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Links oder rechts?

Antworten auf die Fragen der Deutschen

AutorJakob Augstein, Nikolaus Blome
VerlagPenguin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641200473
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Jakob Augstein gegen Nikolaus Blome, links gegen liberal-konservativ, visionär versus vernünftig: In diesem Buch liefern sich die beiden wortgewandten Journalisten mehr als drei Dutzend Streitgespräche zu den großen Themen, die Deutschland bewegen. Ein spritziger, provokanter Schlagabtausch von Merkels Macht und der Flüchtlingswelle in Deutschland über die Euro-Krise bis zur Homo-Ehe, dem richtigen Frauenbild und dem neuen Rechtspopulismus. Für alle, die mitreden und mitstreiten wollen.

Jakob Augstein, geboren 1967, ist Journalist, Buchautor und Verleger. Nach dem Studium der Politikwissenschaft sowie Germanistik und Theaterwissenschaft war er u.a. für die Süddeutsche Zeitung und die ZEIT tätig. Augstein ist Verleger der Wochenzeitung der Freitag; für sein publizistisches Engagement wurde er 2011 mit dem Bert-Donnepp-Preis ausgezeichnet. Von 2011 an schrieb er acht Jahre lang die regelmäßige Kolumne »Im Zweifel links« für den SPIEGEL und S.P.O.N. Zusammen mit Nikolaus Blome verfasste Jakob Augstein »Links oder rechts? Antworten auf die Fragen der Deutschen« (2016) und »Oben und unten. Abstieg, Armut, Ausländer - was Deutschland spaltet« (2019).

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Leseprobe

Ist Angela Merkel eine gute Kanzlerin?

 B  Angela Merkel hat Deutschland gerettet ... Jetzt kommen Sie.

 A  War Deutschland denn in Gefahr?

 B  Haben Sie die letzten Jahre auf Ihrer Yacht bei den Inseln hinter dem Winde verbracht? Seit 2008 ist Krise. Erst gingen die US-Banken und die europäische Finanzwirtschaft in die Knie, dann brach die deutsche Volkswirtschaft so schwer ein wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Dann wäre der Euro fast auseinandergefallen, die Russen haben mitten in Europa Staatsgrenzen verschoben und den Kalten Krieg wieder angefangen. Schließlich kam 2015 die große Flüchtlingswelle nach Europa, mehr als eine Million Menschen kamen nach Deutschland. Ich würde sagen: Ja, Deutschland war in Gefahr und ist es noch.

 A  Interessant. Und Angela Merkel hat diese ganzen Probleme nicht nur gelöst – sondern auch noch alleine gelöst. Im Ernst: Ist es nicht geradezu die Aufgabe des Kanzlers, das Land zu retten, und zwar jeden Tag? Aber lassen Sie uns doch Merkels Kanzlerschaft mal zum Anlass für die Frage nehmen, welchen Einfluss der – oder die – Einzelne in der Politik heute hat. Was wäre anders gewesen, wenn nicht Merkel Kanzlerin gewesen wäre?

 B  Das ist kontrafaktisch. Anstatt zu überlegen, was gewesen wäre, wenn etwas nicht gewesen wäre, lassen Sie uns doch das anschauen, was ist.

 A  Sage, was ist – gerne. Europa ist heute in deutlich schlechterem Zustand als zu Beginn von Merkels Amtszeit. Der Euro kriselt seit Jahren. England hat für den Brexit gestimmt. Die Franzosen und Holländer sind unruhig. Österreich schrammt an der Rechtsregierung entlang. Das ist die Lage nach vielen Jahren Merkel. Sie hinterlässt einen europäischen Scherbenhaufen. Denn das größte Land trägt auch die größte Verantwortung! Nebenbei haben wir aber auch das größte Interesse an einer funktionierenden Europäischen Union. Deutschland ist zu klein, um den Kontinent alleine zu dominieren, und zu groß, um hinter irgendeiner Eiche in Deckung zu gehen. Für uns ist die europäische Frage in einer Art und Weise existenziell wie sie es für unsere Nachbarn nicht ist. Wenn man das voraussetzt, dann hat Merkel Deutschland nicht nur nicht gerettet – sondern beschädigt.

