Am 15. Juli 1897 starb in Triest Alexander Wheelock Thayer, vormals Konsul der Vereinigten Staaten daselbst. Er hatte sein Lebenswerk, die Biographie Beethovens, nicht vollenden können. Seit dem Erscheinen des dritten Bandes (1879), welcher noch das Jahr 1816 umfaßte, war er vielfach leidend gewesen; dadurch fühlte er sich gehindert, die mit größter Sorgfalt vorbereitete, mit ganzer Kraft geförderte Arbeit in gleicher Rüstigkeit fortzuführen. So blieb der bereits begonnene vierte Band, zu welchem in gleicher Weise wie zu den früheren Bänden das Material gesammelt und geordnet war, unvollendet. Ebensowenig kam er dazu, die bereits erschienenen drei Bände, zu welchen manche Zusätze und Berichtigungen vorlagen, einer Überarbeitung zu unterziehen.
Es ist nicht dieses Ortes, über die Bedeutung von Thayers Werk ausführlich zu reden; dieselbe ist offenkundig und stets von allen, welche wissenschaftlich zu denken gewohnt sind, rückhaltlos anerkannt. Thayer hatte sich sein Ziel klar vorgesteckt; er wollte den Menschen Beethoven, seine Entwickelung und seinen Lebensgang, erforschen und schildern, und hat dies mit unermüdlicher Hingabe, mit einem seltenen Eifer der Forschung und mit unerbittlicher Strenge in Aufsuchung der Wahrheit durchgeführt. Zu einer Zeit, in welcher nur noch wenige getreue Aufschlüsse über Beethovens äußeren Lebensgang vorhanden waren, und auch das Vorhandene einer kritischen Sichtung nicht unterzogen war, ist Thayer1 der erste gewesen, welcher der Überlieferung in umfassendster Weise nachgegangen ist und die Erkenntnis des Tatsächlichen vermittelt hat; wer nach ihm über Beethoven geschrieben hat, mußte an ihn anknüpfen; niemand ist darüber im Zweifel, daß hier die Grundlage unserer Kenntnis gegeben ist, und daß, wer sich wirklich belehren will, an ihm nicht vorbeigehen kann.
Das Verhältnis des Herausgebers zu Thayer und seinem Werke darf als bekannt vorausgesetzt werden; die beiden Briefe, welche dem ersten Bande statt einer Vorrede beigegeben waren, und welche auch hier wiederholt werden, erläutern alles Notwendige. Der Herausgabe der früheren Bände ging ein reger Briefwechsel zur Seite, in welchem viele einzelne Punkte zur Sprache kamen; Thayer sah es als selbstverständlich an, daß der Unterzeichnete die Arbeit in gleicher Weise, wie sie begonnen war, zu Ende führen werde. Nach seinem Tode ist nun die Vollendung des Werkes in seinem Sinne und in seiner Weise zu arbeiten kaum noch möglich, jedenfalls mit großen Schwierigkeiten verknüpft. Und doch muß sie in Angriff genommen werden; das Material und die Vorarbeiten lagen vor, sie durften der musikalischen Welt nicht vorenthalten bleiben. Thayer hatte noch in seiner Krankheit den Wunsch geäußert, daß ich diese Arbeit unternehmen möchte, und so gelangte denn die Aufforderung der Erben an mich, das Werk neu zu bearbeiten und zu Ende zu führen. Auch wenn es nicht einen besonderen Reiz für mich gehabt hätte, nach langer Unterbrechung zu diesen Studien über Beethoven zurückzukehren, würde mich die Verehrung für den edlen und treuen Mann, der mir Freundschaft und Vertrauen zugewendet hatte, bewogen haben, die Arbeit zu übernehmen, trotz der Schwierigkeiten, welcher derselben eigenes vorgerücktes Alter und die Pflichten eines umfangreichen Amtes bereiten konnten.
Auf Grund meiner Zusage ist mir von den Verwandten und Erben Thayers das in seinem Nachlasse befindliche Material sowohl für die Abfassung des vierten Bandes wie für die Durchsicht und Ergänzung der drei ersten zur Verfügung gestellt worden. Ich habe dafür namentlich dem Neffen Thayers, Herrn Jabez Fox in Boston, durch welchen die Anfrage an mich gerichtet und die Übermittelung des Materials besorgt wurde, für das mir gezeigte Vertrauen meinen Dank zu sagen.
Das Material an dieser Stelle zu beschreiben, würde viel zu weitschichtig sein; man wird an den betreffenden Stellen die erforderliche Belehrung nicht vermissen. Da sind zunächst die Handexemplare der drei erschienenen Bände und des chronologischen Verzeichnisses mit zahlreichen Einlagen und Zusätzen des Verfassers; dann in zwei Bänden umfassende Aufzeichnungen aus Unterhaltungen mit solchen, die sich der Beethovenschen Zeit erinnerten, aus älteren Anzeigen, Zeitungen und Zeitschriften und vieles andere; Tagebuchaufzeichnungen und autobiographische Mitteilungen von Zeitgenossen Beethovens; Auszüge aus den Konversationsbüchern; eine Menge Abschriften von Briefen und amtlichen Aktenstücken, teils nach den Jahren, teils nach Personen und Gegenständen geordnet; eigene Entwürfe und Skizzen, aus denen der weitere Plan, nach welchem er arbeiten wollte, zu erkennen ist. Man sieht, mit welcher Umsicht und Energie er die Nachforschung bis in die entlegensten Winkel verfolgte, in wie weitreichende Verbindungen er eingetreten war, wie er von den verschiedensten Seiten mit Bereitwilligkeit und Vertrauen unterstützt wurde. Zu allem diesen hatte er die Fäden in der Hand; er hat es auch nicht unterlassen, an einzelnen Stellen der Entwürfe die notwendigen Hinweisungen zu geben; trotzdem ist es dem Bearbeiter nicht ganz leicht, sich überall mit Sicherheit zurechtzufinden.
