Einleitung
Oder: Mein roter Faden
Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich 1980 auf dem Rand des verwitterten Brunnens mitten auf dem Marktplatz in Marburg saß, und ich spüre noch die Frühlingssonne auf meiner Haut, das Kribbeln und diese Wärme in meinem Bauch, die sich langsam ausbreitete in Arme und Beine, bis ich nicht anders konnte, als laut loszuschreien. Leute drehten sich verwundert zu mir um, aber mir war das egal. Ich hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren das Gefühl, richtig in der Welt zu sein. »Ich bin lesbisch.« Das war der Satz, der mir Einsamkeit und Scham nahm und das Gefühl, krank oder einfach nur falsch zu sein. Ein überwältigend schönes Gefühl.
Wochenlang war ich immer wieder ins Frauencafé des ASTA, des Allgemeinen Studentenausschusses, wie er damals hieß, gegangen und hatte Monika, der lesbischen Mitbewohnerin meiner Schwester, die dort arbeitete, von einer Freundin erzählt, die sich in Mädchen verknallte. Geduldig hat sich Monika meine Geschichten angehört. Natürlich wusste sie, dass ich von mir sprach. Aber sie hatte über meine Schwester erfahren, wie streng katholisch meine Familie war und wusste daher, wie hoch die Hürde für mich war, mir und anderen einzugestehen, dass ich Frauen liebe.
Und dann war der Tag da, an dem ich ihr strahlend sagte, dass ich diese Freundin war, von der ich ihr erzählt hatte. Sie hat mich umarmt und mir zu diesem Schritt gratuliert. Ich fühlte mich wohl in ihrer Umarmung – echt, wahr und frei. So viele Jahre hatte ich jede Berührung mit Mädchen oder Frauen, die ich mochte, vermieden, weil sie vermeintlich verbotene Gefühle in mir ausgelöst hatten. Mit coolen Sprüchen wie »Nich am Bär packen und keine Sentimentalitäten bitte!« hatte ich mir jede Irritation buchstäblich vom Leib gehalten – bis zu dieser ersten Umarmung, die sich richtig anfühlte.
Natürlich war ich in diese Frau verknallt – wie sich wohl fast alle Mädchen und Frauen in die Lesbe oder Bi-Frau verknallen, die ihnen hilft, zu sich zu stehen. Es fühlte sich einfach fantastisch an, einmal nicht »ins Leere« hinein verliebt zu sein. Monika liebte ebenfalls Frauen und vielleicht sogar mich. (Dass sie eine Freundin hatte, wusste ich an diesem Tag zum Glück noch nicht.) Ich war so überwältigt von diesem Gefühl, dass ich nur flüchten und für mich sein wollte. Also habe ich mich aus ihrer Umarmung gewunden und bin losgerannt – raus aus dem Mensagebäude, die Lahn entlang, über die Brücke auf die andere Seite des Flusses, den Hirschberg hoch, an der Jura-Fakultät hinauf bis zum Marktplatz. Atemlos ließ ich mich auf die von der Sonne gewärmten Steine am Fuße des Brunnens fallen und keuchte heftig. Und dann ist es aus mir herausgebrochen: »Ich bin lesbisch.«
Ich war nicht mehr allein, ein Fehler, eine Sünderin, eine Last, falsch gepolt. Es gab mehr als nur mich, die so empfanden. Es gab tolle Frauen wie Monika und die anderen Lesben aus dem Café. Ich war zum ersten Mal verknallt in eine Frau, die nicht mit einem Typen zusammen war. Ich hatte so lange mit mir gehadert, mit Gott, die mir diese Last gegeben hatte, mit meiner Familie, die nicht wissen durfte, was in mir vorging, mit den Mädchen, die ich anbetete und die dann doch mit pickeligen, rumschwadronierenden Jungen zusammen waren. Wie oft wäre ich gern als Junge aufgewacht, damit sich das Mädchen meiner Träume auch in mich verlieben konnte. Ich hatte gedacht, ich wäre die Einzige, die so empfand. Ich dachte, ich wäre krank und habe diesem falschen Körper Schnitte beigebracht, habe mich leichter gefühlt, wenn Blut aus diesen Schnitten quoll. Mein erster BH war wie Verrat an dem Gefühl, das ich hatte.
Aber jetzt war ich richtig. Ich lag nicht mehr quer in der Welt. Es gab Frauen wie mich, die sich in andere Frauen verliebten und die diesen Körper auch begehren konnten – und es war in Ordnung. Die lesbischen Frauen im ASTA-Café sahen auch nicht so aus wie die Mädchen auf unserer Schule. Sie wollten keinen Mann beeindrucken. Sie trugen weite Pumphosen, raspelkurze Haare, keinen BH und weite Hemden. Sie sahen stark aus, sprachen laut, kokettierten nicht.
Monika erzählte mir vom Frauenzentrum. Dort traf ich noch viel mehr Lesben. Ich bekam eine Doppelaxt1 als Anhänger an einer Kette geschenkt und lila Lesbenaufkleber für mein Fahrrad. Mit meinem neuen Blick erkannte ich Lesben auf Veranstaltungen, im Seminar, im Frauenzentrum. Mich lesbisch zu nennen war ein Befreiungsakt, war ein Liebesakt.
