Kapitel 1
Was heißt lieben?
Die Liebe als erster Lebensgrund
Die Liebe ist der erste Lebensgrund. Der Mensch braucht Liebe. Das Wort hat viele Bedeutungen, doch hier und jetzt wollen wir darunter die affektive Beziehung zweier Menschen verstehen, die sich lieben und sich entschließen, ihr Leben miteinander zu teilen. Die Liebe ist die beste Antwort auf alle existentiellen Fragen. In diesem Sinne wollen wir nach Definitionen suchen, die uns besser verstehen lassen, was dieses Wort Liebe wirklich bedeutet.
Im Laufe der Geschichte ist aus den verschiedensten Blickwinkeln – vonseiten der Psychologie, der Philosophie, der Literatur und Dichtung – vieles über die Liebe gesagt worden. Sie ist ein entscheidender Antrieb, der den Menschen dazu bringen kann, sich rückhaltlos für etwas zu begeistern. Der Liebe gebührt ein besonderer Rang, denn sie ist eine universelle Erfahrung, welche die menschliche Existenz grundlegend prägt. Sie ist eine gehaltvolle und facettenreiche Aufgabe. Eine intakte Liebe ist heute eine schwierige Angelegenheit, denn die Gesellschaft ist auf diesem Gebiet weitgehend desorientiert; vor allem hat sie offenbar vergessen, dass man der Liebe Tagfür Tag die nötige Aufmerksamkeit schenken muss, weil sie sonst schwindet oder verdunstet. Dass Liebe etwas derart Schwieriges ist, liegt unter anderem daran, dass sie sich nicht mit nur einem Blick oder Pinselstrich erfassen und auch nicht nur über eine einzige Bedeutung definieren lässt. Es gilt, der Liebe ihre eigentliche Funktion erneut zuzuerkennen: Sie kann jedem Menschen Kraft und Richtung geben – vorausgesetzt, man räumt ihr den gebührenden Stellenwert ein.
Die Liebe ist das Bedürfnis, aus sich selbst heraus- und auf einen anderen Menschen zuzugehen, um den Rest des Lebens mit ihm zu verbringen. »Liebe« ist ein Wort mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen, weil sie aus so vielen verschiedenen Elementen besteht. Es ist ein ganzes Bedeutungsgefüge, das in ihr Gestalt annimmt und das wir in seinen Nuancen erfassen wollen. Deshalb werden wir auf Entdeckungsreise gehen und herausfinden, wie groß sie ist, wie tief, wie stark, wie schön – und wie anspruchsvoll. Wir werden sehen, dass man an ihr arbeiten muss wie an einer Aufgabe, die psychologisches Geschick erfordert. Es tut not, ihre Tiefe und ihr Geheimnis wiederzuentdecken. Alle wollen lieben und suchen nach einer Liebe, die dauerhaft, stark, fest und großherzig ist, die alle Dimensionen des Menschseins zu umfassen vermag.
Ein Merkmal ist der Liebe immer zu eigen: die Neigung sowie der Hang, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, den man für wertvoll, für gut und fähig hält, unserem Lebensentwurf – und damit uns selbst – einen Grund zu geben. Das zugehörige Wortfeld ist reich an Bedeutungen: Lieben, Gernhaben, Wertschätzen, Bevorzugen sowie Hinneigung, Begeisterung, Verzückung, Inbrunst, Bewunderung, Überschwang, Ehrerbietung ‒ und natürlich auch das magische Sich-Verlieben (dem das nächste Kapitel gewidmet ist): jene universelle Erfahrung, mit der jede Liebe beginnt, die diesen Namen verdient. Das magnetische Feld der Affektivität besteht aus einem Gewebe, in dem die verschiedenen Vorstellungen sich mischen, einander umkreisen, verschwinden und wieder erscheinen. Dies alles erzeugt ein engmaschiges Netz von Gefühlen, so dass jeder sein authentisches persönliches Liebesvokabular entwickelt. Dann gehen wir auf die Straße, mischen uns unter die Menschen und stellen fest, wie vielfältig die Lebensbedingungen und Standpunkte sind. Die Wirklichkeit ist wie ein dichter Wald, in dem wir uns zurechtfinden, uns ein klares Bild machen müssen und zu unterscheiden wissen, ob es um Sex oder um Liebe geht, ob wir jemanden bloß begehren oder gernhaben, ob wir uns zu einem Menschen hingezogen fühlen oder ob wir ihn einfach nur brauchen. Hier sind Ungenauigkeiten unvermeidlich, und diese Verwirrung führt dazu, dass so mancher die Orientierung und den Halt verliert.
Um ein reifes affektives Leben zu gewährleisten, braucht man Wissen und Bildung, das heißt, über die Liebe Bescheid zu wissen und eine Vorstellung davon zu haben, worum es bei einer so entscheidenden Sache geht … denn zu spät verstehen heißt gar nicht verstehen. Anders ausgedrückt: Wer die Wesensmerkmale der Liebe nicht kennt oder nicht richtig versteht, bekommt ein ernstes Problem, denn dieser Mangel an Kenntnis und Verständnis kann folgenschwer sein und sich in weitreichenden Konsequenzen und lebenslangem Leid äußern. Auf diesem trügerischen Untergrund sollte man die wichtigsten Landmarken kennen, damit man nicht irregeht oder auf Abwege gerät.
