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E-Book

Lernen

Ein pädagogischer Grundbegriff

AutorJörg Zirfas, Michael Göhlich
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783170228375
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Lebenslang zu lernen gilt heute als Notwendigkeit. Die Gesellschaft ist zu einer Lerngesellschaft geworden und Lernen zu einem Vorgang von zentraler Bedeutung. Das Buch entfaltet die Systematik eines genuin pädagogischen Lernbegriffs und richtet sich damit gegen Verkürzungen, die mit der Verwendung psychologischer und in jüngster Zeit neurowissenschaftlicher Lerntheorien einhergehen. Die Suche nach dem Lernbegriff in der Geschichte der Pädagogik, in der pädagogischen Anthropologie und in den Praktiken pädagogischer Institutionen sowie die Auseinandersetzung mit Lerntheorien anderer Disziplinen dienen dazu, eine den Problemen pädagogischer Praxis angemessene Theorie des Lernens zu entwerfen. In diesem Sinne werden vier pädagogische Dimensionen des Lernens rekonstruiert: Wissen-Lernen, Können-Lernen, Leben-Lernen und Lernen-Lernen.

Prof. Dr. Michael Göhlich und Prof. Dr. Jörg Zirfas lehren am Institut für Pädagogik der Universität Erlangen-Nürnberg.

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Leseprobe

2 Zugänge


Behaviorismus


Der Lernbegriff wurde im 20. Jahrhundert vor allem vom Behaviorismus geprägt, einer Theorie, die menschliches Verhalten als naturwissenschaftlich untersuchbar und erklärbar ansieht, es in Reiz-Reaktions- bzw. (Re-)Aktions-Konsequenz-Ketten zu zerlegen sucht und auf die Heranziehung innerpsychischer Vorgänge zur Erklärung von Verhalten verzichtet.

Die lang anhaltende Hegemonie des Behaviorismus ist gut an Hilgards (in späteren Auflagen: Hilgard/Bower) Übersichtswerk Theories of Learning (1948) zu erkennen, mit dem mehr als eine Generation amerikanischer Psychologen groß wurde. Aus ihm stammt die oft zitierte Definition des Lernens als »der Vorgang, durch den eine Aktivität im Gefolge von Reaktionen des Organismus auf eine Umweltsituation entsteht oder verändert wird« (Hilgard/Bower 1970, S. 16). Es wurde bis in die 1980er Jahre immer wieder neu aufgelegt und wirkte – zumal seit der deutschen Übersetzung von 1970 – auch auf den deutschsprachigen Diskurs. Das Werk stellt vor allem behavioristische Ansätze vor, so etwa die Lerntheorien von Thorndike, Pawlow, Guthrie, Skinner, Hull und Tolman. Andere Ansätze wie die Gestalttheorie, Lewins Feldtheorie und Freuds Psychoanalyse werden ebenfalls behavioristisch gelesen, d. h. der behavioristische Standpunkt wird als die disziplinäre Konvention der Psychologie (der implizit die Definitionshoheit über den Lernbegriff zugeschrieben wird) angesehen, auf die hin andere Ansätze (als übereinstimmend oder abweichend) zu überprüfen sind. Zudem kündigt sich in ihm bereits früh die Erwartung der behavioristischen Lerntheorie an die Neurophysiologie an, exakte physiologische und anatomische Korrelate des Lernens zu zeigen.

Bis heute wird die Lernpsychologie durch diese Verbindung behavioristischer Ansätze mit Rückgriffen auf neurophysiologische Befunde bestimmt. Als Beispiel hierfür mag das unter Psychologie-Studenten verbreitete Lehrbuch Lernpsychologie (Edelmann 2000) dienen, das mit der Darstellung hirnbiologischer Grundlagen von Lernen und Gedächtnis beginnt, dann ausführlich das Reiz-Reaktions-Lernen und das instrumentelle Lernen behandelt, bevor schließlich – hier ist die kognitive Wende (s. u.) schon vollzogen – auch auf Begriffsbildung, Handeln und Motivation eingegangen wird.