Ich konnte meinen Blick jetzt ganz auf Frauen richten, und es erschien mir einfach natürlich, parteilich für Frauen zu sein, sprich: Feministin zu werden. Meine Zuneigung galt allen Frauen. Ich entdeckte Schriftstellerinnen, sah Filme mit Frauenpaaren, las feministisch-lesbische Bücher.
Dieser erste Moment auf dem Brunnen in Marburg verlieh meiner Liebe einen Namen und gab und gibt mir bis heute Kraft, für Frauen zu kämpfen und Frauen zu lieben. »Lesbisch« – das ist meine Identität, mein Ich, wenn es um Liebe und Begehren geht. Ich habe Frauen im Blick, und dadurch sehe ich, was ihnen angetan wird. Lesbisch zu sein gibt mir die Achtsamkeit, jede Frau einzeln zu sehen – egal, wen sie begehrt. Mir liegt das Glück von Frauen am Herzen. Ich nehme die Kraft und das Potential jeder Frau wahr, auch wenn sie sich von mir durch ihre politischen Überzeugungen, ihre Religion, ihre gesellschaftlichen Bedingungen und ihre Geschichte unterscheidet. Und ich nehme historische Frauen, deren Leben oft nur in Bruchstücken überliefert oder hinter Männerbiografien verborgen ist, genauer wahr. Manchmal kann ich auch aus winzigen Indizien ihr verborgenes lesbisches Leben freilegen und sie somit wieder sichtbar machen. Lesbische Liebe bedeutet in einer patriarchalen Gesellschaft, frei vom emotionalen Einfluss von Männern zu leben, aber auch allein oder zu zweit meist weniger zu verdienen als Männer oder als ein heterosexuelles oder schwules Paar. Es bedeutet, von Männern oft mit schlüpfrigen Fantasien aus billigen Pornos im Hinterkopf betrachtet zu werden. Es bedeutet, als »Mannweib«, »Kampflesbe«, »verbittertes, hässliches Weib«, »Muschileckerin«, »humorlose Ziege« und ähnliches beschimpft zu werden. Es bedeutet, als Paar nicht ernst genommen zu werden. Oft wird die lesbische Beziehung als »Mädchenfreundschaft« enterotisiert und verniedlicht. Es bedeutet, so dämliche Fragen gestellt zu bekommen wie »Fehlt euch beim Sex nicht ein richtiger Schwanz?«. Es bedeutet häufig, dass die Eltern dein Zusammenleben mit einer Frau den anderen Verwandten verkaufen mit Erklärungen wie »Sie wohnt mit dieser Freundin zusammen, damit sie sich die Miete teilen können.«.
Es kann bedeuten, es nie den Eltern erzählen zu können, weil diese einer rigiden Richtung ihrer Religion angehören, in der Homosexualität eine Sünde ist, oder aus einer Kultur stammen, in der Homosexualität zum Ausschluss aus der Familie oder Schlimmerem führt.
Diese ganzen Verletzungen, Kränkungen und Missachtungen verlieren an Bedeutung, wenn ich mit anderen Lesben oder Menschen zusammensein kann, die mich so lieben, mögen oder auch nur respektieren, wie ich bin.
Dieser Glücksmoment auf dem Brunnen in Marburg ist meine innere Heimat, mein Wohlfühlort, an den ich innerlich jederzeit zurückkehren kann.
Ich bin eine Lesbe, die parteiisch für Frauen* ist. Diese Solidarität hat mich angetrieben, mich ohne Bezahlung unendlich viele Stunden für Frauenbefreiung und die Freiheit aller Menschen, die nicht der Norm entsprechen, einzusetzen – ob im Frauenzentrum, als autonome antiimperialistische Lesbe, im SO36 bei den QUEER-PARTYs und bei ELDORADIO, dem lesbisch-schwulen Radio in Berlin. Ich habe als offene Lesbe in einer Werbeagentur und bei einer Fernsehserie gearbeitet, um Geld zu verdienen, und mir viele dumme oder diskriminierende Sprüche angehört, ich habe aber auch viele tolle starke Frauen kennengelernt und einige gute Männer.
Ich beziehe nur eine kleine Rente, weil mir viele Jahre fehlen, die ich nicht in die Rentenkasse einzahlen konnte, und weil es in meiner Generation noch keine Infrastruktur geförderter Stellen oder gar Stiftungen und Institutionen gab, die Frauen und Lesben Geld zur Verfügung gestellt hätten. Und heute werden aus den wenigen Töpfen, die Frauen und Lesben zur Verfügung stehen, schon wieder Mittel herausgeschöpft und umgewidmet. Manchmal ist es ein wenig absurd, dass Frauen und andere Personen auf den wissenschaftlichen Stellen, die wir durch unbezahlte feministische Arbeit erst ermöglicht haben, Geschlecht so weit theoretisch dekonstruieren, dass radikale Missinterpretationen dieser Forschung sich praktisch gegen Frauen und Lesben als überholte und exklusive soziale Konstrukte wenden.
Ich bin eine Lesbe. Das ist mein roter Faden, das ist meine Geschichte, das ist meine Art zu lieben. Für mich ist das L nicht nur ein Buchstabe in einer ganzen...