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E-Book

Kinder krebskranker Eltern

Prävention und Therapie für Kinder, Eltern und die gesamte Familie

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl278 Seiten
ISBN9783170227057
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Mit Beiträgen von A. Aschenbrenner, F. Balck, M. Brennecke, S. Broeckmann, A. Dörner, A. Fleischmann, M. Haagen, C. Heinemann, S. Hellmann, T. v. d. Horst, A. Hupe, B. Karadag, D. Lehmann, B. Möller, H. Nöthig, B. Petershofer-Rieder, E. Reinert, B. Senf, G. Trabert, A. Wenger, A. Zimmermann Im deutschsprachigen Raum sind jährlich ca. 200 000 Kinder neu von der Krebserkrankung eines Elternteils betroffen. Jedes zehnte dieser Kinder wird im Verlauf psychisch auffällig. In diesem Buch wird theoretisch und praktisch dargestellt, wie die Kinder und deren Familien durch präventive und therapeutische Angebote begleitet werden können. Die Vielfalt der Interventionsansätze für das einzelne Kind wird verdeutlicht. Verschiedene Möglichkeiten, mit der Familie zu arbeiten, werden beschrieben, und auch der Umgang mit Sterben und Tod wird thematisiert.

Claudia Heinemann ist Psychologische Psychotherapeutin. Sie ist in der onkologischen Beratungsstelle phönikks in Hamburg tätig. Elke Reinert ist Psychoonkologin und Leiterin des Psychologischen Dienstes am Tumorzentrum Ludwig Heilmeyer - CCCF am Universitätsklinikum Freiburg.

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Leseprobe

3 „Wenn Mama oder Papa Krebs hat“ – Einzelbegleitung und psychotherapeutische Interventionen


Bettina Petershofer-Rieder

„Das Erschütternde ist nicht das Leiden der Kinder an sich, sondern der Um-
stand, dass sie unverdient leiden ...
Wenn wir nicht eine Welt aufbauen können, in der Kinder nicht mehr leiden, können wir wenigstens versuchen, das Maß der Leiden der Kinder zu verrin-
gern.“

(Albert Camus)

3.1 Einleitung


5 bis 15 % aller Kinder und Jugendlichen sind im Laufe ihrer Entwicklung von einer schwerwiegenden körperlichen Erkrankung eines Elternteils betroffen (Worsham & Compas, 1997), die die Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen wesentlich beeinflussen kann. Huizinga und Kollegen (2005) konnten in ihrer Arbeit an 220 Jugendlichen (Alter: 11 bis 18 Jahre) und 64 jungen Erwachsenen (19 bis 23 Jahre) zeigen, dass 21 % der Söhne und 35 % der Töchter ein bis fünf Jahre nach Diagnosestellung bei einem Elternteil klinisch relevante Stresssymptome aufwiesen. Töchter, deren Eltern an einem Rezidiv erkrankten, zeigten mehr Symptome, als jene, deren Eltern mit der Erstdiagnose konfrontiert waren. Es existieren allerdings wenige Daten über Langzeitfolgen bei Kindern und Jugendlichen, deren Elternteil an Krebs erkrankt ist. Eine groß angelegte deutsche Studie (n=1310) zeigte, dass 8,3 % der psychiatrischen Patienten Kinder und Jugendliche krebskranker Eltern waren (Barkmann, C., Romer G., Watson M., Schulte-Markwort M., 2007). Es kann somit davon ausgegangen werden, dass es sich hier um eine nicht zu vernachlässigende Population handelt. Eine unzureichende Anpassung an tiefgreifende Stressoren, welche durch die Erkrankung eines Elternteils auftreten, manifestiert sich in vielfältigen körperlichen, psychischen und Verhaltensreaktionen. Die Studie von Trabert, Axmann und Rösch (2007) konnte zeigen, dass am häufigsten ein Leistungsabfall in der Schule beobachtet wurde. Dies zeigte sich bei 50 % der Kinder zwischen 11 und 14 Jahren und bei 39 % der 15- bis 18-Jährigen. Die Verhaltensauffälligkeiten

  • „zunehmende Aggression“ (30 % der 15- bis 18-Jährigen),
  • „Veränderung im Spielverhalten“ (39 % der 3- bis 5-Jährigen),
  • „sich zurückziehen von der Familie/Freunden“ (30 % der 11- bis 18-Jährigen)

traten signifikant häufiger auf als bei Kindern ohne eine derartige Belastung. Als weitere beobachtete Verhaltensauffälligkeiten wurden „Angst um den erkrankten Elternteil“, „erhöhte Anhänglichkeit“ und ein „nicht altersentsprechendes Verantwortungsbewusstsein“ genannt.

