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E-Book

Liebespraxis

Eine Sexologin erzählt

AutorAnn-Marlene Henning
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644052116
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Alle scheinen alles über Sex zu wissen, und dennoch hat nicht jeder den Sex, der ihn glücklich macht. In unserer vermeintlich aufgeklärten Gesellschaft sind die wahren Tabus das Schweigen, die Unsicherheiten und die Wissenslücken in unseren privaten Beziehungen. Ann-Marlene Henning hat es mit ihren beiden Ratgebern, ihrer TV-Sendung, vor allem aber mit der Arbeit in ihrer Praxis geschafft, diese Tabus zu durchbrechen: explizit, ohne pornographisch zu sein; empathisch, ohne aufdringlich zu wirken; manchmal witzig, niemals peinlich. In ihrem Buch tauchen wir mit der Sexologin in ihre Arbeit ein, in die «typischen» sexuellen Probleme und Defizite unterschiedlicher Paare zwischen 20 und 100, deren Ursachen oft vielschichtig sind.

Ann-Marlene Henning wurde in Viborg geboren und studierte in Hamburg Neuropsychologie und in Dänemark Sexologie. Anschließend führte sie diese Ausbildung in der Schweiz mit dem Sexocorporel-Konzept und in Deutschland mit einem Master in Sexologie fort. Sie bietet heute als niedergelassene Psychotherapeutin in ihrer Praxis in Hamburg Paar- und Sexualtherapie an. Ihre Bücher und Fernsehdokumentationen über Aufklärung und Sexualität machten sie bundesweit bekannt.

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Leseprobe

«Schatz, darf ich es Frau Henning sagen?»


Pünktlich um neunzehn Uhr klingelten sie an der Eingangstür meiner Praxis: Andrea und Holger. Seltsamerweise hatte ich mir Andrea blond vorgestellt, doch ihr Haar hatte einen kastanienbraunen Farbton und legte sich in sanften Wellen um ihren Kopf. Ihr Gesicht war blass, das frische Rot auf den Wangen aufgepudert. Sie war schmal und mittelgroß. Holger war mit seinen blonden, kurzen Haaren auch nicht gerade der kernige Typ. Er war zwar weniger bleich als seine Frau, aber eindeutig spielte er mit seinen Kindern nicht so häufig im Freien, wie es manch andere Väter tun. Ich tippte auf IT-Branche. Im Alter hatte ich mich bei Andrea leicht verschätzt, sie war, den Falten nach zu urteilen, Ende dreißig, älter also, als sie am Telefon gewirkt hatte. Holger schätzte ich auf Mitte vierzig.

Ich bat die beiden einzutreten, was sie vorsichtig taten. Ein kurzer, schneller Blick durch den großen Raum, der sich vor ihnen öffnete. Die meisten Klienten bleiben erst einmal stehen, schauen sich um und drehen sich dabei auf der Stelle – gleichsam ein Sinnbild ihrer Situation. So auch bei Holger und Andrea. Ich las Erstaunen in ihren Gesichtern. Ein rotes Samtsofa und gemusterte Kissen hatten sie wohl nicht erwartet. Das große Bild dreier Frauen in einer sanften, sehr erotischen Bondage-Szene auch nicht. Im Raum verteilt hingen darüber hinaus Plakate zum Thema Beckenboden oder Gehirn, dazu gab es eine Wand voll mit Büchern – meine Bibliothek. Daneben der große Spiegel für die Körperübungen.

«Die rote Wand ist toll!», sagte Holger und zeigte Richtung Sofa, das vor einer weinroten Wand steht. Alle anderen sind in schlichtem Beige gestrichen.

«Wohnen Sie hier auch?», fragte Andrea.

Diese Frage überrascht mich jedes Mal. Zwar sieht es gemütlich und persönlich aus in meiner Praxis, aber es liegt ansonsten nichts Privates herum. Insgesamt wirkt es aufgeräumt und übersichtlich, aber anscheinend nicht wie in einer herkömmlichen Praxis.

«Ich möchte eine warme Atmosphäre, damit wir uns wohl fühlen», erklärte ich. «Schließlich besprechen wir ja hier nicht Ihre nächste Einkaufsliste!» Obwohl – genau das tun wir manchmal, wenn es etwa um Gleitgel oder Kondome geht, da wird schon mal das eine oder andere mitgeschrieben.

