte.
Wenige Tage vor Kriegsende wurde ich schwer verwundet und geriet in russische Gefangenschaft, in der ich ständig den Tod vor Augen hatte. Nach der „Entlassung“ aus dem Lazarett erreichte ich mit Hilfe amerikanischer Soldaten meine Heimatstadt Limburg/Lahn.
1945: Im Herbst war ich bei meiner Mutter im zerbombten Elternhaus. Mein Vater und meine beiden älteren Brüder waren noch in Gefangenschaft. Auf der Suche nach einem Beruf holte ich zunächst mein Abitur nach, da ich 1943 nur einen „Reifevermerk“ erhalten hatte. Ich entschied mich für ein Praktikum in einer Maschinenbaufabrik, um den Alltag einfacher Arbeiter kennen zu lernen. Danach begann ich das Studium an einer technischen Hochschule. Es war nach kurzer Zeit zu Ende, als ich merkte, dass Menschen mir wichtiger waren als Maschinen. Ich wollte mich mit ganzer Kraft für Menschenwürde und Frieden einsetzen, um diese Werte nach dem Krieg wieder ins Bewusstsein zu heben und durch Taten zu festigen.
Überwindung von Hass und Trennung
1946 inszenierte ich mit anderen Heimkehrern zum Jahrestag des Kriegsendes vor dem Dom in Limburg das Mysterienspiel „Jedermann“. Beim Totentanz wurden beim Klang der Glocken und im Licht amerikanischer Militärscheinwerfer die Besucher nach ihrer Verantwortung gefragt: Was hast du getan, als Nazis „unwertes Leben“ auslöschten, Behinderte und Nicht-Arier? Menschen öffneten sich, sprachen wieder ohne Angst miteinander. Das Schweigen war gebrochen. Später verteilten wir CARE-Pakete an Familien in Not und besorgten Ostvertriebenen eine Wohnung.
1946 begegnete ich Jesuiten, die für eine neue Sozialordnung in Europa eintraten. Ich war fasziniert und wurde 1947 Jesuit. Das Noviziat war für mich ambivalent, oft eine Welt zum Lachen und zum Weinen. Viele meiner Mitbrüder hatten keine Ahnung von den Grausamkeiten der Front und konnten sich nicht vorstellen, dass Narben in unseren Herzen brannten. So standen wir ehemalige Soldaten mit unserer Vergangenheit allein und mussten zum Teil unsinnigen Regeln folgen. Unsere Kriegserfahrungen wurden nie aufgearbeitet.
Unvermittelt ereignete sich im Juni 1951 ein sehr schwerer Verkehrsunfall an einem Bahnübergang: 16 meiner jungen Mitbrüder starben, viele wurden schwer verletzt. Die Beerdigung erfolgte auf dem Jesuiten-Friedhof in Pullach.
Da ich in dieser Zeit schon mit zwei anderen jungen Jesuiten in Belgien studierte, versuchten wir, durch Spenden und Lebensmittelpakete, die von belgischen Familien kamen, den Mitbrüdern in München zu helfen und dadurch unser Mitgefühl auszudrücken.
Den Anstoß dazu gab P. Werenfried van Straaten, der belgische „Speckpater“. Er versorgte hunderttausende deutsche Ostvertriebene mit Lebensmitteln und Kleidung durch spektakuläre Aktionen, denen ganz Belgien folgte.
1951 begann ich mein Philosophie-Studium in Löwen / Belgien als Fortsetzung meiner humanistischen Studien. Dort besuchte ich gemeinsam mit jungen Amerikanern, Belgiern, Franzosen und Deutschen den Soldatenfriedhof Lommel mit rd. 40.000 deutschen Gefallenen. Am Eingang zum Friedhof verbot eine amtliche Tafel den Zugang mit den Worten: „Betreten wegen Seuchengefahr verboten!“
Seuche? Dies war offenbar nicht medizinisch zu verstehen, sondern entsprach den damaligen Feindbildern. Wir erkannten die Aufgabe: An diesem Ort wollten wir ehemaligen Kriegsgegnern die Hände reichen. Das Sterben der Soldaten aller Nationen verliert auch die letzte irdische Bedeutung, wenn die Toten vergessen werden und nicht mehr zu Menschenwürde und Frieden mahnen. Aber es dauerte noch zwei Jahre, bis das Schild verschwand.
Um unsere Idee zu verwirklichen, boten wir jungen Menschen aus Ländern des 2. Weltkriegs an, in Workcamps auf Soldatenfriedhöfen mitzuarbeiten, um Feindbilder und Vorurteile zu überwinden.
Da wir auf einem Friedhof des 2. Weltkriegs zunächst noch nicht arbeiten durften, nutzten wir die Zeit, Soldatenfriedhöfe des 1. Weltkriegs...