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Haltungen und Grundannahmen lösungsorientierten Handelns
Frau T., Lehrerin an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt Lernen, erhält zum Schuljahreswechsel eine neue Klasse der Stufe 7.
Gleich von Beginn an bereitet ihr die 14-jährige Mila größte Schwierigkeiten.
In Arbeitsphasen ändert diese ihr Verhalten in kurzen Zeitabständen. Zeitweilig konzentriert sie sich auf die Aufgaben, dann bricht sie Arbeitsprozesse aber wieder ab und läuft hektisch und ziellos durch den Klassenraum, um zu machen, was ihr gerade in den Sinn kommt (Computer anschalten, Dinge in den Müll werfen, essen, trinken etc.), dies, ohne sich an die Klassenregeln zu halten oder Reglementierungen zu akzeptieren.
Am schlimmsten jedoch empfindet Frau T. die provokante und oft bis ins Persönliche hineingehende und damit verletzende Art des Mädchens, die vor allem Frau S., die fast immer mit im Klassenzimmer anwesende Referendarin, aber auch die Mitschüler zu spüren bekommen. Vor allem kleine Missgeschicke oder Verfehlungen werden von Mila umgehend bemerkt und in bloßstellender Weise kommentiert. So schreit sie lauthals durch die Klasse, dass eine Mitschülerin, die aus einem ärmlichen Elternhaus mit noch 10 Geschwistern stammt, in dem Hygieneartikel wie Monats-Binden nicht zur Verfügung stehen, nach „Regel“ stinke und lacht sich dann kaputt.
Mila hält sich darüber hinaus weder in der Klasse noch in den Pausen an Schulordnung oder Klassenregeln. So verlässt sie das Schulgelände während der Pausen oft heimlich, um rauchen zu können. Frau T. hat schon des Öfteren den Rektor um Unterstützung gebeten, doch keine bisher eingeleitete Straf- oder Ordnungsmaßnahme griff bei Mila, geschweige denn führte sie zu einer Besserung oder Reduktion des grenzüberschreitenden Verhaltens.
Frau T. hält Mila darüber hinaus aber für ein fröhliches, hübsches Mädchen, das sehr hilfsbereit ist und schwächere Schüler stets in Schutz nimmt. Seismographisch nimmt sie Stimmungen auf und hat sogar die fehlende Harmonie zwischen Frau T. und ihrer Referendarin bemerkt, die bisher noch nicht einmal den Kollegen oder der Schulleitung aufgefallen war. Auch ist Mila ein Mädchen mit einer eigentlich guten Auffassungsgabe und vielen Interessen.
Trotz alledem ist Frau T., die das Mädchen wirklich gerne mag, der Ansicht, dass Mila kaum beschulbar und auch wirklich nur schwer sechs Stunden täglich auszuhalten sei, zumal sie auch noch 14 andere Schüler in der Klasse zu betreuen hat. Sie möchte sich nun gerne wegen Mila an den Schulpsychologen oder den Beratungslehrer wenden. Wen von beiden sie aufsuchen wird, weiß sie noch nicht. Bevor sie jedoch mit einem von ihnen Kontakt aufnimmt, möchte sie sich auf den Termin vorbereiten und wissen, was eigentlich mit dem Mädchen los ist; schließlich hat sie von der Regelschule, die Mila vorher besuchte, die Mitteilung erhalten, dassdiese schon Schlimmes durchgemacht hat. Um nähere Hintergründe zu erfahren, holt sie sich aus dem Sekretariat die Schülerakte.
Vermutlich würden die meisten von uns auf diese Weise verfahren. Dieses Vorgehen ist üblich, logisch und hat sich im Schulalltag bewährt. Schülerakten werden schließlich nicht zum Selbstzweck angelegt, sondern um gelesen zu werden und neue Lehrer über die sozialen und schulischen Hintergründe des Schülers zu informieren.
Vielleicht erfahren wir auf diese Weise, welche schlimmen Erlebnisse Mila bisher widerfahren sind und können dann nachvollziehen, warum sie sich in der Schule so aufführt.
Die Rektorin der Regelschule, die Mila vorher besucht hatte, erwähnte u.a. eine Scheidung der Eltern, Alkoholsucht des Vaters und familiäre Gewalt. Das wären in der Tat schlimme Gründe, die das Verhalten dieser Jugendlichen erklärbar und verständlicher machen würden.
Unser Interesse an der individuellen Geschichte Milas und ihrem biographischen Hintergrund ist folglich geprägt von der Hoffnung, in ihrer Vergangenheit Ursachen für ihr jetziges Verhalten ausfindig machen zu können.
Dies war lange die traditionell übliche Art des Umgangs mit Problemen.
Im Unterschied dazu steht das lösungsorientierte Vorgehen. Bei diesem ist man an den Ursprüngen von Problemen überhaupt nicht interessiert. Auch die Probleme selber bilden nicht den Fokus des Interesses.
Aber seien wir mal ehrlich: Können Sie sich vorstellen, dass Milas Problemverhalten in einer Beratung nicht weiter thematisiert und auch die Akte ungelesen bleiben wird? Und können Sie sich dann wirklich vorstellen, dass eine Beratung unter solchen Voraussetzungen trotzdem hilfreich sein kann?
In der Tat muss ein derartiges Vorgehen als ungewöhnlich bezeichnet werden und bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts wäre ein solches auch nahezu undenkbar gewesen. Zu diesem Zeitpunkt setzte jedoch ein Wandel im Denken ein, der den Fokus der zu lösenden Probleme weg von diesen selber und ihren Ursachen direkt hin zu den Lösungen verschob.
