Prolog
Verzinas
Seinen Vater, Hélie-Jean-Noel Faurichon de la Bardonnie, Offizier in der Leibgarde des Königs in Versailles, hatte Antoine als Kind nur hin und wieder erlebt, und mit 10 Jahren ganz verloren. Seine Mutter Marie Faurichon de la Bardonnie lebte im nahen Croze bei Milhac, auf dem Gut seines Vaters, mit seinem jüngeren Bruder und seinen zwei Schwestern. Doch sie ist ihm fremd geblieben, er hat sie nur hin und wieder besucht. Denn nach dem Tod ihres Mannes hatte die Mutter diesen aufgeweckten, etwas unbändigen Erstgeborenen ins Pensionat nach Périgueux oder nach Limoges schicken wollen.
Doch ihr Vater, Antoines Großvater, Antoine Guicard de Laforest, der als Witwer allein in Verzinas lebt, in dem kleinen Schloss mit den hohen Dächern, hatte darauf bestanden, den Jungen bei sich zu behalten und selbst zu erziehen. Er liebt diesen Enkel, liebt seine lebhafte Intelligenz, seine strahlende Begeisterungsfähigkeit, seinen Tatendrang, sein Interesse für alle Wunder der Natur. Vor allem aber geht ihm die Liebe und Verehrung nahe, die dieses Kind ihm entgegenbringt. Als traditionsbewusster Edelmann der alten Schule erzieht er seinen Enkel nach den Prinzipien seiner Vorfahren: Ritterliche Ehre, Nächstenliebe, Pflicht und Gehorsam gegenüber Gott und dem König. Sicherlich ist er streng mit ihm, wenn es sein muss, doch er straft ihn nur selten, er versucht ihm vielmehr Unrecht verständlich zu machen, appelliert an seinen Verstand und an seine Gefühle. Im übrigen lässt er ihm mehr Freiheit als es die meisten Jugendlichen seiner Zeit genießen. Schon mit 11 Jahren kann der Junge in Verzinas nach Lust und Laune tun und lassen, was er will. Er nützt er es nicht aus, aber er ist dankbar für sein herrlich freies, einfaches und gesundes Leben.
Im Tal von Croze, am großen Teich von Saint-Amand steht eine alte Mühle, in welcher der Müller das Getreide der umliegenden Höfe mahlt. Dort, in einiger Entfernung vom Mühlrad, sitzt Antoine im Sommer oft stundenlang ganz allein mit seiner Angel in der Sonne, denkt über alles nach, was ihn bewegt, und wartet geduldig bis ein Fisch anbeißt. Wird es ihm zu heiß, springt er ins Wasser. Schon ganz jung schwimmt er wie ein Fisch, was ihm später einmal das Leben retten wird. Oder er streift durch Wald und Flur, die rauschenden Bäche entlang. Er kennt alle Höhlen und Verstecke, die blumenbedeckten Lichtungen mitten mit Wald, die kleinen Wasserfälle, die über die Felswände hinunterstürzen. Er lebt in dieser unberührten Natur, beobachtet sie und liebt sie --die Pflanzen, die Tiere, das vielfarbige Gestein. Seine kindliche Phantasie ist wach und reich. In den hohlen Bäumen wohnen Zwerge, in den Tümpel schwimmen Nixen und Elfen tanzen nachts auf den Lichtungen. Diese geheimnisvollen Wesen sind seine Freunde. Er spielt mit ihnen.
Später, als er älter wird, lernt er in langen Gesprächen mit dem Großvater, während sie die viereinhalb Meilen1 von Verzinas nach Croze wandern, die Wirklichkeit der Natur kennen, die Namen aller Bäume und Sträucher, ihre Beschaffenheit, die Geheimnisse der Erde und des Gesteins, sowie die Heilkräuter, ihre Wirkung, und wann sie gesammelt werden müssen. Sein Großvater hält nicht viel von grauer Theorie, er will, dass sein Enkel das praktische Leben kennen lernt. So reift Antoine auf den Gütern der Familie im Kreislauf des ländlichen Lebens, im Wandel von Aussaat und Ernte, von Obst- und Gemüseanbau, Viehzucht, Forstwirtschaft, Vermarktung, Finanzen und Verwaltung des Besitzes. Im Herbst, zur Zeit der Weinlese, wohnt er einige Wochen lang auf dem Weingut „Du Tertre“, um sich die Feinheiten der Weinbereitung anzueignen. Eines Tages wird er ja den Besitz übernehmen.
Jeden Donnerstag kommt der Pfarrer von Vaunac, Abbé Rebière, nach Verzinas, um in der Schlosskapelle die Messe zu lesen. Anschliessend lehrt er Antoine und die Kinder des Gesindes den Katechismus. Nach alter Tradition bleibt der Abbé zum Mittagessen, und Antoine darf schweigend den Tischgesprächen zuhören. Was ihn dann aber besonders freut, ist die Fahrt in der Kutsche, wenn sein Großvater den geistlichen Herrn nach Vaunac zurückbegleitet.
Im Winter, wenn draußen die Natur ruht und wenn der Sturm an den Fensterläden rüttelt, wird im Schloss früh zu Abend gegessen. Danach sitzen Antoine und sein Großvater bis spät in die Nacht hinein vor dem lodernden Kaminfeuer, das gespenstische Schatten über die Wände reiten lässt. Während dieser nächtlichen Gespräche erfährt er den größten Teil seiner Bildung. Der alte Herr hat eine besondere Gabe auch weniger aufregende Themen anregend und lebendig werden zu lassen. Und wenn er am Schluss von seinen Vorfahren berichtet, hat der Enkel das Gefühl, dabei zu sein, bei den Kriegstaten, bei den Begegnungen bei Hof, bei den Hochzeiten und Bällen. Vor allem aber, verlangt er immer wieder, dass der alte Herr ihm noch einmal von der berühmten Begebenheit auf dem Schlachtfeld von Fontenoy erzählt, als der König Ludwig XV. seinem Vorfahren sein Schwert zum Geschenk macht, als Dank für seine Bravour und Tapferkeit. Oft geht Mitternacht darüber vorbei, aber im Winter ist ja weniger Arbeit. Da kommt es dann auf eine Geschichte mehr oder weniger auch nicht mehr an.