«Nehmen Sie Platz», bat ich. Die zwei identischen lilafarbenen Sessel luden Holger und Andrea förmlich dazu ein, sich zu setzen. Das Paar blieb aber vor mir stehen, beide sahen mich fragend an, ganz synchron, registrierte ich. Ich begann zu überlegen, ob ich wohl ein symbiotisches Paar vor mir hatte.

«Sie können sich hinsetzen, wo Sie wollen», fügte ich hinzu.

Dennoch fragte Holger: «Wo ist denn Ihr Lieblingsplatz, Frau Henning?»

Ich lächelte. Das fragen mich viele. «Alle Plätze sind für mich in Ordnung», sagte ich.

Nun musste dieses etwas unentschlossene Paar eine Entscheidung treffen. Wie ich es erwartet hatte, fragte Holger, zuvorkommend wie der perfekte Kavalier, nun Andrea: «Liebling, wo möchtest du denn sitzen?»

Andrea antwortete sofort: «Und du, Schatz?» Nachdem sie mich kurz angeschaut hatte, fügte sie strahlend hinzu: «Lass uns das Sofa nehmen, das findest du doch am besten, oder?»

Ich schmunzelte, Andrea hatte längst gespürt, wo ihr Partner gerne sitzen würde – ganz ohne Worte.

«Natürlich.» Holger strahlte zurück. Mir wurde schon ganz heiß von all dem Strahlen.

Nicht selten sagt die Platzwahl eines Paares bei der Erstsitzung bereits einiges aus. Sie gibt mir Gelegenheit, erste vorsichtige Vermutungen anzustellen: Harmonieren die beiden, setzen sie sich nah zueinander? Oder streben sie weit auseinander? Lässt sich der Mann etwa sofort aufs Sofa oder in einen der Sessel fallen, ohne zuvor Augenkontakt zu seiner Partnerin aufzunehmen – verzieht sie dann ihr Gesicht? Hätte sie es gern mehr gentlemanlike gehabt, so wie sie es aus den alten Hollywoodfilmen mit Rock Hudson oder Robert Redford kennt? Dann hätte ihr Partner sich erst setzen sollen, wenn sie sich selbst für eine Sitzgelegenheit entschieden hat. (Und wenn sie später zur Toilette geht, soll er sich bitte bei ihrer Rückkehr höflich erheben. Hat er aber nicht. Und jetzt?) Vielleicht findet sie es aber auch genau richtig, wenn er auf sie keine Rücksicht nimmt. Soll er doch, sie ist eh wütend auf ihn.

Oder: Beide stehen ratlos da, zögern, gelangen zu keiner Entscheidung, warten auf Anweisungen, weil sie partout nichts falsch machen möchten. War das im Bett bei den beiden auch so? Ich tippte auf ja. Wenn jeder fürchtet, der andere könnte etwas nicht mögen, traut sich keiner, etwas Neues zu versuchen – man würde sich womöglich aufs Glatteis begeben. Und das tun manche eben schon, wenn sie den Platz auswählen sollen, der ihnen am besten gefällt. Andere überspielen ihre Überforderung mit Flapsigkeit: «Na, dann setze ich mich eben hin, ist ja eigentlich egal, wo.»

All das sind nur Eindrücke, die ich später verifizieren muss. Dennoch können gerade sie oft wichtige Hinweise über das Sex- und Liebesleben eines Paares liefern!

 

Holger und Andrea wirkten weder sehr entschlossen noch überaus unentschlossen. Sie schienen auf eine spezielle Art emotional voneinander abhängig zu sein, und ich würde aufpassen müssen, dass ich diese Abhängigkeit durch mein Vorgehen nicht bestärkte. Ich wollte die beiden als eigenständige Personen betrachten. Nur so würde es mir möglich sein, ihnen bestimmte Vorgänge aufzuzeigen, die ihnen selbst vielleicht nicht bewusst waren.

Andrea hatte für beide die Entscheidung getroffen, auf der Couch Platz zu nehmen. Nachdem sie sich gesetzt hatten, konnte ich beobachten, wie Holger seine Hand in die von Andrea legte. Eine Geste der Beruhigung, die Andrea beantwortete, indem sie seine Hand kurz drückte.