Auch wenn der Behaviorismus seinen Namen einem Aufsatz des amerikanischen Psychologen John Watson verdankt (Watson 1913), ist er ohne die Vorarbeiten der deutschen Assoziationspsychologie (v. a. Ebbinghaus) und vor allem der russischen Reflexologie (v. a. Pawlow) nicht denkbar.

Die Assoziationspsychologie interessierte sich für etwas, das man heute vielleicht am besten als »mechanisches Lernen« bezeichnen kann. Ebbinghaus untersuchte das Erlernen, wir könnten auch sagen: Auswendiglernen, sinnloser Silben (z. B. Tak, Pir, Gan) und stellte dabei seine berühmte »Vergessenskurve« auf. Kern seiner Lerntheorie war die Annahme einer unmittelbaren assoziativen Verknüpfung psychischer Elemente im Bewusstsein.

Die Reflexologie und die darauf aufbauende Theorie der klassischen Konditionierung, in der Fachliteratur auch als Signallernen, reaktives Lernen oder Reiz-Reaktions- bzw. Stimulus-Response-, kurz: S-R-Lernen, bezeichnet, geht hingegen von der Annahme der bewusstseinsunabhängigen Verknüpfung eines Reizes mit einem anderen bzw. eines Reizes mit einer Reaktion aus. Belege hierfür bieten Pawlows Versuche mit einem Hund, in dem ein unbedingter Reflex (hier: Maulbewegungen und Speichelproduktion als Reflex auf Säurezuführung) mit einem in zeitlicher Nachbarschaft auftretenden Reiz (hier: Glockenton) assoziiert wird, so das dieser zunächst neutrale zu einem bedingten Reiz wird, der Signalfunktion für den (nun bedingten) Reflex hat. Lernen in diesem Sinne ist Reizassoziation und vollzieht sich bewusstseinsunabhängig. Diese Auffassung machte sich auch John Watson, der Namensgeber des Behaviorismus, zu Eigen und suchte ihre Gültigkeit für menschliches Lernen in dem berüchtigten Experiment mit dem neunmonatigen Albert zu belegen, hinter dessen Rücken immer dann auf eine Eisenstange geschlagen wurde, wenn er mit seiner weißen Ratte spielte, bis er schließlich bereits beim Anblick der Ratte zu schreien begann, auch ohne dass das Geräusch erzeugt werden musste.

Hier deuten sich die ethische Problematik und der in dieser Hinsicht blinde Fleck an, die mit der Hegemonie des behavioristischen Modells den psychologischen Blick auf das Lernen prägen. Hierzu passt, dass ein anderes, immer wieder aufgelegtes Lehrbuch der Psychologie, welches diese – ganz im Sinne des Behaviorismus – als Wissenschaft vom Verhalten definiert, die Behauptung aufstellt, das »endgültige Ziel der Psychologie« sei »die Kontrolle des Verhaltens« (Zimbardo 1983, S. 35). Allerdings war es weniger die klassische Konditionierung und damit das Konzept des Reiz-Reaktions-Lernens als die Theorie der operanten Konditionierung bzw. des instrumentellen Lernens, die dem Behaviorismus zur hegemonialen Stellung im Diskurs um menschliches Lernen verhalf.

Angelegt war diese zweite große behavioristische Lerntheorie, die mit den Arbeiten Skinners in den 1950er Jahren ihren Durchbruch erzielte, in gewissem Sinne schon bei Thorndike. Seine Formel »Lernen am Erfolg«, auch Lernen durch Versuch und Irrtum (trial and error) genannt, hat weniger einen Reiz als vielmehr die Konsequenz eines Verhaltens im Blick, man könnte auch sagen: Die Konsequenz ist der Reiz.

