EINLEITUNG
Ich lese sehr gern die Lebensberichte der Heiligen … aber ich gestehe, es ist manchmal vorgekommen, dass ich das Los ihrer Angehörigen teilen wollte, die das Glück hatten, in ihrer Gesellschaft zu leben und heilige Gespräche mit ihnen zu führen.1 Für uns erfüllt sich heute dieser Wunsch, was Therese von Lisieux betrifft. Wir können alles lesen, was sie während ihrer letzten Krankheit gesagt hat, soweit es aufmerksame Zeuginnen Tag für Tag aufgeschrieben haben.
Ein guter Teil dieser Äußerungen wurde der Öffentlichkeit in Frankreich bereits in dem 1927 erschienenen kleinen Buch Novissima Verba vorgelegt, doch hatte man damals bei dieser Auswahl absichtlich ungefähr die Hälfte dieses Schatzes von der Veröffentlichung ausgeschlossen. Mutter Agnes von Jesus (Pauline Martin) war es zwei Jahre nach der Heiligsprechung ausschließlich darum gegangen, den Leser zu erbauen. Dagegen hielt sie es nicht für angebracht, die an sie persönlich gerichteten vertraulichen Äußerungen ihrer kleinen Schwester der Öffentlichkeit preiszugeben.
Da heute keine der Zeuginnen mehr am Leben ist, gelten andere Gesichtspunkte. Die nunmehr in Frankreich erschienene kritische Ausgabe der Derniers Entretiens2 (»Letzte Gespräche«) enthält sämtliche Aufzeichnungen von Mutter Agnes und ihren Schwestern. Damit liegt endlich ein Dokument vor, dem man den Wert eines Testaments zusprechen kann, weil es in keiner Weise überarbeitet worden ist. Die vorliegende deutsche Lizenzausgabe gibt diesen vollständigen Text wieder, der uns bereichert und uns ermöglicht, die heilige Therese besser kennenzulernen.
Warum aber hat man so viele Worte und Äußerungen einer jungen lungenkranken Karmelitin aufgezeichnet und aufbewahrt, die nichts anderes gewünscht hat, als unbekannt zu leben und in Vergessenheit zu sterben? Wer war diese Schwester Therese an der Schwelle zu ihrer letzten Krankheit?
Die letzten Gespräche
Zu Beginn des Jahres 1897 wird Schwester Therese vom Kinde Jesus 24 Jahre alt. Vor nicht ganz neun Jahren ist sie in den Karmel von Lisieux eingetreten, wo sie nun mit 23 Schwestern zusammenlebt. In wenigen Jahren hat sie den Lauf eines Riesen zurückgelegt, ohne dass ihre Gefährtinnen, von denen die meisten sie lieben und schätzen, etwas davon bemerkt haben. Nur ihre drei leiblichen Schwestern, die das Manuskript ihrer Kindheitserinnerungen (Manuskript A, Geschichte einer Seele) und den im Jahre 1896 an ihre Schwester Maria vom Heiligen Herzen gerichteten Brief (Manuskript B) gelesen haben, ahnen etwas von dem intensiven geistlichen Leben, das sie verzehrt. Hat sie sich nicht am 9. Juni 1895 der barmherzigen Liebe als Opfer geweiht? Hat sie nicht 1896 entdeckt, dass es ihre Berufung ist, im Herzen der Kirche Liebe zu sein?
Aber abgesehen von einer stets mit einem Lächeln begleiteten Nächstenliebe, von Selbstbeherrschung und einer Aufgeschlossenheit für andere, die jedem einzelnen Menschen gilt, scheint nichts von jenem inneren Feuer außen erkennbar zu sein, das auch Therese selbst oft verborgen bleibt, lebt sie doch gewöhnlich im Zustand geistlicher Trockenheit. Ja, seit Ostern 1896 ist »die dichteste Finsternis in ihre Seele eingedrungen«, und der »so beseligende Gedanke an den Himmel« ist für sie »nur noch Anlass zu Kampf und Qual«. Seit Langem ahnt sie, dass sie jung sterben wird.
Tatsächlich treten 1894 die ersten Zeichen einer Verschlechterung ihrer Gesundheit auf. Mehrmals ist sie wegen Bronchitis und Halsentzündungen in Behandlung. Erste Anfälle von Bluthusten am 3. und 4. April 1896 werden nur der Krankenpflegerin und der Priorin Mutter Maria von Gonzaga zur Kenntnis gebracht. Therese spielt die Bedeutung dieses Vorfalls nach Möglichkeit herunter, fühlt sich aber doch gleichzeitig in ihrer Vorahnung bestärkt.
Während der ersten Monate des Jahres 1897 geht es mit Thereses Gesundheit beständig bergab. Am Ende der Fastenzeit wird sie so schwer krank, dass sie trotz all ihrer Energie nach und nach allen Abläufen des Gemeinschaftslebens fernbleiben muss. Im Karmel erregt Thereses Zustand natürlich vor allem bei ihren leiblichen Schwestern Besorgnis. Mutter Maria von Gonzaga erlaubt, dass Mutter Agnes Therese während der Matutin betreut. Am Abend des 5. Juni nimmt das »Mütterchen« aus den Buissonnets ihre Funktion als Betreuerin der Kranken auf. Am 8. Juli bringt man Therese in das Krankenzimmer. Seither bleibt Mutter Agnes während des Chorgebets, während der Rekreationen und immer dann, wenn die Krankenpflegerinnen anderweitig beschäftigt sind, an ihrem Krankenbett. Die künftige »Historikerin« schreibt ihre Notizen zweifelsohne hastig auf lose Blätter, von denen nur eines erhalten ist, und überträgt diese Notizen später in ein Heft.