Ein Merkmal taucht in allen Beschreibungen der Liebe wieder auf: dass man sich nach der Gesellschaft des geliebten Menschen sehnt und das Beste für ihn will. Jemanden lieben heißt, ihm unter vielen anderen den Vorzug zu geben und ihn für geeignet zu halten, in unserem Leben an erster Stelle zu stehen. Jemanden lieben heißt, sich zu wünschen, mit diesem Menschen eins zu sein. Liebe und Einssein bedingen einander. Wir dürfen nicht vergessen, dass man nicht lieben kann, was man nicht kennt.
Lieben und Kennen gehören zusammen. Zuerst lernen zwei Menschen mehr und mehr einander kennen; sie erfahren das Wichtigste über den anderen, akzeptieren seine Vergangenheit, stellen fest, dass der andere ihm viel bedeutet, und entscheiden sich schließlich, nicht mehr und nicht weniger als die eigene Gefühlswelt mit ihm zu teilen. Danach kommt die Liebe, die sich in dieser Phase als Verliebtsein zeigt.
Der christliche englische Schriftsteller C. S. Lewis1 spricht von vier verschiedenen Arten der Liebe: Zuneigung, Freundschaft, Eros und Agape. Er schreibt: »Die menschliche Liebe verdient Liebe genannt zu werden, wenn sie der Liebe gleicht, die in Gott ist.« Außerdem zitiert er Thomas a Kempis mit dem Satz: »Das Höchste kann nicht bestehen ohne das Niedrigste«, womit zum Ausdruck gebracht wird, dass die höchste Liebe nicht ohne ihre alltäglichen Ausdrucksformen erreicht werden kann. Von der Freundschaft heißt es darüber hinaus: »Menschen mit echten Freunden sind weniger leicht zu beeinflussen«2. Bei Descartes sind es dagegen drei Elemente: liebende Zuwendung, also eine Beziehung zwischen zwei Personen, die zu einer größeren gegenseitigen Wertschätzung führt; Freundschaft, die in einer Liebe ohne Sexualität besteht und gekennzeichnet ist von Harmonie, Vertrauen und Vertrautheit; und drittens Verehrung, die den anderen überschätzt und über den eigenen Wert erhebt. Descartes definiert die Liebe als eine Gefühlsregung der Seele, sich auf Antrieb des Geistes willentlich Dingen oder Menschen zuzuwenden, die sie als angenehm empfindet.3
Die Liebe ist letztlich der erste Lebensgrund, das Wichtigste, das allem anderen Sinn gibt. Sie ist wie ein Fluss, der mit seinem Wasser alle Gegenden bewässert, durch die er strömt. Sie durchdringt jede Faser des menschlichen Seins und verleiht dem menschlichen Leben – wenn es ihr gelingt, es in seiner Tiefe zu erfassen – einen hohen Wert und eine enorme Kraft. Wir sprechen hier von der Liebe zweier Menschen, die von dem Wunsch beseelt sind, alles miteinander zu teilen und ein dauerhaftes gemeinsames Projekt durchzuführen. Die Liebe ist immer etwas Persönliches zwischen zwei Menschen, die einander bedürfen und Seite an Seite leben. Sie richtet uns aus und prägt unsere Lebensweise. Tiere leben geschützt in Herden und Familien; sie besitzen auf ihre Weise gewisse vernunftartige Instinkte. Computer können ›denken‹ und intelligente Operationen vollziehen. Doch nur vom Menschen lässt sich sagen, dass er im wahrsten Sinne des Wortes fähig ist zu lieben.
Die Liebe gibt dem Menschen seinen eigentlichen Sinn. Sein Verständnis von Liebe wird für ihn zu einer alles umfassenden Erfahrung, weil sie sowohl das Tiefste in ihm als auch das Alltäglichste und Banalste prägt. Nichts in diesem Leben ist so wichtig wie die Liebe. Doch sie ist kein Bonbon, um uns das Leben zu versüßen; denn authentische Liebe, die das eigene wie auch das Wohl des anderen sucht, kommt ohne Mühe nicht aus.
Die Wissenschaft von der Liebe, die Herzensbildung
Dieses Buch möchte die Bedeutung der Liebe im Leben des Menschen aufzeigen. Wir wollen betonen, dass die Liebe ein grundlegendes Gefühl ist; wir dürfen sie nicht auf einen Affekt reduzieren, denn sie besteht aus vielen Komponenten und muss, wenn sie richtig funktionieren soll, in all ihren Aspekten gepflegt werden. Viele Paarbeziehungen scheitern – das soll im vorliegenden Text deutlich werden –, weil die beiden Partner die reichen und vielfältigen Komponenten der Liebe nicht richtig verstanden haben. Wir wollen uns zunächst einen Überblick verschaffen; erst dann kann die praktische Anwendung erfolgen.
In unserer heutigen Welt muss alles sehr schnell gehen. Nur wenige halten inne, um über die...