Kohl und Merkel sind sich viel ähnlicher, als man meint.

 B  Das ist schon wieder kontrafaktisch. In der Eurokrise hat Deutschland Europa zusammengehalten. Es gab heftigen europäisch-innenpolitischen Streit um den richtigen Weg, aber ohne die deutsche Wirtschaftskraft und die deutsche Bonität an den internationalen Finanzmärkten hätten die Schuldenländer nicht gerettet werden können. Man kann die Wirtschafts- und Finanzpolitik für falsch halten – ich finde sie richtig –, aber man kann nicht bestreiten, dass Deutschland unter Angela Merkel Verantwortung gezeigt hat. Das hätte Helmut Kohl nicht anders gemacht. Die beiden sind sich viel ähnlicher, als man meint.

 A  Kohl war ein Kanzler mit klaren Überzeugungen. Merkels Überzeugungen musste man jahrelang mit der Lupe suchen. Ich bin nicht sicher, ob wir inzwischen fündig wurden. Wofür steht denn diese Kanzlerin? Was kümmert sie, was bekümmert sie? Sie war von Anfang an die große Unbekannte. Es gab vielleicht nur einen Moment in dieser Kanzlerschaft, in dem sie sich ins Herz hat blicken lassen ... und das war die Rede, mit der sie sich im amerikanischen Kongress für die Freiheitsmedaille bedankt hat. Da war sie echt gerührt.

 B  Bei der Washingtoner Rede war ich dabei. Es war eine hoch politische und zugleich ganz verträumte Rede über Wert und Wunder der Freiheit. Über ihr eigenes Leben, über das »Alles ist möglich«. Ich habe mich gefragt: Ist das eine Rede, die man nur hier, in Amerika, halten kann? Oder ist sie eine Person, die nur in Amerika so reden kann? Ich glaube, Letzteres.

 A  Amerika, Freiheit – da wird die Kanzlerin plötzlich ziemlich ostdeutsch. Sie gehört zu jenen Ostdeutschen, für die das Ende der DDR gleichbedeutend mit Freiheit ist. Darum fehlen Merkel und auch Joachim Gauck jedes Verständnis für moderne Formen von Unfreiheit. Datenschutz, Spionage der Amerikaner, das Schicksal von Edward Snowden oder Julian Assange – das ist diesen Politikern alles herzlich gleichgültig, weil es nicht in ihr Muster von Unterdrückung passt. Aber auf dem Capitol Hill erwärmt sich selbst das Herz einer so nüchternen Brandenburgerin wie Merkel. Daheim in Deutschland kennen wir die Kanzlerin nur als oberste Sachbearbeiterin der Republik: fleißig, kontrolliert strebsam.

 B  Ich erzähle Ihnen noch eine Geschichte, Angela Merkel kann nämlich doch Pathos. Sie hat im Jahr 2010 einmal eine Rede zu Afghanistan im Bundestag so eröffnet: Sie hat die Namen von sieben gerade gefallenen deutschen Soldaten verlesen und dann gesagt: »Wir können von den Soldaten nicht Tapferkeit verlangen, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir hier beschließen.« Da war es vollkommen still im Saal, ernsthaft. Trotzdem stimmt, Pathos und Charisma sagen ihr im Grunde nicht viel. Sie haben »Sachbearbeiterin« und die Adjektive fleißig, strebsam etc. eben als Spott gemeint, das ist interessant. Sie glauben, Angela Merkel würde es nicht gerne haben, so beschrieben zu werden, aber sie würde sehr wohl. Auf ein gelöstes Problem ist sie stolzer, scheint mir, als auf eine gute Rede im Bundestag. Sie kann Krise besser als Kunst. Das geht den meisten Deutschen genauso. Überhaupt sind Merkel und die Deutschen einander im Laufe der Zeit immer ähnlicher geworden. »Sie kennen mich«, der eine Satz am Ende des TV-Duells mit Peer Steinbrück im 2013er Wahlkampf, das war Angela Merkel pur. Ihre Erfolgsgarantie.

