Vorwort
Bücher, die wie dieses nachträglich vom Autor beglaubigt wurden durch einen Akt der Courage, verlangen vom Leser eine ganz besondere Einstellung. Sie werden durch jenen Akt nicht wahrer, sind nicht ein für allemal gefeit gegen Vorbehalte, Einwände, Kritik. Sie weisen diese aber in Grenzen, hinter denen der Kommentar letztlich verstummt und allein die Tat sprechen lässt.
Als am 21. Juli 2017, sechs Jahre nach Erscheinen dieses Buchs, an einem französischen Badestrand der Côte d’Azur bei heraufziehendem Sturm zwei Kinder in Gefahr gerieten, ist Anne Dufourmantelle ihnen zu Hilfe geeilt und kam dabei selbst um. Die beiden Kinder blieben heil. Über die letzten Lebensmomente der Autorin können wir nichts wissen. Ihre Empfindungen bei jenem endgültigen Schritt vom Gedanken zur Tat bleiben uns verborgen. Nachvollziehbar ist aber der lange Weg dorthin, denn wir haben die veröffentlichten Bücher und Schriften sowie die Zeugnisse von Angehörigen, Bekannten und Freunden.
Unermüdlich schritt die Psychoanalytikerin und Philosophin in ihren wechselnden Aktivitäten auf den Querpfaden zwischen Platon, Spinoza, Kierkegaard, Freud, Derrida, zwischen den großen literarischen Figuren Kassandra, Medea, Raskolnikow, Joseph K., zwischen den Erzählungen ihrer Analysepatienten und ihren eigenen Überlegungen dazu das Gelände unserer zeitgenössischen Lebensfragen ab. Was wird aus einer Zivilisation, die hinter der Bereitschaft zum Risiko nur noch Heroismus, hellen Wahnsinn oder ein abstruses Verhalten zu sehen vermag, fragt sie am Anfang des vorliegenden Textes. Anliegen ihrer Arbeit war es stets, das menschliche Tun aus den vorgestanzten Normen zu lösen und in den Horizont einer offeneren, reflektierten, hinterfragbaren Normalität zu stellen.
Sie unternahm dies als Psychoanalytikerin in der Tradition Freuds und Lacans, aber auch als Leiterin philosophischer Seminare in Paris und New York, als Verlagslektorin, Gastpublizistin bei der Zeitung Libération und als Autorin von rund zwanzig philosophischen, psychologischen und bellettristischen Büchern. Das letzte, 2018 postum erschienene Werk, ist der Roman Souviens-toi de ton avenir (Denk zurück an deine Zukunft) über einen mongolischen König und seine Expedition im 14. Jahrhundert über den Pazifik bis zu den Gestaden Ecuadors.
Dass die Öffnung auf dieses breite Spektrum schon in ihrem Elternhaus begonnen hatte, war der 1964 in Paris Geborenen stets bewusst. Ihr Vater war englischer und schweizerischer Herkunft, ihre Mutter, eine Französin, stand als Psychoanalytikerin in der Nachfolge C. G. Jungs. Beide fühlten sich dem Denken Ivan Illichs verbunden. Philosophische Grundsatzdiskussionen waren der Schülerin und Studentin von Haus aus vertraut. Und ihre hohe Erwartung an die Philosophie zeigte sich in der 1994 an der Sorbonne eingereichten Doktorarbeit. Es war keine akademische Studie zu einem geistesgeschichtlichen Thema, sondern eine Untersuchung über die »prophetische Bestimmung« der Philosophie. Die Arbeit erschien vier Jahre später als Buch. Sie handelt von der Art, wie das Subjekt im Spannungsfeld zwischen Determinismus und Freiheit durch ein höheres Wissen den individuellen Lebenshorizont übersteigen kann. Gezeigt wird das anhand zweier mythologischer Figuren: Kassandra, die Künderin eines unabwendbaren Schicksals, und der biblische Jonas, der aus der göttlichen Vorsehung ausbricht und auf seinen Irrwegen den Menschen die Möglichkeit einer anderen Zukunft andeutet.
In jenen frühen Jahren ereignete sich aber auch etwas, was in der Laufbahn der Philosophin sich später mehrmals wiederholen sollte. Aus der Begegnung mit dem Philosophen Jacques Derrida, dessen Seminare sie an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales besuchte, entstand ein Denken im Dialog. »Gastfreundschaft« hieß das Thema, das Derrida in einem seiner Seminare behandelte, ausgehend von der Frage, was genau passiere an jenem seltsamen Ort zwischen »hospitalité« und »hostilité«, Gastfreundschaft und Feindseligkeit, den wir »Grenze« nennen. Anne Dufourmantelle fügte den Ausführungen Derridas zu dieser Frage eigene Überlegungen hinzu und lud ihn ein, seinerseits darauf zu antworten. So entstand 1997 das gemeinsam verfasste Buch De l’hospitalité. Es versucht, deutlich zu machen, dass der Zusammenhang zwischen Öffnung und Abgrenzung gegenüber dem Fremden eine komplexe Frage des immer neuen gegenseitigen Einschätzens ist und nicht so schnell über den Kamm von Offenheit und Abschottung, von Groß- und Kleinmut geschoren werden kann.