Daß ich daneben auch noch andere Quellen, die mir zugänglich wurden, benutzt habe, um die Darstellung vollständig zu machen, braucht wohl nicht besonders erwähnt zu werden. Ich habe sowohl die Erscheinungen der neueren Beethoven-Literatur, welche Thayer nicht mehr hatte einsehen können, durchsucht, als auch noch manche bisher unbekannten Briefe und Nachweisungen beibringen können; auch Skizzen und Konversationsbücher habe ich eingesehen und hoffe das im Fortgange der Arbeit noch weiter tun zu können. Auch darüber wird an den bezüglichen Stellen Bericht gegeben.
Die Aufgabe war also eine doppelte: einmal, den so lange erwarteten vierten Band2 nach Thayers Entwürfen und Materialien und etwaigen eigenen Erkundungen herzustellen, und dann die Revision der drei ersten Bände zu besorgen. Beides wurde sogleich nach dem Empfange der Materialien in Angriff genommen.
Wenn ich jetzt zunächst den ersten Band in revidierter Gestalt vorlege, so darf ich anführen, daß diese schon von Thayer selbst geplant war. Nicht nur enthalten sein Handexemplar und seine Papiere vielfache Zusätze und Berichtigungen, sondern es fand sich in seinem Nachlasse eine vollständige neue Niederschrift des ersten Kapitels, welche denn auch hier benutzt ist. Dann aber sind mir aus Bonn und über Bonn und Beethovens Beziehungen daselbst noch manche weitere Mitteilungen zuteil geworden, die zu verwerten waren; außerdem hatte ich Gelegenheit, die Kirchenbücher von Bonn und Ehrenbreitstein nochmals zu durchsuchen, habe auch meine zahlreichen Notizen aus dem Düsseldorfer Archiv immer wieder zu Rate gezogen und auch neuere, auf jene frühere Zeit und Beethovens Familie bezügliche literarische Erscheinungen zu prüfen und zu verwerten mich bestrebt. Ich nenne hier z.B. die verschiedenen Aufsätze von W. Hesse, und die Zeitschrift "Bonner Archiv" (jetzt "Rheinische Geschichtsblätter"), aus welchen noch manche kleinere Notiz zu gewinnen war. Insbesondere habe ich mich jetzt berechtigt geglaubt, die zweifellosen Ergebnisse aus den Fischerschen Mitteilungen, welche in der ersten Auflage nur im Anhange gegeben werden konnten, in den Text zu verweben; dieselben werfen auf Beethovens Leben im Elternhause und auf seinen Unterricht ein erwünschtes Licht. Allerdings mußten diese Mitteilungen mit den entsprechenden Kürzungen auch im Anhange wieder gebracht werden, da über die Natur dieser Quelle auch der Leser unterrichtet sein mußte. Zur Erläuterung gerade dieser Mitteilungen wurden mir noch manche Aufklärungen zuteil.
Was ich auf Grund weiterer Quellen geändert und hinzugefügt habe, wird man meist aus den Anmerkungen erkennen. Aber auch ohne solche ist manches über Bonner Musiker, über Beethovens Familie und Kindheit usw. beigefügt, und es sind manche kleine Irrtümer stillschweigend berichtigt; wer es zu erkennen wünscht, wird es durch Vergleichung mit der ersten Auflage leicht finden. Es entsprach ganz dem Sinne Thayers, dem es nur um Feststellung der Wahrheit zu tun war, wenn das, was zweifellos richtig war, auch ohne viel Umschweife und Anmerkungen in den Text gesetzt wurde; und ich legte auch bei solchen Zusätzen und Änderungen, die unabweislich waren, keinen besonderen Wert darauf, mein Eigentum ängstlich zu wahren; darüber habe ich mich in dem ersten Briefe bereits ausgesprochen. Ich habe dabei nur den Gesichtspunkt gelten lassen, daß Thayer, wenn er auf Grund neuer Quellen oder zwingender Erwägungen die Notwendigkeit einer Änderung erkannt hätte, dieselbe selbst würde haben eintreten lassen. Nur wenn ich in einer wichtigeren Frage von seiner Ansicht glaubte abweichen zu müssen, habe ich meinen Gründen in der Anmerkung Ausdruck gegeben, mich aber nicht berechtigt geglaubt, den Text zu ändern; auch spätere Leser mußten Thayers Ansicht kennen.
Man hat auch auf seiten derer, welche die grundlegende Wichtigkeit von Thayers großer Forschung erkannten, mitunter bedauert, daß die wörtliche Einfügung umfassenden Materials aus den Quellen (Briefe, Urkunden, Verzeichnisse) die Lektüre des Buches erschwere. Vieles der Art hatte ich schon in der ersten Auflage auszugsweise gegeben, zusammengezogen oder in den Anhang gesetzt, überall mit Thayers Zustimmung. Ich muß aber hier folgendes sagen. Thayers Bestreben war auf rückhaltlose Ermittlung der Wahrheit gegenüber den vielen Fabeln, welche ehemals im Umlaufe waren,...