 A  Dass die Deutschen und Merkel sich ähnlich geworden sind, ist für beide kein Kompliment – aber wahrscheinlich eine zutreffende Beobachtung. Merkel ist eine Opportunistin der Macht. Sie haben gesagt, Merkel und Kohl seien sich ähnlich. Ist das so? Der Historiker Hans-Peter Schwarz hat über Helmut Kohl geschrieben: »Er gehört zu den großen Willensmenschen.« Das trifft sicher auch auf Angela Merkel zu. Man bleibt nicht zufällig so lange Kanzlerin. Aber was ist damit gesagt? Es kommt darauf an, worauf sich der Wille richtet. Bei Kohl war es die Einheit Europas. Bei Merkel ist es das Amt. Mehr nicht. Für welche Überzeugungen ein Politiker steht, zeigt sich in den Momenten, in denen der Einzelne einen Unterschied machen kann. Wenn es auf Gestaltung ankommt, nicht nur auf Verwaltung. Welche Momente in der Ära Merkel waren das? Wann hat sie etwas getan, das ihr wirklich eigen gewesen wäre? Nicht einmal von jenen zwei Wochenenden im September 2015 lässt sich das sagen, als Merkel die Grenze für die Flüchtlinge öffnete. Gerhard Schröder hatte recht, als er sagte, kein Kanzler hätte in dieser Situation eine andere Entscheidung treffen können.

 B  Ja, die Flüchtlingswochen im September 2015. Der Auftritt der »neuen Angela Merkel«, der deutschen Mutter Moral. Aber das war eine Erfindung der Linken, die sich damals irgendwie selbst erklären mussten, warum auch sie Merkel plötzlich gut finden durften. Es gab für Merkel noch andere entscheidende Momente, defining moments, wie es heißt: der Nachmittag im August 2008, als sie die Sparguthaben aller Deutschen staatlich garantiert, einfach so, ohne jede Abdeckung durch den Bundestag – aber in der Not eines möglicherweise bevorstehenden Bankruns. Oder die beiden Sommer 2012 und 2015, als sie zwei Mal die Griechen im Euro hielt. Sie wollte nicht, dass mit ihr als Kanzlerin Deutschland den Euro und Europa aufs Spiel setzt. Das ist eine tief verankerte Überzeugung, mit der sie übrigens immer wieder einmal erpresst wird in der EU. Trotzdem ist mir so eine Betrachtung zu sehr Hollywood, zu sehr High Noon oder der Held, der mit noch drei Sekunden auf dem Zeitzünder das blaue und nicht das rote Kabel durchschneidet und alle rettet. Wenn wir nach den Überzeugungen der Kanzlerin fragen, dann findet sich die Antwort in all den Themen und Phasen, wo sie anhaltend gegen eine Umfragemehrheit regiert hat. Und diese Liste ist lang, anders als viele Kritiker sagen: von Afghanistan-Einsatz, Rente mit 67, Eurorettung, bis Putinkritik, Russlandsanktionen und Flüchtlingspolitik.

 A  In Deutschland wird Außenpolitik oft genug gegen das Volk gemacht. Die Leute wollten weder den NATO-Doppelbeschluss noch den Einsatz in Afghanistan, bekommen haben sie beides. Ich glaube, für fast alle politischen Entscheidungen dieser Kanzlerin gilt die These, die Brecht über Ibsens Theater aufgestellt hat: »Es ist nicht mehr der Mensch, der handelt, sondern das Milieu. Der Mensch reagiert nur.« Natürlich gilt das nicht nur für Merkel. Aber andere Machtpolitiker hatten neben einer gesunden Portion Opportunismus noch Überzeugungen. Strauß, Kohl, Brandt, Schmidt, Schröder, Fischer: Da gab es Projekte, Visionen, Hoffnungen. Sie erstrebten irgendetwas oder sie bekämpften irgendetwas. Merkel bekämpft niemanden, weil man sich damit nur noch mehr Feinde schafft. Und sie will nichts, weil jedes Wollen auch Verzicht bedeutet. Sie selbst haben in Ihrem Merkel-Buch geschrieben: »Der rote Faden von Angela Merkels Regieren ist – das Regieren.«

 B  Wenn Sie einem Politiker vorhalten, dass er (wieder-)gewählt werden will, können Sie...

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