Dufourmantelles fragende, tastende, die Problematik mehr an- als umreißende Art des Philosophierens machte sie besonders empfänglich für die Gedankenarbeit zu zweit. Mit ihrem Kollegen Miguel Benasayag zusammen publizierte sie 2001 einen Gesprächsband mit dem Titel Parcours. Im Duo mit dem italienischen Philosophen Antonio Negri legte sie 2002 ein ABC zur Biopolitik vor (De retour: abécédaire biopolitique). Mit der tschechisch-amerikanischen Autorin Avital Ronell veröffentlichte sie vier Jahre später das Buch American Philo, eine Studie über Derrida und die »French Theory«. Austausch, Konfrontation, Vergleich war ein Grundgestus dieses Denkens, das mehr auf Weiterbewegung als auf thesenhafte Endgültigkeit abzielt.
Damit hängt auch zusammen, dass Anne Dufourmantelle schwer in den Rahmen der »French Theory«, der intellektuellen Strömungen im Frankreich des Post-Strukturalismus, einzuordnen ist. Diese Autorin stand mittendrin und zugleich stets leicht daneben. Ihre Nähe zu Derrida machte sie nicht zu einer Schülerin seiner Philosophie des endlosen Zeichendeutens und Spurenlesens. Statt sich mit einem festgelegten Begriffsinstrumentarium gegenüber anderen Theorien zu positionieren – gegenüber Jean-François Lyotard etwa und seiner Ökonomie der Libido, Pierre Bourdieu und seiner politisch engagierten Soziologie, Étienne Balibar und seinem Neomarxismus –, schöpfte sie aus vielen Quellen zugleich. Eher als auf Insiderdebatten zielt ihr Denken auf die Lebensfragen eines breiteren Publikums ab.
Ähnlich verhält es sich auf ihrem anderen wichtigen Tätigkeitsgebiet, der Psychoanalyse. Im Wespennest der rivalisierenden psychoanalytischen Schulen stand ihr der Sinn nicht nach fulminanten Wortgefechten und Theorieschlachten. Sie war zwar ein aktives Mitglied im Kreis des »Cercle Freudien«, eines in Ablösung der »École freudienne de Paris« 1981 entstandenen Vereins, der sich nach dem Tod Jacques Lacans wieder stärker am Urvater Freud orientieren wollte und in Konflikt geriet mit der von Lacan-Schülern gegründeten »École de la cause freudienne«. Auch engagierte sie sich tatkräftig bei der Initiative Stop DSM gegen das starre Klassifizierungssystem für Geistesstörungen, das unter dem Namen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders von Amerika aus sich als maßgebender Standard der Psychiatrie aufzubauen sucht.
Sowohl Kollegen wie Patienten stellten aber praktisch einhellig die große Sensibilität, das tiefe Einfühlungsvermögen und die außerordentliche Sanftheit der Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle in den Vordergrund.
Sanftheit war auch das Thema eines ihrer Bücher. Unter dem Titel Puissance de la douceur veröffentlichte sie 2013 eine Reflexion über jene besondere Kraft, die im menschlichen Umgang mehr durch diskretes Einfühlungsvermögen als durch herrisches Auftreten wirkt. Mit ihrem nicht kalkulierten Schwebezustand zwischen Geben und Nehmen hat die Sanftheit in einigen speziellen Lebensmomenten ihren selbstverständlichen Ort: nach der Geburt gegenüber dem Säugling, vor dem Tod gegenüber der geschwächten Person. Und da sie durch ihr zurückhaltend uneigennütziges Vorgehen ebenso viel ausrichten könne wie die zielstrebige, diplomatisch oder autoritär auftretende Macht, schreibt Dufourmantelle, sei sie dieser in der Praxis ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen.
Das bedeutet freilich nicht, dass ihre Bücher nur in leisen Tönen und sanften Andeutungen zu uns sprechen. Ihre erste wichtige Buchpublikation trug im Jahr 2000 den Titel La sauvagerie maternelle. »Jede Mutter ist wild«, lautet der Eingangssatz: wild entschlossen nämlich, das Neugeborene nach der Geburt nie ganz loszulassen. Kaum sei das Kind nicht mehr Teil von ihr, sondern ein Eigenwesen, ein Stück Fleisch, dessen Haut sich von ihrer Haut abgelöst hat und sich nun eigenständig faltet, sich zwar noch an sie schmiegt, aber eben nicht mehr mit ihr verwachsen ist, setze jene spontane Energie des unbändigen Festhaltenwollens ein, schreibt die Autorin. Diese spontane Verweigerung von Ablösung, Weitergabe, Teilhabe, Vermittlung sei etwas Normales, ursprünglich Vererbtes, das in Extremfällen bis zum Kindsmord oder zum Selbstmord gehen könne: ein dumpfer Rest ungeteilten Beisichseinwollens, der sich gegen alle Teilungs- und Unterscheidungsmechanismen von Vernunft, Sprache, Gesetz oder sozialen Umgangsnormen auflehnt. Medea und Jokaste, die biblischen Figuren Eva und Esther, aber auch Sophie aus William Styrons Buch Sophies Entscheidung, die Mutter aus dem Roman Heiße Küste von Marguerite Duras oder Tolstois Anna Karenina sind Beispiele, mit denen die Autorin Dufourmantelle dieses Phänomen subtil zu erläutern versteht. Anna Karenina habe zwei Kinder gehabt, schreibt sie – allzu oft vergesse man das. Und Tolstois Roman sei »einer der schönsten, der je über die ›mütterliche Wildheit‹ geschrieben wurde«. An dieser Frau zeigt die Autorin, wie durch eine überbordende Liebe in der Vorstellung der Mutter manchmal das Kind...