Einleitung
Dieses Buch wendet sich an Leser, die sich nicht länger vorschreiben lassen wollen, wie sie zu sterben haben. Es richtet sich an Menschen, die der ständigen Ermahnungen moralisierender Bedenkenträger überdrüssig sind, an Männer und Frauen, die, nachdem sie ihr Leben selbst in die Hand genommen haben, auch ihr Sterben selbst in die Hand nehmen wollen.
Ginge es nach dem Willen der Bevölkerung, wäre Sterbehilfe längst kein Tabuthema mehr: 87 Prozent der Deutschen meinen, dass der einzelne Mensch selbst bestimmen darf, wann und wie er sterben möchte. Immerhin 77 Prozent können sich vorstellen, persönlich Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie unter einer unheilbaren Krankheit, schwerer Invalidität oder nicht beherrschbaren Schmerzen leiden.[1]
In der Politik ist dieses klare Votum bislang nicht angekommen. Im Gegenteil: Führende Politiker planen, die Möglichkeiten der Sterbehilfe weiter einzuschränken, indem sie den ärztlich assistierten Suizid entweder ganz verbieten oder den Zugang zu dieser Hilfeleistung so erschweren, dass kaum ein Sterbewilliger noch einen Arzt finden wird, der ihm bei der Verwirklichung seines letzten Wunsches zur Seite steht.
Ich halte dies für zutiefst inhuman – und im Unterschied zu all den Politikern, die heute mit sorgenvoller Miene vor der vermeintlichen «Bagatellisierung des Suizids» warnen, weiß ich, wovon ich spreche: Denn ich habe in den letzten 20 Jahren als Arzt Hunderte von unheilbar kranken und schwer leidenden Patienten in ihrer letzten Stunde begleitet, habe den Medikamentenmix für sie zubereitet, war anwesend, als sie ihn zu sich nahmen und wenig später sanft entschliefen. Mit vielen dieser Patienten war ich zuvor über Monate, mitunter sogar über Jahre in Kontakt. Und so kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, was uns aus der Schweiz, aus den USA und den Benelux-Staaten immer wieder berichtet wird, nämlich dass Sterbehilfe vor allem Lebenshilfe ist!
Hunderte von Krebs gezeichnete oder unter schweren neurologischen Störungen leidende Menschen haben die letzten Monate oder Jahre ihres Lebens besser ertragen können, weil sie wussten, dass ich ihnen beim Sterben zur Seite stehen werde. Allein die Gewissheit, dass es jemanden gibt, der bereit ist, ihnen zu helfen, wenn ihr Leiden vollkommen unerträglich wird, hat sie gelassener und zuversichtlicher in die Zukunft schauen und noch einige wertvolle Monate oder Jahre leben lassen.
Dieses Buch ist ein Plädoyer dafür, dass Menschen nicht nur menschenwürdig leben, sondern auch menschenwürdig sterben können. Ich bin überzeugt: So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, das garantiert, dass unser Leben im Notfall gerettet wird, muss es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben, das dafür sorgt, dass wir unser Leben in Würde beschließen können. Die Umsetzung dieses Rechts auf Letzte Hilfe verlangt, wie ich zeigen werde, nicht nur eine hervorragende palliativmedizinische Versorgung, sondern auch die Option, mit Unterstützung eines Arztes eigenverantwortlich aus dem Leben zu scheiden, wenn das Leiden unerträglich wird.
Ich werde mich in diesem Buch vornehmlich auf den zweiten Aspekt der Letzten Hilfe, den ärztlich assistierten Suizid, konzentrieren. Dies hat nicht zuletzt auch politische Gründe, schließlich geht es in der gegenwärtigen Sterbehilfe-Debatte vorrangig um die Suizidbegleitung – nicht um die Palliativmedizin, die allmählich, wenn auch viel zu langsam, die gesellschaftliche Bedeutung zu erhalten scheint, die sie verdient.
Wie Sie sich sicher denken können, stehen dem Konzept der Letzten Hilfe, das ich in den nachfolgenden Kapiteln skizzieren werde, mächtige Interessengruppen entgegen: Vor allem konservative Politiker scheinen partout nicht hinnehmen zu wollen, dass schwerstkranke Menschen von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen und ihr Leiden mit ärztlicher Hilfe verkürzen. Besonders hartnäckig ist dabei der Widerstand jener, die das Recht auf Leben mit einer Pflicht zum Leben verwechseln.
Hinter dieser Verwechslung steht meist ein religiöses Weltbild, das besagt, «Gott» habe dem Menschen «das Leben gegeben» und nur er allein sei befugt, es wieder zu nehmen. Natürlich haben Politikerinnen und Politiker (wie alle anderen Menschen) das unbestreitbare Recht, für sich selbst auf der Basis solcher Glaubenssätze jede lebensverkürzende, ja sogar jede leidensvermeidende Maßnahme abzulehnen. Allerdings: Sie haben nicht das geringste Recht, ihre religiösen Privatüberzeugungen anderen Staatsbürgern aufzuzwingen! Immerhin leben wir in einem Land, in dem Staat und Kirche getrennt sind und der Gesetzgeber zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet ist.