Während Mutter Agnes ihre Aufzeichnungen machte, konnte sie wohl nicht wissen, dass Therese eines Tages heiliggesprochen werden würde. Wohl aber ist sie sich bewusst, dass ihre Aufzeichnungen nützlich sein werden, einmal um die Erinnerung an all diese Worte voll Weisheit und Erfahrung für sie selbst und ihre Familie lebendig zu erhalten, zum anderen um den Nachruf zu ergänzen, den man nach dem Tod einer Schwester an alle anderen Karmelklöster aussendet. Was immer Mutter Agnes dazu bewogen haben mag: Fest steht, dass sie im Krankenzimmer eine Information von unvergleichlichem Wert gesammelt hat, eine wahre Fundgrube, aus der die erste Ausgabe der Geschichte einer Seele (1898 in Frankreich, 1900 in Deutschland) und die Aussagen bei den beiden Kanonisationsprozessen (1910 und 1915) gezehrt und die als Grundlage für die Novissima Verba3 (»Die letzten Worte der Therese Martin«) gedient haben.
Schwester Genoveva (Céline Martin), die als Krankenpflegerin Gelegenheit hatte, täglich mit Therese zusammen zu sein, hat ihrerseits einige Äußerungen ihrer Schwester aufgeschrieben. Die »liebe Patin«, Schwester Maria vom Heiligen Herzen, hat ihr kleines Patenkind nicht so oft besucht, aber auch ihr haben wir einige Erinnerungen zu verdanken. Thereses Cousine, Schwester Maria von der Eucharistie, hat uns in den »Krankheitsberichten«, die sie an ihre Eltern schrieb und die ihr als Tochter eines Apothekers alle Ehre machen, viele sehr wertvolle Äußerungen der Kranken überliefert.4 Aufgrund all dieser Dokumente sind wir in der Lage, den Verlauf der Krankheit fast Tag für Tag zu verfolgen.
Nur wenn wir diesen medizinischen Sachverhalt kennen, können wir den Wert der Worte, der Haltung und der Gesten Schwester Thereses voll ermessen. Gewiss, man wusste, dass sie viel gelitten hatte, aber ihre Leiden waren gleichsam in einen sanften Glorienschein gehüllt, der das Épinal-Bild (wenn die Franzosen von einer Idealvorstellung reden, sprechen sie von einem Épinal-Bild, Anm. d. V.) zu rechtfertigen scheint: Eine »junge Tuberkulosekranke« stirbt lächelnd, während sie über einem Kruzifix Rosen entblättert. Die Wirklichkeit war ganz anders. Schwester Therese vom Kinde Jesus hat einen richtigen Kreuzweg durchlitten.
Wir haben nun versucht, diese »Leidenszeit« Schritt für Schritt zu verfolgen.5 Der Leser sei besonders auf die Einleitungen zu den einzelnen Monaten verwiesen und auf die Chronologie der wichtigsten Stationen dieses Kreuzwegs. Seit dem 9. Juni weiß Therese, dass sie sterben wird. In den ersten Tagen des Monats Juli ist sie zwar noch nicht bettlägerig, aber am Ende ihrer Kräfte. Am 6. Juli beginnt die Periode des Bluthustens, die bis zum 5. August dauern wird. Am Abend des 8. Juli bringt man sie in das Krankenzimmer. In diesem kleinen im Erdgeschoss liegenden Zimmer wird sie die ihr noch verbleibenden drei Monate zubringen. Von ihrem eisernen Bett mit seinen hohen braunen Vorhängen, an die sie ihre Lieblingsbilder anstecken ließ, kann sie die Statue der Jungfrau des Lächelns sehen, die man mit ihr in diesen Raum gebracht hat. Der 56-jährige Hausarzt des Karmels, Dr. de Cornière, stattet ihr regelmäßig seine Visiten ab. Die wechselnden Phasen der Krankheit verunsichern ihn. In diesem so jungen Körper flackert das Leben immer wieder mit erstaunlicher Kraft auf.
Am 27. Juli setzen die großen Leiden ein, die am Vormittag des 30. einen Höhepunkt erreichen. Am Abend erteilt Kanonikus Maupas der Kranken die Letzte Ölung6. Über Phasen von »Schmerzen zum Schreien«, die mit Phasen scheinbarer Besserung abwechseln, verschlimmert sich die Krankheit fortschreitend bis zum Todeskampf und Tod am 30. September.
Das Testament eines Lebens
Im Juni 1897 hat Therese mit ihrer feinen Schrift ein kleines Heft vollgeschrieben. Es ist das Manuskript C der Geschichte einer Seele, ihr schriftliches – unvollendetes – Testament, das mit ihrem gelebten Testament, den Letzten Gesprächen, vollkommen übereinstimmt. Man muss die beiden zusammen lesen. In dieser Übereinstimmung liegt der Beweis für die Glaubwürdigkeit des Lebens der Karmelitin, die gesagt hat: Ich...