1.1 Die Entstehung des lösungsorientierten Ansatzes
Das lösungsorientierte Beratungsmodell findet seinen Ursprung im psychotherapeutischen Umfeld. Lange Zeit waren dort psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Vorgehensweisen vorherrschend, welche von der Suche nach Ursachen für die betreffenden psychischen Störungen geprägt waren.
Doch in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts fing im kalifornischen Palo Alto eine Forschergruppe unter der klinischen Leitung des Psychiaters Don Jackson und der theoretischen Führung Gregory Batesons am Mental Research Institute (MRI) an, den mutmaßlich ursächlichen Faktoren in der Vergangenheit kaum noch eine Bedeutung mehr beizumessen.
Begründend für diese Abkehr erklärte Watzlawick (1999, 95): „Das ist die uralte Freudsche Idee, die besagt, dass man Ursachen in der Vergangenheit suchen und aus dem Unbewussten hervorholen muss, um durch Einsicht zu einem quasi magischen Wandel zu kommen. Weder in meinem Privatleben, noch im Leben meiner Patienten, noch in meiner Lehranalyse habe ich jemals ein solches Erlebnis gehabt, dass eine Einsicht einen Wandel erzeugt hätte.“
Vielmehr richteten die Forscher ihren Blick daher auf die revolutionäre Frage, warum Probleme trotz aller Änderungsbemühungen der Betroffenen aufrechterhalten werden. Ihre Antwort darauf war erstaunlich: Ihren Erkenntnissen zufolge sind es die versuchten Problemlösungen, die zur Erhaltung oder gar Verschärfung des Problems beitragen (Fisch et al. 1987, 29). Ein wesentlicher Schwerpunkt ihrer Arbeit konzentrierte sich folglich darauf, selbige zu analysieren und anschließend mittels erprobter Interventionen zu hemmen (Watzlawick 1999, 32f.).
Innerhalb dieses Prozesses erwies sich die Festsetzung konkreter Ziele als hilfreiches Instrumentarium, denn in der praktischen Arbeit des Instituts zeigte sich, dass dadurch positive Rosenthaleffekte1 erzielt werden konnten (Watzlawick et al. 2001, 137).
Nicht auseinandergesetzt hat sich die Palo-Alto Gruppe jedoch mit der Anwendung ihres neuen Problemlösemodells bei jenen Fallkonstellationen, in denen divergierende oder unkonkrete Ziele von den Klienten formuliert wurden (De Shazer 1997a, 78).
Die Koreanerin Insoo Kim Berg sowie ihr späterer Ehemann Steve De Shazer, die sich am MRI kennen gelernt hatten (Wolf 2007), wollten das bestehende Kurztherapiemodell der Palo Alto Gruppe bezüglich dieses Punktes erweitern. Doch aus der angestrebten Erweiterung wurde dann gleich die Entwicklung eines neuen Modells – das der lösungsorientierten Kurztherapie2. 1978 gründeten sie in Milwaukee das „Brief Family Therapy Center“ (BFTC), an dem sie mit Eve Lipchik, Jim Derks, Elam Nunnally, Michele Weiner-Davis, Alex Molnar und Wallace Gingerich forschten und trainingsorientierte Therapien durchführten.
Ihr Modell der lösungsorientierten Kurztherapie wurde auf sehr pragmatische, induktive Weise entwickelt (Steiner/Berg 2005, 31). Angeregt durch die Forschungsergebnisse des MRIs sowie den Arbeiten von Milton H. Erickson und dem Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, begannen die Mitarbeiter am BFTC einfach auszuprobieren, was in der klinischen Praxis funktionierte und behielten diese Elemente bei; nicht funktionierende wurden hingegen verworfen.
Anders als sie es jedoch am MRI gelernt hatten, richtete sich ihre Aufmerksamkeit im therapeutischen Prozess nicht auf das Finden lösungsverhindernder Muster, sondern auf das Funktionieren von Lösungen.
In einem Interview drückte Berg (1999, 210f.) dies einmal so aus: „Wir haben, und die Leute der Palo-Alto-Gruppe würden das bestätigen, ihr Denken fortgesetzt und es einen Schritt weiter gedacht. Wir haben dann sogar die Idee, dass man über das Problem nachdenken muss, aufgegeben. Das einzige, worüber Du etwas wissen musst, ist die Lösung. Es gibt eine Unterbrechung der Verbindung zwischen Problem und Lösung. Das ist nach wie vor eine radikale, eine ziemlich radikale Idee.“
Mit der Umorientierung vom Problem- zum Lösungsdenken erfolgte notwendigerweise auch eine Umorientierung von der Vergangenheit auf die Zukunft. Bedeutung erhielt die Vergangenheit lediglich noch in Bezug auf die Exploration von Vorgehensweisen im Alltag, die einen Unterschied zur Problemsituation darstellten (Ausnahmen).
Anlass für diesen Richtungswechsel war die Überzeugung, Menschen nicht gemäß dem sozialen Konstruktivismus3 vor dem Hintergrund ihrer Familienverhältnisse, Diagnostik, ihrer früher gezeigten Verhaltensweisen und Lebensgeschichten beurteilen zu wollen, da in der Vergangenheit liegende Geschehnisse nicht mehr änderbar sind. Vielmehr lag den Mitarbeitern des BFTCs daran, den...