In einem weltanschaulich neutralen Staat gibt es keine «Pflicht zum Leben». Das Recht auf Leben, das in unserem Grundgesetz verankert ist, ist ein Abwehrrecht, das Sie als Person vor Übergriffen des Staates wie auch Ihrer Mitmenschen schützt. Das Recht auf Leben meint also nichts anderes, als dass niemand Ihr Leben antasten darf – außer Sie tun es selbst. Denn Sie – und nur Sie – sind der absolute Souverän Ihres Lebens! Das bedeutet auch: Wenn Ihnen Ihr Leben (beispielsweise aufgrund einer unheilbaren Erkrankung) nicht mehr lebenswert erscheint, dann ist es Ihr Recht, dieses Leben zu beenden – und absolut niemand, kein Arzt, kein Jurist, kein Pflegedienst, kein Pharmakonzern, ist dazu befugt, sich Ihrem Sterbewunsch in den Weg zu stellen, sofern Sie Ihren Willen unmissverständlich, freiwillig und bei klarem Verstand äußern!
Das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende wurde in den letzten Jahren durch eine Reihe von Gerichtsverfahren deutlich gestärkt, doch davon haben viele Ärzte leider kaum etwas mitbekommen. Viele von ihnen wissen nicht einmal, dass die Beihilfe zur Selbsttötung in Deutschland (im Gegensatz zur «Tötung auf Verlangen» – die Unterschiede werde ich noch erläutern) legal ist. Dieses Unwissen ist zweifellos einer der Gründe dafür, warum Suizidbeihilfe hierzulande zwar häufig gesucht, aber nur selten praktiziert wird.
Hierzu hat auch die langjährige «Patientenwillen-Missachtungspolitik» der Bundesärztekammer beigetragen, die sich zur Untermauerung ihrer rückwärtsgewandten Positionen auf historische Relikte wie den sogenannten «Hippokratischen Eid» beruft (was es damit auf sich hat, werden wir noch sehen): In den 2011 veröffentlichten «Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung» heißt es ausdrücklich, dass «die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung keine ärztliche Aufgabe ist».[2] Ärzte, die ihren unheilbar kranken Patienten auf deren Bitte hin ein todbringendes Medikament zur Verfügung stellen, müssen daher standesrechtliche Sanktionen befürchten. Tatsächlich können die zuständigen Landesärztekammern einem widerständigen Mediziner mit einer beträchtlichen Geldstrafe (in meinem Fall waren es 50000 Euro!)[3] drohen, ja, sogar mit dem Entzug seiner Zulassung. Kein Wunder also, dass kaum ein Arzt es wagt, seinen todkranken Patienten Medikamente zu geben, mit denen sie ihrem Leiden ein Ende setzen können.
Die Folgen dieser standesrechtlich verordneten Missachtung des Patientenwillens sind verheerend: Viele Patienten plagen sich mit panischen Ängsten, weil sie befürchten, über Wochen, Monate oder gar Jahre hinweg unter menschenunwürdigen Umständen dahinvegetieren zu müssen, bis der Tod sie von ihrem Leiden erlöst. Dies ist nicht nur für die Betroffenen enorm belastend, sondern auch für ihre Angehörigen, die unter dem Druck der Situation Gefahr laufen, zusammenzubrechen.
Einige Sterbewillige, die es sich leisten können, finden einen Ausweg aus dieser Not, indem sie den Weg in die Schweiz auf sich nehmen, um dort mit Hilfe der Sterbehilfeorganisationen Dignitas oder lifecircle (EXIT bietet Sterbehilfe nur für Schweizer Bürger an) aus dem Leben zu scheiden. Andere finden tragischerweise keinen sanften Weg, ihrem Leid zu entrinnen: Aus Panik vor dem, was da noch auf sie zukommen mag, schneiden sie sich die Pulsadern auf, erhängen sich, erschießen sich, stürzen sich vom Dach eines Hochhauses oder werfen sich vor einen herannahenden Zug. Solche Formen des «lauten Suizids» sind in der Regel Ausdruck tiefster Verzweiflung, traumatisch für die Angehörigen wie auch für Fremde, die unerwartet mit entstellten Leichen konfrontiert werden und dieses Bild ein Leben lang mit sich herumtragen müssen.
Dabei hätte es zu diesen Verzweiflungstaten überhaupt nicht kommen müssen! Tatsächlich hätten viele dieser in ihrer Not schrecklich alleingelassenen Menschen nach der in Deutschland geltenden Gesetzeslage in ihrer Wohnung friedlich Abschied von ihren Liebsten nehmen können, wenn – ja wenn! – es genügend Ärzte gäbe, die den Mut aufbrächten, dem Patientenwillen zu folgen statt jahrhundertealten Vorurteilen gegen den Suizid.
Ich klage die verfasste deutsche Ärzteschaft in diesem Zusammenhang der fortgesetzten unterlassenen Hilfeleistung an. Es ist, wie ich finde, eine durch nichts zu rechtfertigende Schande, dass Ärzte ihre Patienten gerade dann im Stich lassen, wenn sie Hilfe am dringendsten benötigen! Ich sehe hierin eine Feigheit vor dem Patienten, die, wie ich in diesem Buch darlegen werde, mit dem ärztlichen Berufsethos nicht in Einklang zu bringen ist.
Für diesen Skandal sind die Ärzte natürlich nicht allein verantwortlich. Schließlich sind sie eingebunden in ein gesellschaftliches Umfeld, das den...