Das bunte Treiben auf den kleinen Märkten in den Dörfern ist für Antoine immer eine willkommene Abwechslung. Doch voller Ungeduld erwartet er jedes Jahr den großen Jahrmarkt zu Ehren von Saint-Mémoire in Perigueux. Zu diesem Anlass zieht die ganze Familie, seine Mutter, die Geschwister, der Großvater und er ins Stadthaus in der rue Eguillerie. Sobald das feierliche Hochamt in der Kathedrale Saint Front zu Ende gegangen ist, ergießt sich eine heitere Menschenmenge aus allen Gegenden des Perigord auf die Plätze und in die winkeligen Gassen der Stadt und verliert sich in dem bunten Treiben. Überall stellen Gaukler aller Art ihre Kunst zur Schau. Hoch über den Köpfen haben Seiltänzer ihr Seil von einem Giebel zum anderen gespannt und alle verrenken sich die Hälse, um mit leichtem Schauer die tastenden Schritte auf dem schwankenden Seil zu verfolgen. Darunter sind es hier Jongleure, die Bälle oder Kegel durch die Luft wirbeln, dort Puppenspieler, die auf kleinen Bühnen ihre buntbemalten Puppen die neuesten Moritaten vorführen lassen. Wieder woanders machen Musikanten Stimmung, mit glänzenden Trompeten und Posaunen, mit Geigen und dicken Pauken. Und auf dem großen Marktplatz bieten die Bauern ihre Käse und Würste, ihre Weine, ihr Obst und ihr Gemüse feil. Und auf einem Anger unter der Stadtmauer wird der Viehmarkt abgehalten. Pferde, Rinder, Schafe und Ziegen werden ausgeschrien, angepriesen, es wird gefeilscht und gestritten.
Doch am meisten liebt Antoine die für die Dauer des Marktes aufgestellten Werkstätten der Handwerker, und kann sich nicht satt sehen an ihrer Kunst, die sie vorführen vor all den Neugierigen, die sich zu ihnen hereindrängen. Da ist der Drechsler, der auf seiner Drehbank kunstvoll verzierte Schalen und Teller aus Holz herstellt, aber auch Treppenpfosten und Tischbeine. Ganz ähnlich verfährt der Steindreher, der rohe Kalksteinblöcke drehen lässt, um daraus schwere Kapitelle, Becken oder Sockel hervorzuzaubern. Etwas weiter entdeckt Antoine den Böttcher inmitten seiner Fässer, Bottiche und Zuber, und dahinter eine Weidenkorbflechterin. Kaum zwanzig Schritte weiter unter einer knorrigen Platane, dort, wo einige Pferde geduldig warten, bis sie beschlagen werden, befindet sich das Feuerwerk der Schmiede. Der Hufschmied lässt den großen Hammer dröhnen, das Eisen glüht und der Blasbalg lässt das Feuer sprühen. Und schließlich in einem stillen Winkel, findet Antoine ein paar Frauen am Spinnrad. Sie singen dazu. Hanf spinnen sie, was ihn nicht erstaunt, wird doch auf fast jedem Bauernhof etwas Hanf angebaut. Antoine nimmt all diese vielfältigen Eindrücke in sich auf, ordnet und verarbeitet sie, was oft Tage dauert. Und er lässt sich das, was er nicht verstanden hat, später von seinem Großvater erklären. Der Markt ist eine wichtige Schule.
Die Faurichon de La Bardonnie gehören, wie auch die Guichard de Laforest, zu ältesten Familien des Perigord. Diese Aufenthalte in Perigueux sind daher auch eine Zeit der Geselligkeit. Denn nur wenige Schritte von der rue Eguillerie entfernt, in der rue de Plantier, wohnen in fast jedem Haus Verwandte. Es sind die Fayolle, die Champagnac, die Langlade, die Eyliac, die Siorac, die Guionie und noch andere. Sie haben fast alle Kinder in Antoines Alter, sodass er sich um zu wenig Umgang keine Sorgen zu machen braucht. Trotz seiner häufigen Einsamkeit ist Antoine kein Eigenbrötler, im Gegenteil. Sie erwarten ihn jedes Mal ungeduldig, all die Cousins und vor allem all die Cousinen, begierig die Geschichten zu hören, die er immer zu erzählen weiß, und gespannt auf die Spiele, die er diesmal mit ihnen veranstalten wird.
Doch ist die Gegend um Perigueux nicht die Welt, sondern nur ein kleiner abgelegener Winkel im großen, mächtigen Königreich Frankreich. Daher beschließt die Familie, und diesmal auch der Großvater, so schwer es ihm fällt, dass Antoine, als er 16 Jahre alt geworden ist, die große Welt kennen lernen soll, um sich weiterzubilden. Wie schon sein Urgroßvater Hélie, sein Großvater Pierre und sein Vater Hélie-Jean-Noel, wird nun auch er nach Versailles geschickt, um als Kadett bei den „Gardes Rouges du Roi“, der königlichen Roten Garde einzutreten, und zwar im Regiment Clermont-Tonnerre. Im Gegensatz zur...