Das Risiko für das Auftreten von Verhaltensproblemen bei Kindern oder Jugendlichen wird von Watson, M., St. James-Roberts, I., Ashley, S., Tilney, C., Brougham, B., Edwards, L., Baldus, C. & Romer, G. (2006) an familiären Faktoren festgemacht: geringer Familienzusammenhalt, eingeschränkte emotionale Ansprechbarkeit der Eltern und elterliche Verstrickung (übermäßige Beteiligung). Als Resümee werden Behandlungen mit dem Fokus auf die Förderung der familiären Kommunikation von entscheidender Bedeutung angesehen (siehe Kapitel 10).

Barkmann et al. (2007) stellen fest, dass Kinder körperlich kranker Eltern eine höhere Anzahl an Symptomen zeigten, mit einer Tendenz zu internalisierenden Reaktionen (Angst, Depression, sozialer Rückzug). Die größte Vorhersagekraft, dass ein Kind bzw. ein Jugendlicher internalisierende Probleme entwickelt, ist die vorhandene elterliche Depression. Für die Entwicklung von externalisierenden Problemen sind familiäre Schwierigkeiten der größte Prädiktor (Thastum, M., Watson, M., Kienbacher, C., Piha, J., Steck, B., Zachariae, R., Baldus, C. & Romer, G., 2009). Thastum et al. (2009) ziehen aus ihrer Studie ebenso die Schlussfolgerung, dass eine sinnvolle psychologische Unterstützung eine familienorientierte Herangehensweise wäre.

Die Prävalenz einer klinisch bedeutsamen Depression beträgt 35 % bei krebskranken Müttern und 28 % bei krebskranken Vätern (Schmitt, F., Piha, J., Helenius, H., Baldus, C., Kienbacher, C., Steck, B., Thastum, M., Watson, M. & Romer, G., 2008). Beeinträchtigungen im Familiensystem durch elterliche Depression dürfen somit nicht unterschätzt werden und stellen ein wichtiges Kriterium für eine familienorientierte psychosoziale Behandlung dar.

Watson et al. (2006) konnten nachweisen, dass kindliche Auffälligkeiten nach einer Krebserkrankung eines Elternteils nicht in Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Diagnosestellung (3 bis 36 Monate danach) standen. Ebenso wenig konnte eine Korrelation von kindlichen Auffälligkeiten und der aktuellen Behandlungssituation (zum aktuellen Zeitpunkt Chemotherapie oder nicht) hergestellt werden.

Riedesser und Schulte-Markwort (1999) beschreiben Symptome einer dysfunktionalen Bewältigung bei Kindern chronisch kranker Eltern folgendermaßen:

  • Regressive Symptome (z. B. Daumenlutschen, Trennungsangst, Einnässen),
  • Depressive Symptome mit/ohne Suizidalität,
  • Angstsymptome,
  • Konzentrations- und Lernstörungen,
  • Zwangssymptome,
  • Konversionssymptome (Umwandlung eines psychischen Konfliktes in körperliche Symptome, ohne dass ein organischer Befund dafür vorliegt),
  • Verwahrlosung, Drogenabusus,
  • Überanpassung („pathologische Unauffälligkeit“).

3.2 Bewältigung einer außergewöhnlich belastenden Lebenssituation


Kinder können eine derartig belastende Lebenssituation leichter bewältigen, wenn es ihnen möglich gemacht wird, die Realität begreifen zu dürfen, anstatt mit zahlreichen Phantasien leben zu müssen. Eltern bemerken es meist, wenn ihre Kindern Sorgen haben. So spüren Kinder auch, wenn Eltern sich ihnen gegenüber anders verhalten. Kinder erleiden keinen Schaden, wenn sie von den Ängsten und Sorgen des erkrankten Elternteils erfahren.

