Einleitung, Entstehungsgeschichte, Erkenntnisse
oder: Was mir seit Jahren und beim Verfassen dieses Buches im Kopf herumschwirrte
Fiktion versus Realität
Dieses Buch ist von Frühjahr 2012 bis Herbst 2013 entstanden, das Vorwort aktualisierte ich für die vorliegende Ausgabe im Herbst 2016. In meinem Kopf existiert der Text schon wesentlich länger und könnte immer weitergeschrieben werden. Über all die Jahre hat sich der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität enorm gewandelt. Bereits 2013 las ich einen Artikel in der Zeitschrift »neon« über Pornopartys, einen neuen Trend in der Discoszene [1]. Und erfahre darin, dass »90 Prozent der männlichen 19-Jährigen Pornos konsumieren. Bei den Mädchen sind es drei Viertel.« Pornografie als Alltagsnormalität verändert die Fähigkeit zur Beziehung und die Gestaltung einer für Männer wie Frauen befriedigenden Sexualität enorm. Für mich als über Fünfzigjährige ist die rasante Entwicklung schwer nachvollziehbar und macht es nicht einfacher, eine »gültige« Einleitung zu einem recht komplexen und auch schnelllebigen Thema zu schreiben [2]. Während ich recherchierte und Menschen interviewte, liegen Sex- und Pornoportale im Rang vor Websites wie Yahoo! und Spiegel.online. Der heimliche »Seitensprung« oder eine schnelle, »unkomplizierte« Affäre scheinen seit einiger Zeit bei heterosexuell orientierten Menschen zum Normalfall geworden zu sein [3], Pornoszenen werden von Menschen jeden Alters nachgestellt und als Videos im Internet hochgeladen, wobei ihr mitunter gewaltverherrlichendes und frauenverachtendes Potenzial gedankenlos weiterverbreitet wird. Fiktion und Realität vermischen sich. Die Koppelung Beziehung/Sexualität löst sich mehr und mehr auf. Menschen finden Lösungsmöglichkeiten, die vor Jahren noch unvorstellbar gewesen wären, um Entspannung von einem Leidensdruck zu finden, der durch das Dogma Monogamie entstanden ist.
Auch der »Stern« berichtete im Juni 2013 [4] vom »Leidensdruck […] erstarrter Beziehungen, denen die Spannung abhandengekommen ist. Partner, die nicht mehr begehrt werden – Zauber verflogen, Leidenschaft dahin. Millionen möchten sie zurückgewinnen.«
Doch wie? Auf welche Weise? Heimlich, offen? Gemeinsam mit dem Partner oder der Partnerin auf Entdeckungsreise gehen – oder nachts allein im Internet in eine andere Rolle schlüpfen? Wie lässt sich das eigene sexuelle Begehren leben, ohne eine Beziehung zu gefährden, Vertrauen aufs Spiel zu setzen? Fragen, die ich mir immer wieder im Laufe meines Älterwerdens stellte – und mit denen ich nicht allein bin.
Entstehungsgeschichte und Hauptanliegen
Offenbar befinde ich mich mit diesem Buch am Puls der Zeit, auch wenn mir meine Herangehensweise manchmal antiquiert vorkam: Ich veröffentlichte zum Beispiel im Sommer 2012 eine Printanzeige in der »taz« und suchte »offene« Männer wie Frauen jenseits der vierzig, die bereit waren, Auskunft über ihre sexuelle Entwicklungsgeschichte zu geben. Es meldeten sich zahlreiche Interessierte, alle erhielten ein Anschreiben und einen Fragebogen, manche schickten mir ihre Antworten zurück. Einige wählte ich daraufhin für ein Interview aus und verwandelte die Gespräche mit ihnen in Porträts. [5]
Meine Hauptfrage war und ist, wie Menschen sich im Laufe ihres Lebens in ihrer Sexualität erleben, wie sie diese gestalten und wie sie reagieren, wenn sich Grenzen zeigen: zum Beispiel durch körperliche Beeinträchtigungen, durch das Fehlen eines Partners oder einer Partnerin oder durch Lustlosigkeit in einer langjährigen Partnerschaft.
Mein Anliegen war, hinter Vorstellungen und Fantasien zu schauen und diese mit der Realität abzugleichen. Ich fragte nach dem tatsächlich Erlebten und nach den Themen, die einen nicht in Ruhe lassen. Weil ich verstanden habe, dass Vorstellungen im Kopf, festgefahrene Meinungen und Fantasien häufig Vermeidungsstrategien sind, also das Gegenteil dessen, was tatsächlich in der Begegnung mit einem Menschen erlebbar werden könnte.
Vermeidung scheint mir auch der Schlüssel für den Anstieg des Pornokonsums zu sein, für die scheinbare Normalität von heimlichen Affären wie insgesamt für die Entwicklung unserer Kommunikationsformen. Heute mailen, chatten, simsen wir oder teilen uns auf Facebook mit. Wir unterhalten uns nicht mehr mit einem physischen, sondern mit einem virtuellen Gegenüber. Der Trend heißt: Vermeidung von Nähe und tatsächlichem Kontakt.
