Einleitung
Drei mal drei – Die vielen Karrieren der Lilli Palmer
Tief unten im Tal glitzert der Zürichsee in der Sonne, am Horizont zeichnen sich majestätisch die schneebedeckten Glarner Alpen ab. An besonders klaren Tagen kann man die imposanten Bergspitzen des Mönchs und der Jungfrau sehen. Die Welt scheint unendlich von hier oben. Ein Gefühl der Freiheit überkommt einen und die Erkenntnis, wie klein und verletzbar der Mensch ist. Die Berge sind so gewaltig, die Natur so ursprünglich. Das alles, der Gedanke drängt sich hier auf, kann auch ganz gut ohne den Menschen existieren.
Als ich im Frühling 2013 das erste Mal nach Goldingen komme, an den Ort, an dem Lilli Palmer nach Stationen in Berlin, Paris, London, Hollywood und New York über 25 Jahre bis zu ihrem Tod gelebt hat, bin ich überwältigt von dem Panorama, das sich mir bietet. Wälder und Wiesen, umrahmt von steilen Bergspitzen. Anfang der sechziger Jahre zog Lilli Palmer mit ihrem zweiten Ehemann Carlos Thompson in den Kanton St. Gallen und verliebte sich auf Anhieb in dieses Stück Land oberhalb des beschaulichen Örtchens Goldingen. Zunächst lebten die Thompsons in einem wunderschönen alten Bauernhaus aus Holz, das seit Jahrhunderten auf dem Grundstück steht und an dessen niedrigen Deckenbalken sich der großgewachsene Argentinier Carlos immer wieder den Kopf stieß.
Als ihre Villa, La Loma genannt, samt Turnplatz und Pool auf dem Bergplateau fertiggestellt war, zogen sie um. Das riesige Haus sah aus, als gehöre es eher ins sonnige Kalifornien als auf einen Berggipfel in St. Gallen. Hier lebte das Paar, hier malte und schrieb Lilli Palmer, hier bereitete sie sich auf ihre Rollen vor. La Loma gibt es nicht mehr, der neue Besitzer des Grundstücks hat sich ein Domizil nach seinen Wünschen an die Stelle bauen lassen. Heute ist Goldingen Einzugsgebiet der stetig wachsenden Stadt Zürich, gut angebunden durch die Bahn und verschiedene Buslinien. Aber in den 1960er Jahren, als das Ehepaar Palmer/Thompson hierherkam, war Goldingen ein kleines, abgeschiedenes und eher ärmliches Bauerndorf.
Die Malerin und Schriftstellerin fand hier Ruhe und Inspiration. Zürich war nicht sehr weit, und auch den Flughafen Kloten erreichte man von Goldingen aus bereits in den sechziger und siebziger Jahren innerhalb etwa einer Stunde. Der Ort war also schon damals nicht aus der Welt, und doch muss das Leben auf La Loma von einer gewissen Einsamkeit geprägt gewesen sein. Mit den Bewohnern von Goldingen hatten Lilli und Carlos nicht viel zu tun. Man grüßte sich, wenn man sich auf der Post oder im örtlichen Laden traf, aber dabei blieb es. Auf La Loma hatte das Paar lediglich Gesellschaft von der Haushälterin Anni, dem Gärtner Antonio und ihren Boxerhunden. Eine Familie aus der Gegend, die Burkarts, lebte mit ihren Kindern auf dem Bauernhof, genannt Giebelhof, der zu Palmers riesigem Grundstück gehörte. Sie bewirtschafteten auch die dazugehörigen Äcker und hielten Milchkühe, die auf den Wiesen ringsum grasten. Die Burkarts waren Lillis und Carlos’ einzige Nachbarn. Das Paar verbrachte also Tage und Wochen in exklusiver Zweisamkeit.
In Interviews betonte Palmer immer wieder, wie sehr sie die Stille, die Abgeschiedenheit am Zürichsee genieße, dass ihr dort nichts fehle. Tatsächlich hegte die Schauspielerin offenbar eine gewisse Vorliebe für Häuser auf einsamen Gipfeln. Auch das Ferienhaus in Portofino, das sie und ihr erster Mann Rex Harrison Ende der 1940er Jahre an der ligurischen Küste hatten bauen lassen, lag hoch über dem Hafen des kleinen Örtchens und war nur über Trampelpfade erreichbar. Dennoch scheint der Schritt, sich als international gefeierte Schauspielerin mitten in den Bergen von St. Gallen niederzulassen, extrem. Was führte Lilli Palmer nach all den Jahren, die sie in den Hauptstädten der Welt verbracht hatte, nach ihren Erfolgen auf den Bühnen des Broadway und des Londoner West End in die wunderschöne, doch menschenleere Schweizer Bergwelt?
Lilli Palmer, die länger in Goldingen lebte als irgendwo sonst, hatte viele Talente und bestritt im Laufe ihres Lebens mannigfache Karrieren. Im Jahr 1932 wurde sie als junge Schauspielerin am Hessischen Landestheater in Darmstadt engagiert. Doch die zarten Anfänge ihrer deutschen Karriere wurden jäh unterbrochen, als Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde und ihre Heimat innerhalb nur weniger Monate in eine nationalsozialistische Diktatur verwandelte, deren diskriminierende Politik gegenüber den deutschen Juden es Palmer unmöglich machte, an eine Zukunft in diesem Land zu glauben. In Paris gelang es der jungen Künstlerin nicht, Fuß zu fassen, dafür schaffte sie es in England. Sie baute sich in den 1930er Jahren eine Karriere als Film- und Theaterschauspielerin auf, die durch die Heirat mit Rex Harrison, der zu diesem Zeitpunkt schon ein Bühnenstar war, noch einen gehörigen Schub bekam. Rex war auch der Grund für die Übersiedlung nach Hollywood im Herbst 1945. Hier begann Palmer noch einmal von neuem, diesmal unter weit günstigeren Bedingungen. Ihre amerikanische Karriere in der Traumfabrik startete verheißungsvoll. Noch erfolgreicher war Palmer wenig später an den Theatern des New Yorker Broadway. In den 1950er Jahren knüpfte sie wieder an ihre allererste Karriere in Deutschland an und wurde innerhalb kürzester Zeit ein Star in der noch jungen Bundesrepublik.