Diese Theorie wurde von Skinner weitergeführt. Gelernt wird seiner Auffassung nach, was erfolgreich und nützlich ist, d. h. Verhaltensweisen, die einen angenehmen Zustand herbeiführen oder bewahren.

Skinners Theorie versucht sich jeglicher Begriffe zu enthalten, die Erlebnisse beschreiben. Aussagen wie z. B., dass ein Individuum bestimmte Konsequenzen seines Verhaltens erwartet oder befürchtet, hält Skinner für nicht zulässig. Dementsprechend wendet er sich gegen die Einführung beobachtungserklärender theoretischer Annahmen wie etwa des Konzepts der Motivation. Wissenschaftstheoretisch gesehen sucht Skinners Behaviorimus im Grunde lediglich Bedingungen für eine Veränderung der Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens zu erfassen.

Auf dieser Grundlage entwickelte Skinner sein Konzept des operanten Konditionierens. Er unterscheidet zwischen Antwortverhalten (als solches bezeichnet er das vom klassischen Konditionieren fokussierte Geschehen, also eine Reaktion auf einen Reiz) und Wirkverhalten. Letzteres ist ein zunächst spontanes Verhalten. Skinner geht also durchaus vom aktiven Menschen aus und überschreitet damit die Prämisse der S-R-Lerntheorie. Die Aktivität eines Menschen muss ihm zufolge nicht erst durch äußere Reize angeregt werden, sondern ist in der Regel Wirkverhalten, d. h. auf die Umwelt wirkendes und durch diese Wirkung bestimmtes Verhalten.

Als operante Konditionierung bezeichnet er die Konditionierung eben dieses Wirkverhaltens. Durch operantes Konditionieren erzeugtes Lernen wird heute meist als instrumentelles Lernen bezeichnet. Bei instrumentellem Lernen steht also Verhalten mit nachfolgenden Ereignissen (Wirkungen) in Verbindung. Wie im Reiz-Reaktions-Lernen aus einer unbedingten eine bedingte Reaktion wird, so wird im instrumentellen Lernen aus einem wirkungsoffenen ein wirkungsgebundenes Verhalten. Jede minimale Verhaltensänderung in Richtung des (in den Tierversuchen wie auch in der später darauf aufbauenden Verhaltenstherapie als extern, d. h. von einer anderen Person kontrollierbar gedachten) Endverhaltens wird gleich verstärkt. Ein zentraler Begriff der Theorie instrumentellen Lernens lautet Kontingenz. Gemeint ist damit – passend zur wissenschaftstheoretischen Position Skinners (s. o.) – ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Umweltereignisse von einer bestimmten Verhaltensweise abhängen.

Aus dieser behavioristischen Perspektive sind im Wesentlichen vier Formen instrumentellen Lernens möglich, nämlich die positive und die negative Verstärkung – die beide zum Aufbau eines bestimmten Verhaltens führen – sowie die Bestrafung und die Löschung – die beide zum Abbau eines bestimmten Verhaltens führen. Während die Bestrafung seit der Antike Bestandteil des Diskurses um Lernen ist und der Begriff der positiven Verstärkung (mit dem ein Lob, die Gabe einer Süßigkeit o. ä. bezeichnet wird) in den letzten Jahrzehnten ebenfalls in die Alltagssprache Eingang gefunden hat, blieben die Begriffe der negativen Verstärkung (mit dem der Entzug eines unangenehmen Ereignisses bezeichnet wird) und der Löschung (bei der dem Verhalten weder eine angenehme noch eine unangenehme Wirkung folgt) der Alltagssprache fremd.