Man hätte denken können: Ein liebendes Paar, das füreinander da ist. Man konnte aber auch denken: Das ist ein Paar, das sich aneinander festhalten muss. Das eine muss das andere nicht ausschließen. Wichtig war jedoch, dass Holger und Andrea in einen Modus kamen, in dem sie ihre Entscheidungen unabhängig von ihrem Partner trafen, ohne Angst davor, den anderen zu enttäuschen.

Die beiden machten sich gerade darüber Gedanken, wer von ihnen wohl zuerst etwas sagen müsste. Hinter ihren Stirnen arbeitete es, bei Holger konnte ich sogar kleine Schweißperlen entdecken. Andrea knetete jetzt seine Hand.

«Schön, dass Sie da sind», sagte ich. «Sie empfinden dies sicherlich als eine ungewöhnliche Situation. Ich bin ja eine Fremde für Sie …»

Holger und Andrea nickten dankbar.

«Also, was möchten Sie loswerden?»

Holger drehte sich zu seiner Frau. «Willst du anfangen?», fragte er, formvollendet und zuvorkommend.

«Nein», erwiderte Andrea, die plötzlich leiser wurde. «Beginn du lieber.»

Würden Sie sich trauen, in meiner Gegenwart offen und ehrlich zu reden? Würden Sie in der Lage sein, etwas zu sagen, was den anderen womöglich verletzte? Ohne ihn durch körperliche Berührungen zu bestätigen? Symbiotische Paare haben nämlich ein großes Problem: Demonstriert einer der beiden Unabhängigkeit, zum Beispiel indem er eine Meinung vertritt, die der andere womöglich nicht teilt, wird dieser unsicher. Ihn beschleicht das mulmige Gefühl, dass sein Partner die gemeinsame Nähe verlassen, aus der Beziehung ausscheren könnte. Angst und Besorgnis spielen hier eine große Rolle. Auf das Gefühl der Angst werde ich noch häufiger zurückkommen, sie ist entscheidend in unserem Liebes- und Sexleben. So viel vorab: Finden Sie jemanden sexy, der andauernd Angst hat, Sie könnten ihn verlassen?

 

Je länger ich die beiden beobachtete, desto klarer wurde mein Gefühl, dass mir auf dem Sofa ein symbiotisches Paar gegenübersaß. Doch das behielt ich erst mal für mich. Mein Konzept ist es, immer zwei Schritte hinter den Klienten zu sein, sie sollen mir sagen, wo der Schuh drückt. Auf diese Weise bin ich mit ihnen auf Augenhöhe.

«Wir haben fast keinen Sex mehr», sagte Holger schließlich wie mechanisch, und Andrea nickte dazu. Holger war aber anzumerken, dass er noch etwas hinzufügen wollte – deswegen schwieg ich. Er sprach dann auch tatsächlich weiter, wobei er sehr vorsichtig in seiner Ausdrucksweise war: «Wir haben beide keine Lust.»

«Und was heißt bei Ihnen: Wir haben fast keinen Sex mehr?», fragte ich nach.

«Wir schlafen höchsten ein-, zweimal im Jahr miteinander.»

«Wie lange geht das schon so?»

Holger blickte zu Andrea: «Nachdem die Kinder auf der Welt waren, oder? Was würdest du sagen?»

Andrea nickte abermals: «Ja, nachdem Stella geboren wurde. Von da an wurde es immer weniger.»

«Wie alt ist Stella?», fragte ich.

«Im Sommer wird sie acht.» Auf ihren Gesichtern breitete sich Überraschung aus, als würden sie es selbst kaum glauben wollen.

«Eine lange Zeit», kommentierte ich ihre Mienen. «Das ist aber nichts Ungewöhnliches», beruhigte ich sie. «Das passiert bei längeren Partnerschaften.»

Zu Beginn einer Partnerschaft, wenn man verliebt ist, schüttet das Gehirn massenweise Sexual- und Glückshormone wie zum Beispiel Dopamin aus. Wir werden süchtig danach, fast wie bei einer Droge. Der Stoff, den wir unbedingt wollen, das ist der andere Körper, von ihm können wir gar nicht genug bekommen. Nur ist das kein Dauerzustand. Man könnte sagen: leider. Doch Sex nonstop ist auch nur bedingt entspannend. Ein Vergleich: Wer isst schon gerne jeden Tag Schnitzel, selbst wenn es das Lieblingsgericht ist?

«Aber wieso?», fragte...

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