Da ein Kind ein Teil der Familie ist, kann eine Krankheit zumeist nur in dem Rahmen bewältigt werden, wie es dies von den Eltern vorgelebt bekommt. Die Untersuchung von Steck, Grether, Amsler, Schwald Dillier, Romer, Kappos & Bürgin (2007) besagt, dass Kinder (älter als sechs Jahre) ein gutes Bewältigungsverhalten (Coping) zeigten, wenn der erkrankte Elternteil ebenso gute Copingstrategien aufwies und nicht unter Depressionen litt. Kinder und Jugendliche beobachten sehr genau, wie ihre Eltern mit Krisensituationen umgehen. Wenn sie sehen, dass die Eltern in Krisensituationen bei Bedarf auf externe Hilfe zurückgreifen können, wird der Vorschlag einer externen Begleitung für das Kind mitunter auch leichter angenommen. Immer wieder bewältigen Kinder und Jugendliche die Krebserkrankung ihrer Mutter oder ihres Vaters in einer Weise, die weit über ihrem Altersniveau liegt. Teilweise kann dabei auf eine Parentifizierung geschlossen werden. Das bedeutet, dass Kinder in eine Art Elternrolle gegenüber den Eltern geraten und sich für deren Wohlergehen verantwortlich fühlen. Kinder versuchen instinktiv die Lücke auszufüllen, die durch die Einschränkungen des erkrankten Elternteil entstanden ist, was am häufigsten bei den ältesten Kindern einer Familie passiert. Diese Art von Verantwortungsübernahme stellt eine Überforderung für Kinder als auch für Jugendliche dar. Sie haben das Gefühl, mehr tun zu müssen, als sie tun können. Sie stellen eigene Wünsche zurück und leiden unter Schuldgefühlen. Im Beruf übernehmen sie später oft schnell Verantwortung. Die Stärken, die Kinder durch so eine Belastungssituation entwickeln, sind oft gleichzeitig ihre Schwächen, unter welchen sie leiden. Im folgenden Beispiel wird auf diese Thematik eingegangen.

Beispiel 1

Eine an Brustkrebs erkrankte Mutter kam mit ihrer 16-jährigen Tochter in die Beratungsstelle. Die Mutter machte sich große Sorgen um die Jugendliche, die geäußert hatte, dass sie nicht mehr leben wolle. In der Therapie mit dem Mädchen stellte sich bald heraus, dass sie vielfältige Funktionen für die Mutter übernahm: sie verließ beispielsweise ihren Arbeitsplatz mehrmals pro Woche früher, um der Mutter die notwendigen Injektionen zu verabreichen, die jüngere Schwester zu versorgen und den Haushalt zu führen. Die altersadäquate Ablösung war äußerst schwierig, ihrem Alter entsprechende Interessen kamen lange Zeit zu kurz und wurden erst durch die therapeutische Begleitung wieder aktiviert. Die Jugendliche war sehr gewissenhaft, überkorrekt und in ihren Kognitionen bereits wie eine Erwachsene. Gleichzeitig überforderte sie ihre hohe Verantwortung für die kranke Mutter, die minderjährige Schwester und sich selbst.

(Petershofer-Rieder, 2007) Fallbeispiel der Österreichischen Krebshilfe Wien

Das Beispiel ist repräsentativ für die Hypothese, dass betroffene Töchter krebserkrankter Mütter vermehrt familiäre Pflichten übernehmen, wodurch unter anderem Probleme der Ablösung deutlich werden. Generell erscheint die Berücksichtigung der Geschlechtsspezifität sehr wesentlich. Hierbei belegen Untersuchungen, dass häufiger Verhaltensauffälligkeiten bei Töchtern erkrankter Mütter zu beobachten sind (Welch, Wadsworth & Compas, 1996). Andere Studien zu diesem Themengebiet kommen aber durchaus zu anderen Ergebnissen. Eine aktuelle dänische Studie von Thastum et al. (2009) besagt, dass bei Kindern und Jugendlichen ein höheres Risiko für eine problematische Bewältigung der Erkrankung bestand, wenn der Vater...

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