Aufgegriffen wurden sie vom therapeutischen Diskurs, in den der behavioristische Zugang in Form der Verhaltenstherapie(n) früh Eingang fand und in dem er sich hierzulande spätestens mit der gesetzlichen Zulassung der Verhaltenstherapie als von den Krankenkassen anzuerkennende Therapieform etabliert hat. Als Verhaltenstherapie werden all jene therapeutischen Verfahren bezeichnet, die auf eine Veränderung des gegenwärtigen Verhaltens abzielen. Die Aufdeckung unbewusster seelischer Konflikte wird – im Gegensatz zur Psychoanalyse – ausdrücklich nicht zum Ziel erklärt. Die Modifikation des Verhaltens soll stattdessen durch Konditionierung im Sinne der behavioristischen Lerntheorie erreicht werden. So wird z. B. bei Phobien die schrittweise Annäherung an das gefürchtete Objekt oder die gefürchtete Situation mit der gleichzeitigen Ausführung angsthemmender Tätigkeiten wie etwa Entspannungsübungen verbunden.

Die –...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Inhaltsverzeichnis6
1 Einleitung8
Pädagogische Beispiele9
Interdisziplinär. Aktuelle Diskurse über Lernen12
Intradisziplinär. Grundbegriffe der Pädagogik15
Zur Systematik des Bandes19
2 Zugänge20
Behaviorismus20
Konstruktivismus25
Biowissenschaft29
Lernphilosophie35
Phänomenologie43
Kulturtheorie49
Biographieforschung54
3 Geschichte61
Antike61
Mittelalter und Renaissance71
Aufklärung, Idealismus und Romantik80
20. Jahrhundert90
4 Anthropologie99
Raum99
Anthropologie des Raumes als Lernraum99
Geschichte der Gestaltung des Raums als Lernraum101
Chancen und Risiken der pädagogischen Gestaltung von Raum105
Zeit107
Zeit verlieren107
Zeitmanagement112
Körper und Leib118
Anthropologie des Leibes als Lernleib118
Geschichte des pädagogischen Zugangs zum Verhältnis von Lernen und Leib122
Pädagogische Praxis als Unterstützung leiblich gerahmten Lernens124
Subjektivität und Fremdheit126
Das eigene Fremde128
Das fremde Eigene131
Das fremde Fremde132
5 Institutionen137
Familie137
Familiale Lernwelt138
Mimetisches Rollenlernen139
Zur Bedeutung von Ritualen für Lernprozesse141
Intergenerationelles Lernen142
Kinderkrippe und Kindergarten144
Der moderne Kindergarten als Institution des Lernen-Lernens144
Die Ursprünge institutioneller Kleinkinderbetreuung145
Hilfe, Anpassung, Ertüchtigung und spielerische Entwicklung146
Leben lernen in Einrichtungen der frühen Kindheit148
Neuere Konzeptionen149
Schule150
Schule als Institution bzw. Organisation des Lernens151
Schulkritik152
Wert der Schule153
Ideale Schule: Lebensort, Erfahrungsraum und Haus des Lernens154
Schulentwicklung155
Betrieb156
Entdeckung des Betriebs als Lernort157
Aufgaben des Betriebs als Lernort157
Elemente des Lernorts Betrieb158
Formen des Lernens im Betrieb160
Lernen des Betriebs161
Heim162
Das Heim als Institution des Leben-Lernens. Eine historische Skizze162
Lernen im Heim. Konzeptionelle Hinweise164
Was wird wie im Heim gelernt? Heime aus Sicht ihrer Bewohner165
Vielfalt der Heime als Vielfalt des Lernens?166
Beratung und Weiterbildung167
Beratung als Lern(-unterstützungs-)praxis168
Institutionalisierung(sformen) der Beratung169
Beratungsphasen und Lernprozess171
Grenzen des Lernens in der Beratung172
Beratung und Weiterbildung. Zur Institutionalisierung lebenslangen Lernens173
Medien174
Aspirationen im Multimedia-Zeitalter175
Zur kritischen Einschätzung der Innovationsleistungen neuer Medien176
Mediale Lerneffekte178
6 Eine pädagogische Theorie des Lernens181
Lernen als pädagogischer Grundbegriff181
Die vier Dimensionen des Lernens182
Wissen-Lernen182
Können-Lernen185
Leben-Lernen188
Lernen-Lernen191
Ausblick195
7 Literatur197

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