Drei Schauspielkarrieren in drei Ländern. Dreimal zurück auf Anfang. Dreimal von neuem durchstarten. Das allein ist bemerkenswert und doch längst nicht alles, was Lilli Palmers Talente hergaben. An zwei weiteren – dem Schreiben und dem Malen – arbeitete Palmer hart. In der zweiten Hälfte ihres Lebens machte sie aus ihnen richtiggehende Karrieren. Ihre Bilder wurden in Galerien in London, Köln und Zürich gezeigt und für stattliche Summen verkauft. Palmers Bücher waren internationale Bestseller. In einem Interview sagte sie einmal, dass sie mit ihrer Autobiographie und ihren Büchern mehr Geld verdient habe als mit all ihren Filmen zusammen.
In ihrer Autobiographie Dicke Lilli – gutes Kind vergleicht sich Lilli Palmer mit dem biblischen Jakob. Wie der Patriarch, der eine Nacht lang mit dem Engel des Herrn ringt, diesen nicht gehen lässt und ausruft: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!«, so beharrlich ringe sie selbst mit ihren Talenten und ihrer Arbeit. An dieser Stelle bezieht Palmer die Aussage auf die Malerei, aber sie gilt wohl für ihr gesamtes Schaffen, ja eigentlich für ihr ganzes Leben. Lilli Palmer war ein überaus disziplinierter, hartnäckiger Mensch. Nur so lässt sich erklären, dass es ihr in drei Ländern gelang, eine beachtliche Karriere als Schauspielerin zu machen, und dass sie unerschütterlich daran arbeitete, ihr Interesse und ihre Begabung für Kunst und Schriftstellerei zu einer zweiten und dritten Profession auszubauen.
Ehrgeiz und Hartnäckigkeit scheinen tatsächlich Hauptcharakterzüge Lilli Palmers gewesen zu sein. Sie setzte sich gegen ihren Vater durch und nahm Schauspielunterricht, schaffte es während des Krieges als unbekannte Emigrantin ohne Kontakte vor englische Kameras, feierte Erfolge in Hollywood und am Times Square, bis sie 1954 als Star nach Deutschland zurückkehrte. Die gleiche Beharrlichkeit findet man in Palmers Privatleben wieder. Trotz aller Affären, trotz der enormen Unterschiede in Temperament und Charakter hielt sie an der Ehe mit Rex Harrison fest, bis es gar nicht mehr ging. Auch zu ihrem zweiten Mann Carlos Thompson stand sie, obwohl auch diese Ehe ihr viel Leid bescherte.
Palmers Vater sagte ihr, als er die 18-Jährige im Herbst 1933 in Berlin in den Zug nach Paris setzte, Lilli müsse sich in der Emigration ein Korsett aus Stahl zulegen. Blickt man auf ihr Leben, so scheint es zuweilen, dass sie sich auch später nur selten erlaubt hat, dieses Stahlkorsett abzulegen. Haltung bewahren, diese Devise trug sie durch viele Krisen.
Lilli Palmers Leben, so reich es auch mit Erfolg gesegnet war, ist ein erkämpftes. Sie selbst bezeichnete sich als »preußische Ameise«. Viele Dinge, die sie anpackte, gelangen, aber diese Tatsache sollte nicht zu der Einschätzung verleiten, dass ihr alles zufiel. Was Lilli Palmer auch erreichte, war hart erarbeitet. Sie war in vielem die Tochter ihres Vaters, des fleißigen, unermüdlichen Chirurgen. Aber auch das Erbe der Mutter, die vor ihrer Heirat Schauspielerin gewesen war, ließ sich nicht leugnen. Palmer stand zeit ihres Lebens im Spannungsfeld zwischen Bürgerlichkeit und Bohème, zwischen Rationalität und Phantasie, zwischen Wissenschaft und Kunst. Sie war die temperamentvolle, leidenschaftliche Mimin, die begeisterte Malerin, die über ihren Bildern alles andere vergessen konnte, und gleichzeitig die disziplinierte Autorin, die jeden Tag vor der Schreibmaschine ihr Pensum absolvierte und frühmorgens bürokratische Angelegenheiten regelte, weil sie der Meinung war, dass die lästigsten Dinge möglichst vor allem anderen zu erledigen seien.
Jede Art von Geschichtsschreibung, auch die Gattung der Biographie, ist bis zu einem gewissen Grad ein Konstrukt, auch wenn man selbstverständlich versucht, seinem »Untersuchungsobjekt« oder Thema so objektiv wie möglich zu begegnen und möglichst viele unterschiedliche Quellen und Standpunkte einfließen zu lassen. Leopold von Rankes Ziel, mit Geschichte das zu beschreiben, »was wirklich war«, lässt sich kaum umsetzen, denn auch Historiker sind Menschen mit Vorlieben und Interessen, die einen bestimmten Blickwinkel auswählen, spezielle Schwerpunkte setzen. Eine Biographie, die ausschließlich das abbildet, was im Ranke’schen Sinne »war«, kann es nicht geben. Mich...