Rätsel und Träume
Ein Wesen, wie ich es bin, leidet darunter, dass Körperkontakt, Intimität, Sinnlichkeit in unserer Gesellschaft zu kurz kommen. Für mich ist sexuelles Begehren und Begehrt-Werden, Küssen, Anfassen, In-die-Augen-Blicken … ein Lebenselixier. Und aus diesem Grund stellt sich für mich immer wieder die Frage, warum diese menschlichen Ausdrucksformen so wenig selbstverständlich im täglichen Leben sind. Warum betreiben wir einen Mangelkult um diese positive Lebenskraft bzw. Kraftquelle? Warum wird diese enorme Energie nicht für ein gutes Gelingen des täglichen Miteinanders genutzt? Eine längere Umarmung unter FreundInnen, die die Zuneigung auch auf körperlicher Ebene bestätigt, ein kuscheliger Abend mit befreundeten Paaren statt des braven gemeinsamen Restaurantbesuchs, Liebkosen und Streicheln von Kranken, damit sie besser genesen … Wie viel sicherer und geborgener würden wir uns fühlen, wenn körperliche Nähe nicht nur auf ein/zwei Menschen begrenzt wäre, sondern selbstverständlicher geteilt werden würde. Wissenschaftler wie Martin Grunwald von der Universität Leipzig bestätigen die existenzielle Bedeutung von Berührung für ein besseres Lebensgefühl. [6] Leider wird ein freier, freudvoller Umgang mit Berührungen trotz aller Entwicklung in der westlichen Gesellschaft wenig kultiviert, oftmals sogar untersagt und unterdrückt. Gewaltfantasien oder -taten sind meiner Meinung nach ein Resultat dieses Mangels an erlebter Geborgenheit und Nähe.
Was wäre, frage ich mich seit Jugend an, wenn ich in einer Gesellschaft aufwachsen würde, in der das Erleben von Nähe und Körperkontakt gefördert würde? Wenn Wert darauf gelegt würde, dass jeder Mensch seine/ihre Möglichkeiten kennenlernt, die zur sexuellen Erfüllung führen? Wenn es zum »guten Ton« gehören würde, Liebe und Zuwendung zu verschenken, statt zurückzuhalten. Eifersucht, Besitzansprüche und Einsamkeitsgefühle wären dann möglicherweise ebenso überwunden wie die Frage, ob und wie unser sexuelles Begehren auch außerhalb einer Beziehung gelebt werden darf.
Viele Porträts in diesem Buch zeigen, dass andere Menschen meine Gedanken und Wünsche teilen und dabei sind, die bislang kulturell festgeschriebenen Grenzen zu erweitern. Mich stimmt diese Entwicklung hoffnungsfroh, möge meine Tochter (und ihre Generation) sich mehr ausdrücken können und neue, kreative und ehrliche Beziehungsformen finden.
Mehr Fragen – und Anregungen
Wie entwickelt sich Sexualität mit dem Älterwerden? Wird sie reifer und damit besser, oder verliert sich die Lust mit den Jahren? Lassen sich Beziehung und sexuelles Begehren getrennt voneinander gestalten? Gelingt ein erfülltes Liebesleben im Alter nur mit einem attraktiven Körper? Wie sehr begrenzen Ideologien oder eigene Vorstellungen die Entfaltung einer lustvollen Sexualität?
Diese und andere Fragen stellte ich Menschen, die bereit waren, Auskunft zu geben über ihre sexuelle Entwicklung, über Grenzen und Möglichkeiten, über Gewinn und Verlust im Prozess des Älterwerdens. Für die ermutigenden Antworten sowie die zum Teil erstaunlichen Lebensentwürfe bin ich sehr dankbar. Ich bin in meinen Überlegungen, welchen Stellenwert Sexualität im Leben von Menschen einnimmt, ein großes Stück weitergekommen.
Bei diesem Buch handelt es sich um keine wissenschaftliche Arbeit, sondern um die Erkenntnisreise einer Frau, die sich fragend und autodidaktisch einem großen Thema genähert hat. Die von mir verwendeten Begriffe habe ich im Anhang erläutert. Dort finden sich weiterführende Gedanken und Erkenntnisse, die ich im Laufe von vielen Jahren über Sexualität gewonnen habe und die als Anregung und zur Selbsterforschung genutzt werden können. Mir ist bewusst, dass vieles aus diesem großen Themenkomplex nur angerissen werden kann und einiges keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse sind. Dennoch wünsche ich mir, dass die eine oder andere Erkenntnis durchaus das Potenzial enthält, sich als Leserin oder Leser auf eigene Forschungsreise zu begeben.
Natürlich kenne ich mich mit der weiblichen Sozialisation und den Befindlichkeiten wesentlich besser aus als mit denen der Männer, auch wenn ich über meine männlichen Interviewpartner wertvolle Einblicke in die Themen des »anderen Geschlechts« gewinnen konnte. Falls Ihnen also eine Perspektive oder ein Aspekt fehlt, freue ich mich, wenn Sie mir Ihre Sicht der Dinge mitteilen: vdsteinen@web.de.
Noch eine Anmerkung zu der Auswahl der porträtierten Menschen: Ich habe mich bemüht, eine ausgewogene Mischung von sexuellen Identitäten und Formen des Begehrens abzubilden. Was fehlt, ist ein Porträt über ein Paar, hetero oder homo, die keine Sexualität mehr miteinander leben und damit zufrieden sind. Leider konnte ich keine GesprächspartnerInnen mit dieser Entwicklung finden und würde mich freuen, wenn sich ein Paar meldet, sodass ihre Geschichte in einem Fortsetzungsband erscheinen kann … Never stop talking about sex and aging!
Sibylle von den Steinen, Juli...